PEKING TIANANMEN PLATZ  (FRAGMENT.1989)

 

Erstes Kapitel

                                                 15.April, morgens

    Der Generalsekretär saß an seinem mit weißen Leder gepolsterten Schreibtisch im kleinen Verwaltungsgebäude des Zentralkomitees und studierte die Akten, die ihm sein Assistent vorgelegt hatte. Der ranghöchste Entscheidungsträger der Partei war mittelgroß und hatte eine sportlich durchtrainierte Figur, die ihm ein energiegeladenes Aussehen gab. Er trug einen dunkelblauen Anzug westlichen Stils, den ein chinesischer Schneider genäht hatte, dazu ein weißes Hemd und einen blau-grün gestreiften Binder. Sein kräftiges, ovales Gesicht wurde von zwei braunschwarzen Augen beherrscht, denen auch die rundliche graublaue Hornbrille nichts von der Konzentriertheit des Blicks nahm. Nur sein zurükweichender Haaransatz und die grauen Schläfen verrieten, daß er bereits im siebzigsten Lebensjahr stand. Für einen chinesischen Politiker war das ein gutes Alter. Sein großer Förderer, der Patriarch, war 74 gewesen, als er vor elf Jahren im Zentralkomitee die Führung übernommen und die Wirtschaftsreform eingeleitet hatte. Jetzt waren die jüngeren, die heute Siebzigjährigen, an der Reihe, dieses Werk fortzuführen. Die Wirtschaftsreform hatte reiche Frucht getragen. Aber ihr Erfolg mußte noch abgestützt und stabilisiert werden durch eine grundlegende politische Reform. Darin sah der Generalsekretär seine Hauptaufgabe in den kommenden Jahren, ein Ziel, das er mit leidenschaftlicher Kraft anstrebte. Er hatte das Glück, in einem historischen Augenblick Parteichef geworden zu sein, und er war fest entschlossen, seine Chance zu nutzen.

  Bei den Papieren, die er durchblätterte, handelte es sich um Eingaben an das Zentralkomitee, in denen sich staatsbürgerlich engagierte Intellektuelle für die Stärkung des Rechtsstaates in China einsetzten. Ihren Briefen beigefügt waren Stellungnahmen des ZK-Sekretariats, des Sicherheitsministeriums und des Pekinger Stadtparteikomitees. An diesen Kommentaren interessierte den Generaldirektor nicht der Inhalt, sondern die unterschiedliche Betrachtungsweise der Bearbeiter. Sie gab Aufschluß über Widerstände und Gegenströmungen im Parteiapparat, dem er vorstand.

  Am 13. Februar hatten dreiunddreißig populäre Autoren einen offenen Brief an das Zentralkomitee gerichtet, in dem sie eine Generalamnestie für alle politischen Gefangenen forderten. Die eigentliche Brisanz ihres Schreibens lag darin, daß sie sich über die offizielle Sprachregelung hinwegsetzten, derzufolge es in ihrem Lande keine politischen Häftlinge gab, sondern bloß rechtmäßig verurteilte Kriminelle. Der Generalsekretär kannte die meisten Unterzeichner persönlich und hatte Bücher von ihnen gelesen oder Sendungen von ihnen im Fernsehen gesehen. Er mußte dafür sorgen, daß ihnen aus der Unbotmäßigkeit, von politischen Gefangenen zu sprechen, keine Schwierigkeiten erwuchsen.

  Eine zweite, wesentlich umfangreichere Petition war vierzehn Tage später beim Zentralkomitee eingegangen, unterzeichnet von zweiundvierzig namhaften Wissenschaftlern. Die Professoren waren in der Wahl ihrer Worte viel umsichtiger als die Schriftsteller, gingen aber in ihren Forderungen wesentlich weiter. Sie vermieden den verpönten Ausdruck "politische Gefangene", forderten aber das Zentralkomitee auf, für die Freilassung aller Jugendlicher zu sorgen, die wegen ideologischer Probleme zu Gefängnis oder Umerziehung durch Arbeit verurteilt worden waren. Darüber hinaus baten sie das Zentralkomitee, die Einhaltung der Verfassung zu garantieren, die den Bürgern das Recht auf freie Meinung und besonders die Presse- und Publikationsfreiheit einräumte. Das Volk, postulierten die Wissenschaftler, müsse frei sagen können, was es wolle, und die Kritik an führenden Persönlichkeiten dürfe keine Repressalien nach sich ziehen.

  Zu einer Reaktion des Zentralkomitees auf diese Eingaben hatte es noch nicht kommen können, da das ZK nur ein- bis zweimal im Jahr zusammentrat, und es war noch gar nicht geklärt, ob die Petitionen überhaupt auf die Tagesordnung gesetzt werden konnten, weil sich einige konservative Genossen beharrlich dagegen wehrten. Vor acht Tagen erst hatte auf der letzten Politbürositzung ein Wortwechsel zwischen Gegnern und Befürwortern der politischen Strukturreform einen so heftigen Verlauf genommen, daß der frühere Generalsekretär der Partei einen Herzinfarkt erlitt und ins Krankenhaus gebracht werden mußte.

  Der Generalsekretär schob die Papiere beiseite. Wie eine aufdringliche Fliege umkreiste ihn seit einer Woche der Gedanke, daß er diesen Zwischenfall hätte verhindern können, wenn er die Sitzung etwas straffer geleitet hätte. War er schuld an der Erkrankung seines Freundes und Mitstreiters? Er nahm eine aufrechte Haltung ein und versuchte die Zweifel zu verscheuchen. Der Kranke war so zart besaitet. Er wurde allgemein "Der letzte Vorsitzende" genannt, weil er der letzte Parteichef gewesen war, der noch den Titel Vorsitzender geführt hatte. Doch nach dem Machtmißbrauch, den Mao Tsetung mit diesem Amt getrieben hatte, brauchte das Land keinen Vorsitzenden mehr, und der Letzte Vorsitzende hatte der Umänderung des Titels in "Generalsekretär" aus vollem Herzen zugestimmt. Von 1981 bis 1987 hatte er die Partei geleitet. Dann wurde er auf einer Sondersitzung des Politbüros unter der Leitung des Patriarchen zum Rücktritt gezwungen, weil er nicht energisch genug gegen demonstrierende Studenten vorgegangen war. Das war im Januar 1987 gewesen. Längst hatte sich seine Entlassung als Mißgriff erwiesen. Als Fehler. Als Unglück für die Partei. Eine menschliche und eine politische Tragödie.

  Die Akte des Sicherheitsministeriums, die der Generalsekretär als nächstes in die Hand nahm, zeigte ihm, wieviel Staub die Eingaben der Schriftsteller und Wissenschaftler aufgewirbelt hatten. Über jeden einzelnen Unterzeichner hatte das Ministerium ein Dossier angelegt, ihn rund um die Uhr durch vier Beamte überwachen lassen, alle seine Telefongespräche abgehört und transkribiert, sowie seinen ganzen Schriftverkehr fotokopiert. Wieso eigentlich? Der Generalsekretär machte sich eine Notiz. Er würde mit dem Sicherheitsbeauftragten darüber sprechen müssen. Konkrete Anhaltspunkte auf illegale Aktivitäten hatte das Ministerium nur in einem Fall gewonnen. Es handelte sich dabei um einen unbekannten Schriftsteller, der vor kurzem aus den Vereinigten Staaten in die Heimat zurückgekehrt war und sehr viel Geld für die Bewirtung von Kollegen ausgab. Woher er diese Mittel hatte, war unklar.

  Der Bericht des Stadtparteikomitees widmete den sozialen Kontakten dieses Autors ebenfalls mehrere Seiten und knüpfte daran den Vorschlag, den Mann in Untersuchungshaft zu nehmen oder ihn zwangsweise in die Vereinigten Staaten zurückzuschicken.

  "Nein!" schrieb der Generalsekretär an den Rand der Seite und unterstrich das Wort zweimal. Er konnte der Schilderung nichts entnehmen, was auf eine Gesetzwidrigkeit hinwies. Manchen Genossen fiel es offenbar schwer, sich daran zu gewöhnen, daß ihr Land sich auf dem Wege zum Rechtsstaat befand. Er blätterte weiter im Bericht des Stadtparteikomitees und stieß auf eine Information, die ihm noch nicht bekannt war. An der Peking-Universität hatte sich eine Arbeitsgruppe aus Studenten und jungen Wissenschaftlern gebildet, die sich für das Verständnis der Demokratie einsetzte – was immer das sein mochte - und bereits dreizehn Mal ohne amtliche Genehmigung im Hörsaal 430 oder auf der Wiese vor dem Denkmal des spanischen Dichters Cervantes getagt hatte. Diese Arbeitsgruppe nannte sich "demokratischer Salon" und beantragte in einem Schriftsatz vom 3.April die offizielle Registrierung als eine an der Universität zugelassene Organisation. Die Hochschul-Verwaltung sollte nach der Vorstellung der Antragsteller der Arbeitsgruppe Räumlichkeiten für ihre Veranstaltungen überlassen, ohne Einfluß auf die Auswahl der Referenten zu nehmen.

  Dieser Vorschlag widersprach allen Prinzipien der zentralen Organisation und wurde daher vom Parteikomitee der Universität abgelehnt. Über den Mitgliederkreis der so heftig an die Öffentlichkeit drängenden Arbeitsgruppe gab es noch keine klaren Erkenntnisse. Verläßliche Ermittlungen ließen sich im beengten Rahmen der Universitätswohnheime, wo praktisch alle Studenten eines Jahrgangs wie Lack und Leim zusammenhielten, nur unter großen Schwierigkeiten durchführen. Der Generalsekretär ließ die Akte fallen. Demokratie, dachte er, scheint für das Parteikomitee der Universität etwas zu sein, was von oben verordnet werden muß. Und das an einer Elite-Hochschule. In seinem Kopf breitete sich ein Gefühl der Vergeblichkeit aus. Er hob den Blick und zwang sich, die Aussicht vor dem Fenster zu registrieren. Der alte Kaiserpark Zhongnanhai (wörtlich Mittel-Süd-See), in dem ihre Dienst- und Wohngebäude lagen, gehörte zum Schönsten, was Peking zu bieten hatte: Silbern schimmerte das Wasser eines künstlichen Sees, gesäumt von den schwarzen Tuschekraxeln der noch blattlosen Laubbäume am Ufer. Ganz in der Nähe die weißen und roten Explosionen der ersten blühenden Kirschbäume, und dahinter die goldgelb schimmernden Dächer des Kaiserpalastes. Der Vers eines Dichters der Tang-Dynastie ging ihm durch den Kopf: "Das Reich ist zerbrochen, der Frühling kehrt wieder."

  Er spürte einen Luftzug hinter sich und drehte sich um. Die Tür war aufgegangen, ein Besucher kam geräuschlos auf ihn zu. Es war der Letzte Vorsitzende, der sich aus dem Krankenhaus davongestohlen hatte. Er war barfuß und hatte verschwitztes Haar. Sein magerer Körper stak in einem zerknitterten Schlafanzug, über den er einen schwarz-weiß gemusterten japanischen Kimono geworfen hatte. Der Generalsekretär sprang auf, um ihm seinen Stuhl anzubieten, aber der Letzte Vorsitzende machte eine abwehrende Geste:

  "Ich habe keine Zeit. Du sollst wissen, was ich denke. Es läßt mir keine Ruhe, daß ich im Januar vor zwei Jahren vom Amt zurückgetreten bin, freiwillig zurückgetreten, und auch noch Selbstkritik geübt habe. Ich dachte damals, ich bin es der Einheit der Partei schuldig, aber das war ein Irrtum, ein Selbstbetrug. Ich hätte nicht nachgeben dürfen. Ich war im Recht. Ich hätte kämpfen müssen, es darauf ankommen lassen, daß sie mich verhaften, wenn sie es gewagt hätten, das wäre ich unserer Aufgabe schuldig gewesen, aber ich habe versagt. Ich war nicht gut genug für dieses Amt. Du mußt es besser machen. Versprich mir, daß du kämpfen wirst, wenn es nötig wird. Dann bin ich beruhigt."

  Der Generalsekretär ging auf den Besucher zu, um ihn in seine Arme zu schließen, aber der Letzte Vorsitzende taumelte rückwärts aus dem Raum hinaus. Die Tür fiel ins Schloß.

  Als der Generalsekretär die Tür wieder aufgerissen hatte, war der lange Flur menschenleer. Er stürzte ins Nebenzimmer und rief:

  "War er hier? Habt ihr ihn gesehen?"

  Erstaunte Gesichter.

  Er wollte es im Zimmer links versuchen, aber im Augenblick, als er die Klinke niederdrückte, ergriff ihn eine abgrundtiefe Mutlosigkeit. Sein rechter Arm fiel schlaff herunter. Er drehte sich um und kehrte in sein Arbeitszimmer zurück. Er trat ans Fenster und preßte die Stirn gegen die kalte Glasscheibe. Seine Augen sahen nicht, was draußen war. Sie füllten sich mit Tränen. Obwohl er die Stimme des Besuchers noch im Ohr hatte, war er sich vollkommen sicher, daß etwas Unwiderrufliches passiert war. Eine Riesenfaust umklammerte seinen Magen und ließ ihn vor Schmerz hin und her schwanken. Von Verlustangst überwältigt, fiel der Generalsekretär auf seinen Stuhl.

  Er drückte auf den Knopf der Sprechanlage auf seinem Schreibtisch.

  "Ich brauche einen Wagen. Sofort. Ins Erste Krankenhaus."

  "Wir haben hier den Leiter der Parteizelle der Klinik in der Leitung. Ich werde nicht klug daraus, was er will."

  "In Ordnung. Stell ihn durch. Und denk an den Wagen."

  "Genosse Generalsekretär," meldete sich der Parteizellenleiter, der zugleich Chefarzt war, "es ist außerordentlich bedauerlich, daß ich..."

  "Ich will nur eines wissen: Wo ist der Letzte Vorsitzende?"

  "Verzeihung, ich verstehe die Frage nicht."

  "Ist er bei Ihnen, ja oder nein?"

  "Wenn Sie mich so fragen: Ja, er liegt hier. Ich war die ganze Zeit bei ihm."

  "Danke. Ich komme rüber. Ich will ihn sehen."

  "Genosse Generalsekretär..." die Stimme in der Muschel stotterte immer noch, als er den Hörer in die Mulde zurücklegte.

  Der schwarzlackierte Mercedes mit dem kreisenden Rotlicht fuhr so schnell an, daß der Generalsekretär tief in die Polster des Rücksitzes gepreßt wurde. Es war ihm recht. Er hob den dunkelgrauen Vorhang des linken Seitenfensters an und blickte hinaus. Die Morgensonne hatte die Wolken zerteilt und spiegelte sich tausendfach in den Wellen des künstlichen Sees. Es gab keinen Grund dafür, aber die Verse aus dem Neunten Jahrhundert gingen ihm nicht aus dem Kopf: "Das Reich zerbricht, der Frühling kehrt wieder."

  Es roch nach Desinfektionsmitteln in der Eingangshalle der Klinik. Der Fußboden aus Kunststein war vor kurzem feucht aufgewischt worden, aber das Wasser hatte den jahrealten Schmutzbelag nicht ernstlich beeinträchtigen können. Der Chefarzt, der eine weiße Haube trug, die ihn wie einen Koch aussehen ließ, hatte sich inzwischen eine Ansprache zurechtgelegt. Während er neben dem Generalsekretär einher schritt, erläuterte er, daß sich der Gesundheitszustand des Letzten Vorsitzenden tatsächlich so weit stabilisiert hatte, daß kein großer Anlaß zu Befürchtungen mehr gegeben war. Aber in der vergangenen Nacht war ein zweiter Herzinfarkt dazugekommen. Das kommt manchmal vor. Nicht gerade häufig, aber es ist auch nicht ungewöhnlich. Bei einem Herzinfarkt stirbt ein Teil des Muskelgewebes des Herzens ab. Bei diesem zweiten Infarkt in der vergangenen Nacht war ein so großer Teil des noch arbeitsfähigen Herzmuskels ausgefallen, daß das Herz nicht weiter schlagen konnte. Alle ärztliche Bemühung hatte daran nichts ändern können.

  Sie hatten die Tür des Krankenzimmers erreicht. Der Raum war voll von weißgekleideten Medizinern, die mit versteinerten Gesichtern herumstanden, als hätte man sie gerade eines Kunstfehlers überführt.

  Der letzte Vorsitzende lag auf dem Rücken, das schüttere Haar zerzaust, die Augen weit geöffnet. Als der Generalsekretär sich über den Freund beugte, bemerkte er, daß seinen Augen die Güte fehlte, die immer in ihnen gewohnt hatte. Dies war nicht mehr der Mensch, den er gekannt und eben noch in seinem Arbeitszimmer erblickt hatte. Er zog sich einen Stuhl heran, über dessen Lehne ein schwarz-weiß gemusterter Kimono hing, und griff nach der Hand des Toten. Sie fühlte sich klamm an. Die Umstehenden hatten auf die Ankunft des Generalsekretärs nicht reagiert. Es nützte nichts, daß er sich zweimal räusperte. Schließlich sagte er mit lauter Stimme:

  "Meine Freunde, ich danke Ihnen für alles, was Sie getan haben. Ich weiß, Sie haben Ihr Bestes gegeben. Und jetzt lassen Sie mich bitte mit ihm allein."

  Mit spürbarem Widerwillen zogen sich die Anwesenden betont langsam aus dem Raum zurück. Die Wut stieg dem Generalsekretär in die Schläfen. Hatte sein Befehl keine Geltung mehr? Er war versucht, eine scharfe Bemerkung zu machen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt, und er begriff auf einmal, daß das, was die Anwesenden bewegte, tiefe Trauer um den Tod dieses Menschen war, ein Gefühl, das er mit ihnen teilte. Für sie war sein Weggang ein genauso großes Unglück, wie für ihn, der Verlust einer wunderschönen Hoffnung. Er schämte sich plötzlich seiner Ungeduld und hätte am liebsten jedem der Anwesenden teilnahmsvoll die Hand gedrückt, aber da war er bereits allein. Er blickte sich um, und ihn erschütterte die Schäbigkeit des kahlen Raums. Weißgetünchte Wände. Ein altmodisches Waschbecken in einer Nische. Medizinische Geräte auf rostfleckigen Rolltischen. Warum waren sie nicht in der Lage, einem ihrer größten Führer in seinen letzten Stunden eine harmonischere, erfreulichere Umgebung zu bieten?

  Aber der Sterbende hatte wohl kaum auf diese Äußerlichkeiten geachtet. Seine letzten Gedanken waren um die Zukunft des Landes gekreist. Der Generalsekretär glaubte nicht an Geister. Aber er hatte den größten Respekt vor der Kraft des Willens und der Macht der Gedanken. Er beugte sich über den toten Freund und flüsterte: "Ich verspreche es dir. Ich werde stark sein. Laß du die Sorgen los und nimm in Ruhe deinen Frieden an."

  Das Schweigen, das sich anschloß, war so tief, als hätte eine unsichtbare Hand die Zeit angehalten. Das einzige Geräusch, das in die Stille hineinstieß, war das ruhige Atmen des Generalsekretärs und das gelegentliche Tropfen eines undichten Wasserhahns.

 

Zweites Kapitel

                                              15.April, vormittags

    Auf dem offenen Gelände des Pekinger Flughafens, nur wenige Meter von der Nordostecke des Flughafengebäudes entfernt, stand ein silberhaariger Mann in einem streng geschnittenen grauen Kaderanzug und beobachtete das Heranrollen der Frühmaschine aus Hongkong. Seine rechte Hand umklammerte den Griff eines Spazierstocks, mit der Hüfte lehnte er sich gegen die Karosserie seines riesigen Dienstwagens vom Typ Rote Fahne. Unter den höchsten Pekinger Partei- und Staatsführern, war er, der Vizepräsident der Volksrepublik, der einzige, der noch darauf bestand, ein im Land selbst hergestelltes Repräsentationsfahrzeug zu benutzen. Mit ihren Massen von blank poliertem Chrom und den eckigen Blechformen machte die Rote Fahne viel mehr von sich her als die von den meisten Genossen bevorzugten rollenden Badewannen aus Deutschland, die zwar kugelsicher waren, aber zur Hälfte aus Plastik bestanden. Der Vizepräsident war ein entschiedener Gegner der immer weiter um sich greifenden Verwestlichung. Chinesische Politiker sollten sich zu einheimische Autos bekennen.

  Je näher die hochbeinige Boeing 747 an das sternförmige Terminal herankam, desto langsamer wurde sie. Schließlich blieb sie ganz stehen. Wie ein riesiger Rüssel schob sich die teleskopförmige Fußgängerbrücke des Terminals an die Türöffnung der Maschine heran, machte Kontakt und begann die Passagiere einzusaugen. Der Vizepräsident stellte sich vor, wie der Fluggast, auf den er wartete, den leicht schwankenden Gang entlangging, festen Boden betrat und sich von der Menge der Menschen mittreiben ließ zu den Rollbändern, die in Richtung Zoll und Paßkontrolle glitten. Er würde aber nicht auf das Rollband treten, sondern kurz davor eine unbeschriftete Tür rechts in der Wand öffnen, die in ein steiles Treppenhaus führte. Der Vizepräsident klopfte ungeduldig mit dem Stock auf den Betonboden.

  Ein Uniformierter trat zu ebener Erde aus dem Flughafengebäude, gefolgt von einem Zivilisten in einem braunen Popelinemantel. Der Beamte salutierte, der Zivilist, der in der rechten Hand eine Aktentasche aus Nappaleder, in der linken einen roten Bordcase trug, eilte auf die wartende Staatskarosse zu. Er hatte den gleichen straffen Wuchs und die gleiche störrische Haartolle wie der Vizepräsident, nur war sein Haar noch dunkel. Vater und Sohn umarmten einander und küßten sich nach Sowjetmanier auf beide Wangen. Der Chauffeur, der lautlos hinzugetreten war, nahm dem Sohn das Bordcase aus der Hand und öffnete die hinteren Wagentüren für seine Gäste. Als sich der Wagen in Bewegung setzte, drückte der Vizepräsident auf den Knopf, der die Trennscheibe zum Fahrerabteil hoch gleiten ließ. So konnten sie ungestört miteinander reden. Bis zur Ankunft daheim hatten sie fast eine Stunde Zeit. Sie passierten das bewachte Flughafentor und reihten sich in die Autoschlange auf der nach Süden führenden Landstraße ein.

  Der Sohn zog ein kleines Plastiketui aus der Jacke und überreichte es dem Vizepräsidenten.

  "Ein Geschenk für dich. Eigentlich hätte es schon letztes Jahr zu deinem achtzigsten Geburtstag fertig werden sollen. Aber mein Goldschmied in Hongkong hatte Mühe, es ganz originalgetreu nach der Vorlage zu fertigen, die sich hier im Historischen Museum befindet."

  Erst nach längerem Befingern sprang der Deckel auf. In einer Vertiefung aus schwarzem Samt lag ein zum Sprung ansetzender Tiger aus Gold. Trotz der Kleinheit der Skulptur war es ihrem Schöpfer gelungen, den Ausdruck wilder Kraft in das Metall zu bannen. Behutsam hob der Vizepräsident die etwa acht Zentimeter lange Skulptur in die Höhe. Dabei fiel der goldene Leib in zwei Hälften auseinander. Er war der Länge nach geteilt, so daß der Vizepräsident jetzt zwei Halbreliefs in der Hand hatte.

  "Eine gelungene Arbeit. Schade, daß der Tiger nicht aus einem Stück besteht."

  "Wir können ihn zusammenlöten. Kein Problem. Erkennst du die Figur wieder?"

  Die Vizepräsident betrachtete aufmerksam die beiden Hälften. Die Streifenzeichnung des Tigerfells hatte der Künstler nicht nachgebildet, aber über beide Flanken des Tiers lief eine Inschrift aus geschwärzten Schriftzeichen in altmodischer Schreibweise, die der Vizepräsident aber nicht entziffern konnte.

  "Ich habe meine Leselupe nicht dabei. Ist es ein buddhistisches Symbol?"

  "Nein, ein militärisches," erwiderte der Sohn stolz, denn ihre Familie war eine Soldatenfamilie. Der Vater hatte es durch seinen Mut in der Revolutionsarmee bis zum General gebracht. Der Sohn, der seine Karriere mitten im Frieden machte, war im Rang eines  Oberstleutnants vom Dienst freigestellt worden, weil er sich ganz seinem Spezialgebiet widmen wollte, der Beschäftigung mit modernen Waffensystemen. Er war einer der besten Kenner dieser Materie.

  "Dieser kleine Tiger ist die Nachbildung eines etwa zweitausend Jahre alten Legitimations-Emblems aus der Han-Zeit.

  "Was ist das?" fragte der Vizeprsident, der das militärhistorische Fachinteresse seines Sohnes nicht teilte.

  "Es dient der Beglaubigung von Befehlen. Die linke Hälfte befand sich immer in der Kommandantur einer Garnison. Die rechte Hälfte wurde im Kaiserpalast aufbewahrt. Wenn der Kaiser seinen Truppen einen wichtigen Befehl erteilte, gab er dem Überbringer des Befehls die rechte Hälfte mit. In der Garnison wurden die beiden Teile aneinandergelegt. Wenn sie zusammenpaßten, mußte der Befehl ausgeführt werden. Zum Beispiel ein Feldzug gegen die Barbaren."

  "Ich verstehe," nickte der Vizepräsident. "In diesem kleinen Stück Gold steckt die ganze Macht des Staates. Kriegserklärungen, Enthauptungen, Beförderungen. Der Tiger hier machte es möglich."

  "Er überträgt den Willen des Himmelssohnes," verbesserte der Jüngere nachsichtig. Warum hatte er, als er dieses Geschenk in Auftrag gab, nicht daran gedacht, daß der alte Herr lieber Befehle erteilte als ausführte?

  Der Vizepräsident legte die linke Hälfte des Tigers zurück auf den schwarzen Samt und schloß das Etui. Die andere, die kaiserliche Hälfte behielt er in der rechten Hand. Der gewölbte Leib des Tieres fühlte sich gut an. Ein Gefühl der Stärke und des Selbstvertrauens stieg in ihm auf.

  Der Sohn nahm die dünne Aktenmappe aus schwarzem Nappaleder auf den Schoß und spielte mit den Fingern am Zahlenschloß herum.

  "Möchtest du jetzt die Geschäftsergebnisse des ersten Quartals sehen?" fragte er höflich.

  Der Alte brummte zustimmend. Er geruhte, sich informieren zu lassen. Sein Sohn öffnete die Mappe und zog einen Stoß Papiere heraus. Mit monotoner Stimme las er vom Blatt:

  "Maschinengewehre und Munition nach Burma. Drei Millionen. Gepanzerte Fahrzeuge für den Irak. Vierundsechzig Millionen. Boden-Luft-Raketen vom Typ Seidenraupe für den Iran. Vierundzwanzig Millionen. Mittelstreckenraketen für Saudi-Arabien..."

  "Moment," unterbrach ihn sein Vater. "Ich höre immer Millionen. In welcher Währung?"

  "Wir fakturieren in US-Dollar. Immer schon. Das ist üblich."

  "Und warum nicht in Volkswährung?"

  "Nicht kompatibel. Wir wollen Bargeld sehen und keine Kompensationsgeschäfte machen. Das ist unsere Philosophie."

  Die Antwort verdroß den Vizepräsidenten. Wir sind doch keine Geschäftemacher, dachte er, wir sind die Enkel des Gelben Kaisers. Wir dienen dem Vaterland. Wir sind Kommunisten. Die Worte lagen ihm auf der Zunge. Aber die Lippen versagten ihm den Dienst. Er schwieg.

  "Mittelstrecken-Raketen für Saudi-Arabien. Dreihundertvierundsechzig Millionen US-Dollar." Der Sohn hatte nicht einmal bemerkt, daß der Mund seines Vaters zitterte. Er glühte vor Stolz auf seine Tüchtigkeit. Endlich konnte er dem alten Herrn beweisen, was in ihm steckte. Für ihn war es der schönste Augenblick seines Lebens, wenn er - wie er es gleich tun würde - dem Vater den Quartalsgewinn zur Aufstockung des Familienvermögens überreichte. Für sich selber behielt er nichts, außer dem Gehalt, das er bezog. Den ganzen Gewinn aus seiner Unternehmertätigkeit legte er dem Vater zu Füßen, damit der Alte begriff, was für einen erfolgreichen Sohn er hatte.

  Tatsächlich verdankte er ja auch jeden Dollar, den er kassierte, seinem Vater, genauer gesagt, der Tatsache, daß der Alte an jenem Abend vor sechs Jahren, als er zur Eröffnungsparty des neuesten ausländischen Luxushotels in Peking eingeladen war, wieder einmal seine klassenkämpferischen Vorurteile kultivierte und sich von den Imperialisten nicht ein einziges Hühnerbein schenken lassen wollte. So kam es, daß der Sohn als sein Stellvertreter mit Messer und Gabel hantieren durfte, in der Gesellschaft von zwei anderen "jungen Drachen", wie man die Kinder der Politbüromitglieder im Volksmund spöttisch nannte, die ebenfalls für ihre Väter einsprangen. Es wurde viel getrunken an diesem Abend, und ein Neger, der an allen Fingern goldene Ringe trug, bekam einen Tobsuchtsanfall. In der Tischrunde des Negers, der auf sein Zimmer begleitet werden mußte, saß ein Diplomat, mit dem man gemeinsam die Militärakademie besucht hatte. Er war bereit zu erzählen, was den Schwarzen so aus der Fassung gebracht hatte. Der Neger war in Wirklichkeit ein Araber aus den Vereinigten Emiraten am Persischen Golf und war nach Peking gekommen, um Waffen zu kaufen, aber die Chinesen haben nun einmal einen Horror vor Leuten mit schwarzer Hautfarbe, und niemand nahm ihn ernst, dabei schwamm seine Regierung in Geld. Die Drachensöhne blickten sich an. Sie dachten: Hier liegt das Geld auf der Straße, und niemand hebt es auf. Zufällig war der eine von ihnen der älteste Sohn des Patriarchen - und der Patriarch war als Vorsitzender der Zentralen Militärkommission der Oberbefehlshaber der Armee - und der andere war der Sohn eines Marschalls. Sie beschlossen, etwas Nützliches zu tun und das Geld aufzuheben. Zu dritt gründeten sie eine Agentur für die Vermittlung von Waffengeschäften. Sie mieteten ein Haus in Macao, wo das Behördenklima besonders günstig war, und stellten einen Computer auf, in dem sie sämtliche Waffen registrierten, von denen die Armee sich trennen wollte, die Lagerbestände der Rüstungsfirmen, sowie die freien Kapazitäten der Industrie und konkrete Lieferfristen. Der Computer druckte fortlaufend auf den neuesten Stand gebrachten Angebotskataloge aus, die die Militärattachees an allen Auslandsvertretungen der Volksrepublik griffbereit in ihren Panzerschränken liegen hatten. Für Kaufinteressenten gab es jetzt nur noch eine Anlaufstelle, und die Einnahmen der Volksrepublik aus dem Waffenexport stiegen von Jahr zu Jahr.

  Im gerade zu Ende gegangenen ersten Quartal waren, wie der Sohn dem Vizepräsidenten vorrechnete, Kundenzahlungen in Höhe von zwei Komma sieben Milliarden US-Dollar eingegangen. Die Agentur erhielt für ihre Bemühungen eine Provision von drei Prozent. Davon wurden die Betriebskosten bestritten, die sich auf neun Millionen beliefen. Den Rest wurde als Gewinn an die drei Gründer ausgeschüttet. Der Anteil, der für ihre Familie bereitstand, betrug vierundzwanzig Millionen amerikanische Dollar. Über die Verwendung dieser Summe wollte der Sohn den Vater entscheiden lassen.

  "Ich denke, wir machen das wie immer," meinte der Vizepräsident.

  "Besitzen wir nicht schon genug von dem Zeug?" wandte der Sohn ein, "Gold bringt keine Zinsen."

  "Aus den internen Rundschreiben weiß ich, daß wir zwanzig Prozent Inflation haben. Das heißt, jeder Geldbetrag, egal wie hoch, ist in fünf Jahren weg."

  "Steht es so schlimm?"

  "Ja. Weißt du, was mir manchmal Sorgen macht? Seit der Sache mit Präsident Marcos von den Philippinen frage ich mich, ob unsere Reserven im Ausland wirklich sicher sind?"

  In der Volksrepublik war der private Besitz von Gold zur Zeit nicht statthaft. Deshalb ruhte das Familiengold vorübergehend in einem atombombensicheren Gewölbe in der Schweiz, das man - ohne Ausweis- oder Zollkontrolle - von den Transiträumen des Flughafens Kloten aus betreten konnte.

  "Wenn wir bei dieser Methode bleiben, gibt es keine Alternative. Ich muß dich nur darauf aufmerksam machen, diese Summe, das sind schon wieder zweitausend Kilogramm. Wir werden neuen Tresorraum mieten müssen."

  "Dann miete ihn."

  Die Limousine verlangsamte die Fahrt. Der Chauffeur hielt den Hörer des Autotelefons gegen die Trennscheibe. Der Vizepräsident ließ die Glaswand herunter und nahm den Hörer entgegen. Es war sein Büro, das ihm die Nachricht vom Tod des Letzten Vorsitzenden übermittelte.

  Ein starkes Glücksgefühl erfüllte den Vizepräsidenten. Den habe ich also tatsächlich zur Strecke gebracht, dachte er. Ich habe ihn mit Worten getötet. Ich bin noch besser, als Wu Sung der Tigertöter aus dem Roman "Die Räuber vom Liang Schan Moor". Der Metzger Wu Sung hat einen Tiger mit den bloßen Händen erledigt. Ich brauche meinen Widersacher nur anzubrüllen.  Schon fällt er um und stirbt.

  "Eine gute Nachricht?" fragte der Sohn.

  "Der Letzte Vorsitzende ist gestorben."

  "Das ist ja schrecklich."

  Der Vizepräsident musterte seinen Sohn mißtrauisch. War ihm etwas von der Auseinandersetzung im Politbüro zu Ohren gekommen?

  "Was heißt hier schrecklich? Hast du vergessen, was er und seine Clique unserem Staat angetan haben? Wer hat verhindert, daß ich Vizepremier blieb? Wer hat mich aus dem Zentralkomitee und dem Politbüro heraus haben wollen?"

  "Ich denke, das war die Idee des Patriarchen."

  "Er hat nicht aufgepaßt. Sie haben ihn reingelegt. Aber jetzt weiß er es. Ihre Uhr ist abgelaufen."

  "Ich habe ihn immer gern gehabt," erklärte der Sohn. Es war unklar, wen er meinte, den Letzten Vorsitzenden oder den Patriarchen. Der Vizepräsident hatte nicht die Absicht, das herauszufinden. Er umklammerte den goldenen Tiger, bis ihn die Finger schmerzten.

 

Drittes Kapitel

                                             15.April, vormittags

  Der Patriarch war der einzige, der die Nachricht nicht sofort erhielt. Er war gerade dabei, sein tägliches Schwimmpensum zu absolvieren, im Kellerschwimmbad seines festungsähnlich ausgebauten Wohnhauses, und die junge Ärztin, die über sein Wohlergehen wachte, erlaubte nicht, daß man ihn beim Schwimmen störte.

  "Seine Gesundheit hat Vorrang," erklärte sie energisch, auch nachdem sie erfahren hatte, was in der Nachricht stand.

  Die Ärztin war ziemlich groß, hatte eine hohe schmale Stirn, einen mageren Hals und eine gar nicht so magere Figur, die sie mit einer weit geschnittenen weißen Jacke zu neutralisieren versuchte. Sie hatte sich im Lotossitz am Beckenrand niedergelassen und betrachtete wohlwollend die regelmäßigen Bewegungen des Patriarchen. Sie verehrte diesen Mann. Im Wasser wirkte er wie ein Koloß, mit seinem aufgetriebenen Leib und dem muskulösen Nacken, der sie an einen Wasserbüffel erinnerte. Sie bewunderte die Kraft und die Disziplin, die sie in seinen gleichförmigen Bewegungen erkannte. Todesnachrichten taten diesem vitalen Greis nicht gut. Er hatte ihr einmal anvertraut, daß er jedesmal, wenn er vom Tode eines Kampfgefährten erfuhr, von der Befürchtung ergriffen wurde, daß der Boden, auf dem er stand, immer dünner und brüchiger wurde und sein Gewicht bald nicht mehr würde tragen können, wie die Eiskruste auf einem See, wenn im Frühling das Tauwetter einsetzt.

  "Und dann?" hatte sie ihn gefragt. Dann würde ihn ein schwarzer Abgrund verschlingen, und er könnte nichts mehr für sein Land tun.

  "Iß nicht so viel, rauch nicht so viel, dann wird die Kruste noch lange halten," hatte sie ihm geraten.

  "Ärzte sind Ignoranten," war seine Antwort gewesen. "Sie glauben, sie wüßten alles, in Wirklichkeit verstehen sie nichts."

  Ihr war klar, daß er ein Vorurteil gegen die Ärzteschaft hegte, seit sein Sohn in der Kulturrevolution von revolutionären Mitstudenten aus einem Fenster im vierten Stock seines Studentenwohnheims in der Peking-Universität gestoßen worden war. Man hatte ihn mit gebrochener Wirbelsäule ins Krankenhaus gebracht, aber weil er der Sohn des Patriarchen war, und der Vater gerade politisch verfolgt wurde, hatte man ihn zwei Tage unversorgt auf dem Fußboden eines Aufnahmeraumes liegen lassen. Als schließlich durch persönliche Intervention des Premiers die Leitung des Krankenhauses angewiesen wurde, den Sohn zu behandeln, war es zu spät gewesen. Er blieb querschnittsgelähmt und war für den Rest seines Lebens auf einen Rollstuhl angewiesen. Sie wußte, daß dies für den unermüdlichen Schwimmer zu ihren Füßen ein schreckliches Trauma war. Aber es war nicht die Schuld der Ärzte gewesen. Es war die Schuld der Politiker, die es nicht verstanden hatten, für den Umgang mit der Macht verbindliche Normen festzulegen, wie sie für Ärzte im Umgang mit Röntgenstrahlen eine Selbstverständlichkeit sind. Der verstorbene Parteisekretär, der "letzte Vorsitzende", hatte an solchen Normen gearbeitet, und der Nachfolger tat es auch, aber wenn der Patriarch ihn nicht besser unterstützte, dann würde man noch in fünfzig Jahren die Enkel und Urenkel des Patriarchen von hohen Gebäuden hinunterstürzen. Das mußte sie ihm das nächste Mal sagen, wenn er wieder damit anfing, daß die Ärzte nichts taugen.

  Sie blickte auf die Uhr und stellte fest, daß sie ihn fast zwei Minuten zu lange hatte schwimmen lassen.

  "Es ist gut," rief sie, "komm rauf".

  Er vollendete die begonnene Bahn, umklammerte die Edelstahlleiter und kletterte schnaufend nach oben. Auf festem Boden stehend, schüttelte er sich, daß die Wassertropfen spritzten. Die Ärztin sprang kreischend zurück, der Masseur, der die ganze Zeit schweigend im Hintergrund gestanden hatte, brachte ein großes Frottiertuch, das ihm der Patriarch aus der Hand riß, um sich selber abzutrocknen. Er schlüpfte in den Bademantel, den ihm der Masseur aufhielt, und stapfte ins Nebenzimmer, wo sein Plastik-Liegestuhl auf ihn wartete. Nach dem Schwimmen mußte er immer zwanzig Minuten ausdampfen, bevor er sich ankleidete und dem Alltag stellte. Auf dem lackierten Stahltisch neben dem Liegestuhl lag die Nachricht. Er las sie, während die Ärztin gerade damit beschäftig war, sein Herz abzuhören. Der Atem ging zwar etwas pfeifend, kein Wunder bei seinem Zigarettenverbrauch, aber das Herz schlug kraftvoll und gleichmäßig. Mit diesem Herzen konnte er hundert werden.

  "Ist das alles?" fragte der Patriarch, ungeduldig den Zettel schwenkend.

  "Ist das nicht schlimm genug?" erwiderte die Ärztin.

  "Und wo sind die Anfragen dazu, die Bitten um Entscheidungen?"

  "Ich geh mal in die Tele-Zentrale und hole den Rest," beschwichtigte die Ärztin. Das Problem war, er wurde in letzter Zeit immer weniger um Stellungnahmen gebeten, und in der Zentrale lag wahrscheinlich überhaupt nichts vor. Aber das konnte ihm sein Enkelin sagen, die für ihn die Aufgaben einer Privatsekretärin übernommen hatte.

  "Wo sind meine Zigaretten?" rief der Patriarch, kaum daß sich die Tür hinter der weißen Jacke der Ärztin geschlossen hatte.

  Der Masseur brachte ihm eine Schachtel und gab ihm Feuer.

  "Danke, ich brauch dich jetzt nicht."

  Der Patriarch ließ sich zurücksinken und atmete entspannt den würzigen Rauch ein. Eine Wohltat. Behutsam ließ er den rechten Fuß auf den Fußboden gleiten und stampfte mit der Ledersandale auf. Solider Betonboden. Er hatte nichts anderes erwartet.

  Zwölf Jahre jünger und schon vom schwarzen Abgrund verschlungen. Ihn schauderte. Sie waren Freunde gewesen, der Verstorbene und er. Sie hatten die gleiche heimliche Leidenschaft geteilt, das Bridgespiel. Es gab keinen gerisseneren Bridgepartner als ihn. In der Kulturrevolution wurde er wegen ihrer Freundschaft verfolgt. Man hatte man ihm zum Vorwurf gemacht, daß er Sonderflugzeuge eingesetzt hatte, um Mitspieler für ihre Bridgeparties herbeizuschaffen. Deswegen hatten die Roten Garden dem Freund den Kopf kahlrasiert und ihn auf allen Vieren auf der Erde kriechen lassen, wie ein Tier. Damit sich so etwas nie wiederhole, hatte der Patriarch ihn 1980 zum Vorsitzenden der Partei gemacht, in der Nachfolge eines Mao Tsetung. Mit dem Aufräumen der von Mao hinterlassenen Unordnung hatte der Tote auch ganze Arbeit geleistet. Alle zu Unrecht verfolgten Genossen wurden rehabilitiert und bekamen sogar ihre Gehälter für die zehn verlorenen Jahre nachgezahlt. Aber später wurde er unkonzentrierter, war seinen Aufgaben nicht mehr gewachsen. Er war der typische Intellektuelle, der sich Gedanken darüber machte, daß Marx und Engels, wenn sie Glühbirnen benutzt hätten und mit Düsenflugzeugen gereist wären, wahrscheinlich einen anderen Marxismus entworfen hätten, aber er kapierte nicht, in was für eine Gefahr das Vaterland geriet, als die Studenten im Dezember 1986 die Fratze der Anarchie aufrührerisch vor sich hertrugen. Deswegen hatte er zugestimmt, als seine alten Kriegskameraden darauf drängten, den Freund aus seinem Amt zu entfernen, obwohl es im Grunde eine persönliche Niederlage für ihn war, denn damit wurde sein Urteil von damals, als er ihm das Amt gegeben hatte, in Frage gestellt. Aber manchmal mußte man eben einen Turm opfern, um das Spiel zu gewinnen.

  Leider hatte der andere, den er an seine Stelle gesetzt hatte, auch nicht gehalten, was er sich von ihm versprochen hatte. Vor über einem halben Jahr schon hatte er ihn aufgefordert, diesen Clown, den Professor, der hinter den Studentenunruhen von 1986 gesteckt hatte, festnehmen und verurteilen zu lassen, aber er wartete immer noch auf eine Vollzugsmeldung. Diese jungen Leute in ihren westlichen Maßanzügen begriffen einfach nicht, worauf es ankam. Stabilität, Stabilität und hundertmal Stabilität. Alles andere war zweitrangig.

  Er blickte auf und bedauerte, daß er den Masseur weggeschickt hatte, denn jetzt mußte er sich die Zigarette selber herauspicken und anzünden. Die Mühe war ihm lästig. Dieses Jahrhundert, das mit ihm zu Ende ging, wieviel Aufruhr hatte es gesehen, und wie wenig Stabilität!

  In den Zwanziger Jahren, als er zum Studium nach Frankreich gegangen war und dort die Kommunistische Bewegung mitbegründete, da hatte sein Vater, der ein Kaufmann war, eine Reise in die Hauptstadt ihrer Heimatprovinz unternommen, um Ware einzukaufen. Auf dem Rückweg waren plötzlich Räuber hinter den Bäumen hervorgekommen. Sie hatten den Vater und seine Begleiter getötet, die Tiere an sich genommen und die Waren gestohlen. Doch das reichte ihnen noch nicht. Sie hatten dem Vater auch noch den Kopf vom Leibe abgeschlagen. Nach dem Glauben der Vorfahren konnte ein Toter im Grabe keine Ruhe finden, wenn sein Körper zerstückelt war. Deshalb hatte sein jüngerer Bruder, der in China zurückgeblieben war, vor der Beerdigung den Kopf des Vaters mit einer Ledernadel und dickem Garn wieder an den Rumpf angenäht. Eigentlich wäre das die Aufgabe des ältesten Sohnes gewesen, aber er war ja in Frankreich und deshalb nicht fähig, dem Vater die letzte Ehre zu erweisen. Obwohl er selber nicht abergläubisch war, machte er sich bis heute Vorwürfe, in der Rolle des treusorgenden Sohns versagt zu haben, ebenso wie er selber als Vater versagt hatte, weil er nicht verhindert hatte, daß die Studenten seinen Sohn zum Krüppel machten.

  Der Patriarch sog heftig an seiner Zigarette, und der heiße Rauch verbrannte ihm fast die Mundhöhle. Der Ärger ließ seinen Atem schneller gehen. Sein ganzes Leben war eigentlich ein Fehlschlag. Als Vater, als Sohn und als Politiker war er dem Jahrhundert schuldig geblieben, was es von ihm verlangen durfte. Vor zehn Jahren schon hatte er sich aus der Politik zurückziehen und die Zukunft des Landes in die Hände würdiger Nachfolger legen wollen. Jetzt war der eine tot und der andere möglicherweise nicht würdig genug.

  Die Zigarette schmeckte ihm nicht. Er hatte sein Bestes gegeben, aber das war nicht genug gewesen. Die jungen Männer, auf die er gesetzt hatte, besaßen einfach nicht das nötige Format. Sie sahen nicht, was er sah. Sie sahen nicht, wie sich überall unter den Bäumen wieder die Räuber zusammenrotteten, um die Kaufleute zu überfallen, ihnen die Waren zu entreißen und ihnen die Köpfe vom Leibe zu trennen. Er selber hatte die Kaufleute ermutigt, wieder Geschäfte zu tätigen, er hatte ihnen zugerufen, "Reich sein ist ruhmvoll", und jetzt war er nicht fähig, sie vor den Räubern unter den Bäumen zu beschützen. Er sah die Räuber in letzter Zeit immer deutlicher, er sah sie auch in dunklen Zimmerecken und offenstehenden Garagen. Sie schwenkten ihre Äxte und warteten nur darauf, daß er wegblickte. Ebenso deutlich sah er die Studenten, die Aufrührer, die sich zusammenrotteten, um idiotische Parolen zu brüllen und ihre fleißigen Mitstudenten zu ermorden oder zu Krüppeln zu schlagen. Das waren keine Hirngespinste. Er war troz seiner 84 Jahre geistig noch vollkommen da. Es war ihm nur gegeben, mehr zu sehen als die anderen, er sah den Dingen auf den Grund.

  Gut, er hatte im bisherigen Leben nicht alles richtig gemacht, aber es war noch nicht zu spät. Er war noch gesund genug, um alles zum Besseren zu wenden. Er mußte die Dinge nur wieder mehr in die Hand nehmen. Er hatte Kraft, er hatte Erfahrung, und er wußte, worauf es ankam. Er drückte die Zigarette aus und erhob sich. Er brauchte auch niemanden, der ihm beim Ankleiden half. Er allein konnte sich immer noch am besten helfen.

 

Viertes Kapitel

                                                  15.April, abends

  Die Schlange vor der Essensausgabe war so lang, daß sie schon mehrere Meter vor der Mensatür begann. Winterkirsche nahm die Emailleschale und die Stäbchen in die linke Hand - die Studenten kamen alle mit ihrem eigenen Geschirr zum Essenfassen - und suchte in der Brusttasche ihrer wattierten Jacke nach den Portionsgutscheinen. Obwohl heute erst der fünfzehnte April war, kam es ihr vor, als hätte sie schon mehr als die Hälfte der Scheine verbraucht. In der Mensa wurde nicht mit Bargeld bezahlt, sondern mit Gutscheinen von der Größe einer Eisenbahnfahrkarte die es als Bons für kleine und große Portionen gab.  Diese Essensmarken mußte man am Ersten jedes Monats, wenn die Stipendien ausgezahlt wurden, in der Verwaltung kaufen. Ein ständig größer werdender Teil ihrer Mittel ging dafür drauf. Der Rest reichte kaum für Schreibzeug, Bücher und Seife. Der Gedanke, die wattierte Jacke gegen einen Acrylpullover zu vertauschen, jetzt, da die Tage bald wärmer wurden, blieb ein unerfüllbarer Traum. Sie hatte einfach kein Glück. Schon lange nicht mehr. Sie hatte das ganze Glück, das für sie bestimmt war, aufgebraucht, als sie als Drittbeste von dreißigtausend Bewerbern die Aufnahmeprüfung für die Uni bestand. Damals hatte ihr das Glücksgefühl den Magen zugeschnürt. Jetzt protestierte ihr Magen gegen ihren sparsamen Gebrauch der Essensmärkchen. Da sie etwas kurzsichtig war, fragte sie den vor ihr stehenden Studenten, ob er die Speiseangebote lesen könnte, die auf einer Tafel neben der Mensatür angezeigt waren.

  "Weißkohl in Schweineschmalz als kleines Gericht, Hammelragout mit Rüben als großes."

  Winterkirsche drückte die Emailleschale gegen ihre Brust und zählte noch einmal mit beiden Händen die Gutscheine. Vom Kohl würde sie nicht satt werden, aber wenn sie das Hammelfleisch nähme, müßte sie sich am nächsten Tag einschränken. Sie überlegte hin und her und kam zu keiner Entscheidung.

  "Sag mal," wandte sie sich an ein Mädchen, das gerade aus der Mensa kam, "was hast du gegessen? Was kannst du empfehlen?"

  "Alles beschissen," erwiderte die Angesprochene, ohne ihren Gang zu verlangsamen. Erstaunt drehte Winterkirsche sich um. Am Ende der Schlange, die inzwischen hinter ihr weitergewachsen war, herrschte Unruhe. Ein Mädchen gestikulierte heftig, ein anderes schnitt eine Grimasse, ein Junge stampfte kräftig mit den Füßen.

  Einem plötzlichen Impuls folgend, verließ Winterkirsche ihren Platz in der Reihe und drängte sich unter die aufgebrachten Kommilitonen.

  "Schnell ins Fernsehzimmer," hörte sie die eben noch so Kurzangebundene sagen, "gleich gibt es Nachrichten."

  "Was ist denn passiert?"

  Niemand nahm Notiz von ihrer Frage, und da sie keinen in dieser Gruppe kannte, traute sie sich nicht, ihre Frage zu wiederholen. Sie folgte der Mehrheit. An der Tür zum Fernsehraum staute sich die Menge. Drinnen waren alle Stühle besetzt. Einige Studenten standen an der Wand, andere hockten auf dem Fußbaden. Winterkirsche ließ sich unmittelbar vor dem Fernseher nieder.

  Eine Parade von Kühlschränken mit offenen Türen marschierte über den Bildschirm. Einer größer als der andere. Reklame. Wer konnte sich denn so etwas leisten? Höchstens die Leute, die Bestechungsgelder nahmen.

  Das Stationssymbol entfaltete sich auf dem Bildschirm, begleitet von der Fanfare, die den Beginn der Nachrichtensendung ankündigt. Die Vorspannmusik brach ab, ein Trauermarsch erklang. Ein Porträtphoto in Schwarz-Weiß, umrahmt von einem schwarzen Trauerflor, stand unbeweglich auf dem Bildschirm. Das war es also. Der Letzte Vorsitzende war tot, der frühere Generalsekretär der Partei, der vor zwei Jahren sein Amt verloren hatte, weil er sich geweigert hatte, die Studentendemonstrationen vom Herbst 1986 gewaltsam niederzuschlagen. Zu recht geweigert, denn die Studenten und er hatten beide das gleiche gewollt, mehr Freiheit und mehr Gerechtigkeit. Doch davon sagte der Ansager, der jetzt mit einer schwarzen Krawatte ins Bild kam, kein Wort. Er sprach von dem großen Verlust für Partei und Volk, den sein Tod bedeutete. Dieser Verlust, dachte Winterkirsche empört, war schon früher eingetreten, am 17.Januar 1987, als man ihn Hals über Kopf aus dem Amt jagte, weil seine Politik zu unbequem war, denn sie hätte Hunderte von hohen Funktionären um ihre Privilegien gebracht. Er war der einzige unter den siebzehn Mitgliedern des Politbüros gewesen, der seinen Kindern kein Auslandsstudium zugeschanzt hatte und auch keinen hochbezahlten Posten in einem chinesisch-amerikanischen Gemeinschaftsunternehmen. Das Schwarzweiß-Photo kehrte auf den Bildschirm zurück, die Trauermusik ertönte aufs Neue. Die Pflichtübung war zu Ende. Nächstes Bild: Ihr Premier auf Japanreise. Lächelnd erklärte er, daß er gerade von dem Todesfall erfahren habe und sein Beileid ausdrücken wolle, aber auf seinen Aufenthalt im Ausland habe das keinen Einfluß, das Besuchsprogramm werde abgewickelt werden wie geplant. Beim Anblick des Premiers erstarrte Winterkirsche in hilfloser Wut. Wie sie dieses Gesicht haßte. Sie hätte unentwegt hineinschlagen können, in diese dicken Lippen, die hochmütig und verkniffen zugleich aussahen. Nach der Absetzung des Letzten Vorsitzenden hatten sie den tüchtigen alten Premier zum Generalsekretär gemacht und einem Musterknaben das Amt übertragen, der nichts vom Regieren verstand. Seit er den Posten hatte, wurde das Geld immer weniger wert. Er war kein Politiker, er war der Strohmann der Ewig-Gestrigen. Nach 40 Jahren Revolution regierte wieder die Inkompetenz das Land, wie zur Zeit der Kaiser, nur noch viel schamloser. Der letzte anständige Mensch war gestorben, und die Hyänen zerfleischten ihre Beute. Da konnte man nicht so tun, als ob einen das nichts anginge, da konnte man nicht ruhig sitzenbleiben und auf die Wetterkarte warten. Sie mußte dagegen einschreiten, sie mußte die Emporkömmlinge in ihre Schranken weisen. Es ging um die Zukunft, um ihre eigene, um die ihrer Schwester und um die Zukunft der noch ungeborenen Kinder ihrer Schwester.

  Winterkirsche erhob sich ungeduldig. Hinter ihr wurden Proteste laut, weil sie mit ihrem Körper den Bildschirm verdeckte. Sie duckte sich und huschte hinaus. Auf dem schlecht erleuchteten Weg zu ihrem Wohnheim fiel ihr ein, was sie tun konnte. Sie mußte eine Wandzeitung schreiben, in der sie ihren Gefühlen freien Lauf ließ, und dann die Wandzeitung auf dem Uni-Gelände aushängen. Vielleicht würde sie von anderen gelesen, die genauso dachten wie sie und Lust bekämen, gemeinsam etwas zu unternehmen.

  Sie hatte Glück, daß sie ein Vier-Bett-Zimmer bekommen hatte. Viele mußten zu acht in einem Raum schlafen. In ihrem elf Quadratmeter großen Zimmer standen zwei Doppelstockbetten rechts und links an der Wand, sie schlief oben. Zu beiden Seiten der Tür waren Einbauschränke. Für jede von ihnen stand eine Türbreite Schrankraum zur Verfügung. Auf dem Fensterbrett des dreiflügligen Doppelfensters - die Mitte war starr, die Flügel rechts und links ließen sich öffnen - standen die bunt lackierten Thermosflaschen der Studentinnen. Einmal am Tag, wenn der Boiler beheizt wurde, gab es warmes Wasser. Ein Schreibtisch, in den sich alle vier teilen mußten, stand direkt vor dem Fenster. Man konnte ihn aber nur bei Tageslicht benutzten. Abends bekam man Kopfschmerzen von der Neonröhre, die in der Mitte des Zimmers an der Decke klebte.  Da war es praktisch, wenn man oben schlief. Auf dem oberen Bett reichte das Licht zum Lesen und Schreiben. Das harte Kopfkissen mit seiner Füllung aus Spreu bildete dabei eine gute Unterlage, besonders beim Schreiben.

  Von den anderen drei war keine im Zimmer. Das war Winterkirsche ganz recht. Sie zog ihren kleinen Pappkoffer unter dem unteren Bett hervor, öffnete ihn mit dem Schlüssel, den sie immer in ihrer Geldbörse bei sich trug, und nahm die Utensilien für das Kalligraphieschreiben heraus. Einen Pinsel, ein schwarzes Stück fester Tusche und einen Reibstein, um die Tusche anzurühren. Der Reibstein hatte die Größe einer Postkarte, einen hochgezogenen Rand, eine rauhe Oberfläche und eine kleine Vertiefung unten. Winterkirsche ging mit dem Reibstein in den Waschraum auf der gegenüberliegenden Seite des Ganges, beugte sich über den großen Betonwaschtrog, und ließ aus dem Hahn Wasser in die Vertiefung des Steins laufen. In ihr Zimmer zurückgekehrt, setzte sie sich an den Schreibtisch und rieb die viereckige Tusche so lange über den feuchten Stein, bis sich die Vertiefung ganz mit schwarzer Flüssigkeit gefüllt hatte. Dann nahm sie einen zusammengefalteten Papierbogen aus dem Koffer, schlug ihn auf, tunkte den Pinsel in die schwarze Flüssigkeit und schrieb mit großen Schriftzeichen auf die weiße Fläche: "Ein wahrer Mann ist gestorben, falsche Männer leben weiter. Gibt es noch Hoffnung für uns?"

  Sie verstaute das Schreibzeug wieder im Koffer, nahm eine Deckeldose mit Klebstoff an sich und machte sich mit ihrem Werk auf den Weg zur Mensa. An der Essensausgabe warteten nur noch wenige, aber die Tische waren überfüllt, und vor dem Waschbecken in der Ecke hatte sich eine Schlange gebildet, weil jeder sein Eßgeschirr vor dem Nachhausegehen sauberwaschen wollte.

  Winterkirsche öffnete die Leimdose, schmierte den Kleister mit dem Zeigefinger auf die Rückseite des Papiers und heftete das große Blatt an die Glaswand der Mensa, direkt neben die schwarze Tafel mit der Kreideschrift "Weißkohl in Schweineschmalz". Dann rannte sie, von plötzlicher Angst gepackt, in den Schatten der nächsten Baumgruppe und ließ sich zu Boden fallen. Ihr Herz klopfte rasend schnell. Sie konnte den Pulschlag ihres Blutes in ihrem Hals pochen fühlen. Sie sah, daß Leute, die aus der Mensa kamen, vor ihrer Wandzeitung stehen blieben und darüber diskutierten. Sie hätte zu gern mitgehört, was sie sagten, aber sie war vollkommen ausgelaugt und mußte erst wieder Kräfte sammeln.

  "He du," sprach sie jemand von der Seite an, "kannst du mir deinen Kleister leihen?"

  Es war ein junger Mann in einer schwarzen Lederjacke. Er war einen Kopf größer als sie und hatte unglaublich langes Haar, länger als die meisten Mädchen.

  "Wieso?" Sie erhob sich zitternd. "Ich hab keinen."

  "Keine Angst," sagte der Unbekannte, "ich verrate dich nicht.  Ich bin nicht von der Sicherheit. Ich habe dich ganz zufällig beobachtet."

  "Das ist aber eine teure Lederjacke, die du hast."

  "Familienerbstück. Ich heßáe Liu und studiere Geschichte."

  "Wie schreibst du dich? Es gibt so viele Lius."

  "In der alten Schreibweise ist es Liu, die Streitaxt."

  "Ach dieses Liu. Ich heiße Winterkirsche. Wozu brauchst du Klebstoff?"

  "Ich habe genau wie du eine Wandzeitung geschrieben. Aber ich habe mir nicht überlegt, wie ich sie festmache."

  "Wo hast du sie? Kann ich sie sehen?"

  "Natürlich sollst du." Aus der Innentasche der Lederjacke holte er ein braunes Papier und faltete es vorsichtig auseinander. In eckiger Schrift hatte er mit einem dicken Filzstift geschrieben: "Du warst ein Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie. Dein Tod ist ein schwerer Schlag für das chinesische Volk, aber der Kampf um Freiheit und Demokratie geht weiter."

  "Das ist stark," sagte Winterkirsche. "Ich helfe dir, sie anbringen."

  Sie stellten sich vor die Glaswand, an der Winterkirsches Wandzeitung hing, und drückten das Papier dagegen, die Rückseite nach außen. Während Liu mit beiden Händen die Falten glatt rieb, trug Winterkirsche Kleber auf. Dann drehten sie den Bogen um und preßten ihn fest gegen den Untergrund. Als die ersten Neugierigen kamen, stahlen sie sich davon. An der Stelle, wo Liu vorhin Winterkirsche angesprochen hatte, machten sie halt.

  "Hast du schon gegessen?"

  "Ich war auf dem Wege, als die Nachricht kam. Jetzt habe ich mein Eßzeug vergessen."

  "Ich muß auch noch mal zurück. Wir treffen uns in der Mensa."

  Als Winterkirsche sich an der Essensausgabe anstellte, konnte sie Lius langes Haar nirgends erblicken. Sie wählte das Hammel-Gericht und suchte sich einen Platz am Kopfende eines halb leeren Tisches. Das Essen war voll von Knochensplittern. Sie lutschte sie sorgfältig aus und sammelte sie in der linken Hand, ohne sich entscheiden zu können, ob sie sie unauffällig unter den Tisch werfen oder bis zum Schluß in der Hand behalten und dann in einen Abfallkorb tun sollte.

  "Laß es dir schmecken." Liu knallte seine Eßschale und einen Blechlöffel auf den Tisch. Er war nicht allein.

  "Das ist der Kleine Ma"," stellte Liu vor. Der Kleine Mar wur nur etwas kleiner als Liu. Er hatte eine kräftige Statur und machte ein grimmig herausforderndes Gesicht, als suche er Streit. Gleichzeitig hatte er aber auch einen gutmütigen, Hilfsbereitschaft signalisierenden Zug um die Augen.

  "Die kenne ich nicht," sagte er rüde und stieß die Eßstäbchen steil von oben in seinen Reis. "Die war letztes Jahr nicht dabei."

  "Bei was dabei?"

  "Bei den Juni-Protesten, weil die Rocker einen von uns totgeschlagen haben, das arme Schwein. Die Behörden haben den Fall vertuscht und die Presse die Nachricht unterdrückt. Deshalb -  sag wo warst du, auf dem Mond?"

  "Ich habe das nicht auf mich bezogen."

  "War ja auch kein Mädchen, das sie umgebracht haben. Sechshundert haben mitgemacht bei der Demo, und die da oben haben sich so in die Hosen gemacht, daß sie den Platz des Himmlischen Friedens abgesperrt haben, weil sie Angst hatten, wir würden dort aufmarschieren. Haben ihnen aber nicht den Gefallen getan. Unsere Stunde kommt noch."

  Winterkirsche fühlte sich so überrumpelt von diesem Gefühlsausbruch, daß sie kein Wort hervorbrachte. Mit gesenktem Kopf aß sie weiter.

  "Sag, Alter," wandte sich der Kleine Ma direkt an Liu, "willst du die wirklich ins Vertrauen ziehen?"

  "Das habe ich allerdings vor. Ich möchte auch ," er sah Winterkirsche erwartungsvoll an, "daß du mitkommst, wenn ich morgen kondolieren gehe."

  "Kondolieren? Wo?"

  "Im Haus des Letzten Vorsitzenden."

  "Nach Zhongnanhai?  Die lassen uns niemals hinein."

  "Der Letzte Vorsitzende hat nicht in Zhongnanhai gewohnt."

  "Als Generalsekretär der Partei?"

  "Er hat ein einfaches Gartenhofhaus in einer Gasse westlich von Zhongnanhai vorgezogen."

  "Da drückt sich morgen das ganze ZK herum," warf der Kleine Ma ein, "da haben wir keine Chance."

  "Klar," erwiderte Liu, "wenn sie dich sehen, schieben sie den Riegel vor. Deshalb nehme ich sie mit."

  "Und ich?" protestierte der Kleine Ma.

  "Du? Du machst die Runde durch die anderen Hochschulen und klopfst dort die Stimmung ab. Sprich mit den Leuten, die am 4.Mai mitmachen wollen."

  "Nicht so laut," warnte der kleine Ma, "nicht hier."

  "Ja, ja," sagte Liu unbeeindruckt und legte seine Hand kurz auf Winterkirsches Oberarm. "Du kommst doch mit? Morgen ist Sonntag. Da versäumst du hier nichts."

  "Ich das nicht gefährlich?" fragte sie, "wimmelt es dort nicht von Geheimpolizei?"

  "Hier etwa nicht? Du traust doch niemandem, der eine Lederjacke trägt."

  Winterkirsche hob die linke Hand, um ihm einen Knuff zu versetzen. Im letzten Augenblick fiel ihr ein, daß sie ja noch die gesammelten Knochensplitter zwischen den Fingern hielt. Sie ließ die Hand sinken und streifte den Inhalt an der Unterkante ihres Hockers ab.

 

Fünftes Kapitel

                                               16. April, morgens

  Winterkirsche erwachte vom Dröhnen der Lautsprecheranlage auf dem Universitätsgelände, über die die Frühnachrichten des Zentralrundfunks übertragen wurden. Der Klang war so verzerrt, daß sie kaum ein Wort verstand. Da heute Sonntag war, konnte sie länger liegenbleiben, aber wenn sie sofort aufstand, gab es unter Garantie noch warmes Wasser im Duschraum. Und außerdem wollte sie wissen, was aus ihrer Wandzeitung geworden war. Bestimmt hatte der Wachdienst sie längst abgerissen, aber davon wollte sie sich mit eigenen Augen überzeugen. Sie kletterte aus dem Bett, schlüpfte in ihre Plastiksandalen, griff sich Handtuch, Seifenschale und Badekappe, öffnete behutsam die Tür und rannte mit klappernden Schritten in den Keller. Der Duschraum war trotz der frühen Stunde schon mit Dampfschwaden gefüllt. Winterkirsche hängte ihren Schlafanzug auf einen Nagel, zog sich die Badekappe über und sprang auf den frei werdenden Platz unter einer der Duschen. Nachdem sie das Wasser eine Minute lang auf ihren Körper hatte trommeln lassen, überließ sie den Platz einer anderen und seifte sich im Vorraum von Kopf bis Fuß ein. Sie war überdurchschnittlich groß, mit kräftigen Oberschenkeln, einem schmalen Becken, fast überhaupt keiner Taille und einem mageren Oberkörper, an dem man die Rippen zählen konnte. Ihr dickes schwarzes Haar trug sie so kurz geschnitten, daß es mit den Unterkanten ihrer Ohrläppchen abschloß. Ihr Gesicht war länglich, die Nase flach, der Mund breit, die Augen braun, mit kleinen gelben Flammen darin, das Kinn gut entwickelt.

  Zurück in ihrem Zimmer, öffnete sie die Tür zu ihrem Schrankabteil und überlegte, was sie anziehen sollte. Eine gelbe Bluse, blaue Jeans und - da gab es nichts mehr zu wählen - die rote wattierte Jacke. Sie nahm die Eßschale aus Emaille und den Blechlöffel an sich und machte sich zu Fuß auf den Weg zur Mensa. Schon von weitem sah sie, daß ihre Wandzeitung noch da hing, aber viele andere waren dazu gekommen. Auch der Text auf ihrem Werk hatte sich vermehrt. Mit schwarzem Filzschrift geschrieben Kommentare nahmen ursprünglich weiße Stellen ihres Papierbogens ein. "Ganz meine Meinung," hatte jemand dazu geschrieben, "Ich unterstütze diese Ansicht" ein anderer. Sie überflog die anderen Wandzeitungen, konnte sich aber nicht schlüssig werden, welche sie am besten fand.

  An der Essensausgabe ließ Winterkirsche ihre Schale fü einen kleinen Portionsgutschein mit dünner Reissuppe füllen und suchte sich dann einen freien Platz an den langen Tischen. Jemand rief ihren Namen. Sie drehte sich um und sah Liu, die Streitaxt, der heftig winkte. Während sie sich auf den Stuhl setzte, zu dem er sie dirigierte, stellte er sie den Umsitzenden mit den Worten vor:

  "Leute, das ist Winterkirsche. Sie hat gestern die erste Wandzeitung an unserer Hochschule verfaßt."

  Zustimmendes Gemurmel empfing sie. Ein Gefühl der Hitze stieg Winterkirsche in die Kehle und in die Augen, sie senkte schnell den Kopf und aß ein paar Löffel von der lauwarmen Reissuppe. Dann war ihr Hals wieder frei, und sie erwiderte: "Deine Wandzeitung war besser. Du hast geschrieben: Der Kampf geht weiter."

  "Wie meinst du das: Der Kampf geht weiter?" fragte der Kleine Ma.

  Liu, der einen kleinen Teller mit Rührei und ein bauchiges Joghurtglas vor sich hatte, schien auf dieses Stichwort nur gewartet zu haben. "Wenn wir etwas in Bewegung setzen wollen, und das können wir nur, wenn sehr viele spontan mitmachen, dann wären die nächsten vier Wochen ein günstiger Zeitpunkt."

  "Wieso gerade jetzt? Ist nicht der Sommer, wenn es warm ist, viel praktischer?"

  "Nein, wir haben innerhalb der nächsten vier Wochen drei oder vier ganz wichtige Termine, zum Beispiel den 4. und den 15. Mai."

  "Erklär das mal, so daß es jeder versteht."

  "Ist doch ganz einfach," meinte Liu und schob seinen Joghurt, das Rührei und den Teebecher in die Mitte des Tisches und gruppierte sie zu einer Reihe. Das hier," er zeigte auf den Joghurt, "ist der 15.April. Das hier," - das Rührei -  "der 4.Mai, und hier -" er war bei der Tasse angelangt, "haben wir den 15.Mai. Zurück zum Ausgangspunkt. Fünfzehnter April, der Letzte Vorsitzende stirbt unverhofft. Irgendwann hier," er deutete mit dem Zeigefinger auf den leeren Platz zwischen Joghurt und Ei, "haben wir die feierliche Beisetzung. Bis dahin wird die Staatsgewalt auf Samtpfoten gehen. Dann," er deutete auf das Rührei, "kommt der 4.Mai, der siebzigste Jahrestag der ersten Studentendemonstration in China. Unsere Großeltern oder meinetwegen auch Urgroßeltern demonstrierten gegen Japan, für Demokratie und für moderne Technologie, mitten im Stadtzentrum von Peking, vor dem Tor des Himmlischen Friedens. Kommt die Polizei, eröffnet das Feuer, es gibt Tote, Verwundete, Festnahmen. Vierter Mai 1919. Also werden sie uns hier," er hob das Rühhrei hoch, "ganz bestimmt nicht die Schädel einschlagen. Und nun das Beste," er zeigte auf den Teebecher. "Genosse Generalsekretär Gorbatschow besucht die Hauptstadt. Große Versöhnung der größten Reformpolitiker dieses Planeten. Also werden sie sich vor diesem Termin, vor dem 15.Mai auch nicht die Hände schmutzig machen wollen." Er führte den Teebecher, der mit einem Pandabären bemalt war, an die Lippen. "Prost Gorbatschow. Nach diesem Datum allerdings," er setzte den Teebecher ab und ließ die rechte Hand von der Tischkante nach unten gleiten, "ist alles möglich. Deshalb müssen wir, wenn wir etwas erreichen wollen, bis dahin so viel bewirkt haben, daß sie das Rad nicht mehr zurückdrehen können."

  "Jetzt ist dein Essen kalt geworden," bedauerte Winterkirsche.

  "Der Nährwert bleibt der gleiche," erklärte Liu stoisch, zog aber doch den Teller an sich und schaufelte sich das Rührei schnell in den Mund. Er besaß ein großflächiges Gesicht, dessen kühner Schnitt Liu ein sehr männliches Aussehen gegeben hätte, wären da nicht seine Haare gewesen, die ihm gepflegt und locker auf die Schultern hingen, wie die Frisur eines Mädchens, das sich viel Zeit für ihre Schönheit nimmt.

  "Also müssen wir uns ranhalten," kommentierte der kleine Ma.

  "Falsch," widersprach Liu. "Erst müssen wir herausfinden, wie die Stimmung an den anderen Hochschulen ist. Bei uns liegt etwas in der Luft, das spüre ich. Aber was ist bei den anderen? Das müssen wir erst einmal testen. Winterkirsche könnte doch mal rüberfahren zur Pädagogischen Uni oder zur Volksuniversität und sagen, ich bin die, die die erste Wandzeitung an der Peking Uni geschrieben hat. Und wie sieht es bei euch damit aus? Du zeigst ihnen, was wir für Sachen geschrieben haben und schreibst deren beste Stücke ab, falls da was hängt."

  "Ich bin dabei," meldete sich der kleine Ma ungeduldig. "Ich kenne welche von der Volksuniversität. Mal vorfühlen, ob die was im Blut haben."

 

Sechstes Kapitel

                                              16.April, vormittags

   Der letzte Vorsitzende hatte in einer kleinen Pekinger Altstadtgasse in einem schlichten Atriumhaus gewohnt. Kein Namensschild verriet, wer hier lebte. Es gab nicht einmal eine Hausnummer. Der Eingang, eine zweiflüglige rote Doppeltür über einer hohen Steinschwelle, führte nicht ins Haus, sondern in den Gartenhof. Das Haus selber hatte nur ein einziges Fenster zur Straße, das Küchenfenster, um die Kochdünste vom Inneren fernzuhalten. Im Hof standen immergrüne Pflanzen in Tonkübeln, in einer nicht plattierten Ecke wuchs ein Magnolienbaum, der gerade zu blühen begann und auffallend prächtig in jener Farbe leuchtete, die in China die Farbe der Trauer ist. Den ganzen Sonntag kamen Besucher zum Kondolieren. Die drei Söhne des Verstorbenen empfingen die Gäste im Wohnzimmer, in dem ein Kondolenzbuch auslag, und Blumengebinde mit Trauerschleifen sich bald zu häufen begannen.

  Bis zum Mittagessen waren der Propagandachef gekommen, der Sicherheitsbeauftragte der Partei und ein Sohn des jetzigen Sekretärs. Der Sohn des Patriarchen ließ seinen Rollstuhl über die hohe Türschwelle heben. Seine Mutter begleitete ihn hoch erhobenen Hauptes.

  Ein Journalist, der mit dem Verstorbenen in der Jugendliga eng zusammengearbeitet hatte, schrieb ins Kondolenzbuch, die undurchsichtigen Umstände der Abberufung des Verstorbenen vom Posten des Generalsekretärs der Partei im Januar 1987 müßten endlich aufgeklärt werden.

  Der Chefredakteur der Wochenzeitung "Der neue Beobachter", eines Blattes, das einen guten Draht zum persönlichen Referenten des neuen Parteichefs besaß, las diese Eintragung zwei Kollegen vor, die mit ihm zusammen das Haus betreten hatten. Diese Kollegen waren der Stellvertretende Chefredakteur der "Wirtschaftswoche" und der Leiter des Pekinger Büros der Schanghaier "Weltwirtschaft".

  Der älteste Sohn des Verstorbenen, der das lautstarke Interesse der Gäste bemerkt hatte, trat auf die drei Journalisten zu. Er hatte vom Vater die fragile Figur geerbt, aber nicht dessen charismatische Überzeugungskraft. Er machte einen etwas hölzernen Eindruck, und antwortete auf die Frage der Journalisten, was er von diesem Eintrag ins Kondolenzbuch halte, mit umständlicher Pedanterie.

  "Diese Bemerkung ist eine Ermutigung für uns, seine Kinder, aber sie ist nicht besonders klar formuliert. Was heißt das: Die Umstände seiner Abberufung? Jeder weiß, daß an der verhängnisvollen Sitzung des Politbüros Personen teilgenommen haben, die dort nicht hingehörten und nichts zu suchen hatten. Und sie rissen gleich das Wort an sich, zum Beispiel der gegenwärtige Staatspräsident und der Vizepräsident. Aber was nützt es, das jetzt wieder aufzurollen. Worauf es mir ankommt und meinen Brüdern, das ist Folgendes. Die offizielle Begründung des Politbüros für die Abberufung meines Vaters war eine Beleidigung und eine Verunglimpfung meines Vaters. Ich und meine Brüder müssen darauf bestehen, daß die Partei diese Begründung widerruft."

  "Wie war denn der Wortlaut dieser Begründung?" fragte der Chefredakteur des "Neuen Beobachter", obwohl ihm die Formulierung durchaus vertraut war.

  "Es hieß," sagte der Sohn, und seine Stimme zitterte, "der Vater habe sich gegenüber dem bürgerlichen Liberalismus zu weich und zu schwach verhalten. Aber der ganze Begriff "bürgerlicher Liberalismus" ist in sich falsch, eine sprachliche Mißgeburt. Es gibt überhaupt keinen bürgerlichen Liberalismus. Das Wort ist ein grober Knüppel, mit dem uneinsichtige und unbelehrbare Kader wild um sich dreschen, um ihre Privilegien zu verteidigen. Unser Vater hat oft gesagt: Die Machtbefugnisse einiger Führungskader sind zu groß. Sie kommandieren blindlings herum und sagen heute dies und morgen das Gegenteil. Diese Willkür, dieses Festhalten an persönlichen Herrschaftsbezirken, ist unmarxistisch, ist ein Überbleibsel aus dem feudalistischen Denken der Kaiserzeit."

  "Ich glaube," sagte der Mann vom "Neuen Beobachter", "dem können meine Kollegen und ich zustimmen."

  "Mein Vater," fuhr der Sohn wie auswendig gelernt fort, "war ein echter Marxist, und ich muß darauf bestehen, daß die Partei ihr falsches Urteil über ihn widerruft und öffentlich ausspricht, daß mein Vater ein großer Marxist war."

  "Was können wir dazu beitragen?" fragte der Vertreter der "Weltwirtschaft" aus Schanghai.

  "Sie sollten Artikel schreiben, in denen Sie der Wahrheit über meinen Vater zu ihrem Recht verhelfen. Die "Weltwirtschaft" hat doch auch letzten Dezember diesen mutigen Beitrag gedruckt, in dem nachgewiesen wurde, daß alle Intellektuellenverfolgungen der letzten vierzig Jahre immer nur der Partei geschadet haben."

  "Eine Zeitung allein," erklärte der Mann des "Neuen Beobachters", dem dieses Lob der Konkurrenz nicht zu behagen schien, "kann nicht viel ausrichten. Aber wie wäre es beispielsweise, wenn unsere drei Organe gemeinsam ein Seminar, eine Konferenz, ein Symposion zum Tode Ihres Vaters veranstalten und die führenden Kapazitäten des Landes einladen, die historische Leistung ihres Vaters in Gedenkreden zu würdigen? Natürlich müßte man dabei auch auf die besonderen Umstände seiner Abberufung eingehen und ganz klar aussprechen, was gesagt werden muß. Ich stelle mir vor, daß wir alle drei dann die Ergebnisse dieses Symposions veröffentlichen."

  "Ich halte es für möglich," erwiderte der Redakteur der "Weltwirtschaft", "daß mein Chef mitmacht."

  "Und wer stellt die Rednerliste zusammen?"

  "Ich könnte Ihnen behilflich sein," bot sich der Sohn an.

 

Siebentes Kapitel

                                                                    16.April, mittags

  Der Sicherheitsbeauftragte der Partei hatte sich nach dem Kondolenzbesuch zu Hause umgezogen. Er wählte einen grauen Einreiher westlichen Stils und ein weißes Hemd, dessen obersten Knopf er offen stehen ließ. Der Sicherheitsbeauftragte mochte an die sechzig Jahre alt sein. Er hatte ein glattes Gesicht, Freundlichkeit ausstrahlende braune Augen und dichtes schwarzes Haar, das er gleichmäßig nach hinten gekämmt trug. Das Mittagessen nahm er zusammen mit seiner Frau und der noch im Hause lebenden Tochter ein. Die Frau hatte selber gekocht, da die "Ah-i", die Haushaltshilfe, Ausgang hatte. Der Sicherheitsbeauftragte fühlte sich verpflichtet, die gewürfelte Hühnerbrust und den mit Hackfleisch überbackenen Bohnenkäse zu loben. Es schmeckte tatsächlich vorzüglich, die Frau nahm ihm nur für seinen Geschmack zu viel Öl. Er hatte den Eindruck, daß sie die halbe Monatsration eines Pekinger Durchschnittsbürgers für eine einzige Mahlzeit verbrauchte. Auf diese Weise umging sie jedoch die Gefahr, daß etwas anbrannte.

  Nach dem Essen hatte der Sicherheitsbeauftragte das Bedürfnis, einen Verdauungsspaziergang anzutreten. Er schlüpfte in einen hellgrauen Staubmantel und verließ, einen Marsch pfeifend, das Haus. Sein Weg führte ihn an einer Bucht des Südsees vorbei. Die Trauerweiden hatten dicke Knospen, und am Boden waren die ersten Narzissen bereits in gelben Büscheln erblüht. Ohne daß er es bewußt vorgehabt hatte, führten ihn seine Füße zum kubischen Betonbau der Sicherheitshauptzentrale. Er schob seine Magnetkarte in den Kontrollschlitz der Eingangstür, grüßte den Wachhabenden und ließ sich mit dem Lift hinunter ins vierte Untergeschoß, wo sich der vollklimatisierte Bereitsschaftdienst-Raum Peking-Stadt befand. Ein Hauptmann, den er flüchtig kannte, war dabei, Stecknadeln mit grünen Fähnchen in den Stadtplan von Peking zu bohren. Der Hauptmann salutierte. Sein Kollege, der zwei Telefonhörer gleichzeitig an den Kopf gepreßt hielt und mit der rechten Hand Notizen machte, deutete eine Verbeugung an. Die Fähnchen auf dem Stadtplan waren mit Abkürzungen beschriftet. "Nord-Gro?", las der Sicherheitsbeauftragte, "Menschen-Volk", "Recht-Regel." Es waren die Namenskürzel der bedeutendsten Pekinger Universitäten.

  "Was ist das?"

  "An allen diesen Hochschulen werden Wandzeitungen angeschlagen, in denen der Tod des Letzten Vorsitzenden beklagt wird. Es ist wie eine Seuche."

  "Aber die Seuche scheint mir lokal begrenzt zu sein. Keines dieser grünen Fähnchen ist weiter als drei Kilometer von der Peking-Universität entfernt. Was ist mit den Instituten weiter östlich, die uns im Dezember 1986 so viel zu schaffen gemacht haben?"

  "Keine besonderen Vorkommnisse dort. Unsere Leute in den betroffenen Hochschulen fragen an, wie sie sich verhalten sollen. Seit der letzten Verfassungsreform ist es verboten, Wandzeitungen anzuschlagen. Aber unsere Leute trauen sich nicht, Wandzeitungen abzureißen, auf denen Gutes über ein Politbüromitglied gesagt wird."

  "Das ist korrekt. Keine unnötige Konfrontation. Das mobilisiert nur aggressive Energien. Wenn wir gar nichts tun, läuft es sich vielleicht von selber tot. Aber das ist nur meine private Meinung. Offiziell fällt die Sache in die Zuständigkeit des Pekinger Stadtparteikomitees, das mich zu benachrichtigen hat. Was noch nicht geschehen ist."

  "Die Entwicklung ist ganz neu. Und was ist mit der Auswertung? Die meisten Stellen melden, daß sie nicht genug Filmmaterial haben, um alles zu photographieren."

  "Die Fahrbereitschaft wird doch wohl einen Mann mit dem Motorrad hinschicken können."

  "Die Materialausgabe hat geschlossen. Heute ist Sonntag."

  "Also, das ist eure Sache. Ich meine, es reicht, wenn man sich vorerst auf die Registrierung von Wandzeitungen mit parteifeindlichen Parolen beschränkt."

  "Irgendwelche weitere Maßnahmen? Was ist mit Ausländer-Kontakten?"

  "Augenblick," warf der Sicherheitsbeauftragte ein, "was hatten wir anfangs bemerkt? Wie eine Seuche? Natürlich. Das heißt, wir müssen seuchenhygienische Maßnahmen treffen. Wir müssen das Phänomen isolieren, ein Überspringen auf die anderen Hochschulen verhindern. Na gut, ich diktiere Ihnen eine Dienstanweisung, die Sie dann in Ihrem Namen rausgeben. Ich bin ja formell nicht mit der Sache befaßt. Fertig?"

  Der Hauptmann kramte einen Formularblock aus einer Schublade.

  "Die Empfangsdienste aller hauptstädtischen Hochschulen und Institute sind angewiesen, strenge Eingangskontrollen durchzuführen. Nur Personen, die an der betreffenden Institution eingeschrieben sind, ist Zutritt zu gewähren. Alle anderen Personen sind abzuweisen, insbesondere gilt das für Studierende anderer Lehranstalten. Unbewachte Nebeneingänge sind bis auf weiteres zu schließen. Peking, den 16.April 1989."

 

Achtes Kapitel

                                                                  16.April, abends

     Das Pekinger Universitätsviertel befindet sich in der nordwestlichen Vorstadt, auf halbem Wege zwischen dem Zentrum und dem Sommerpalast, den die letzte Dynastie weit vor die Tore der Stadt verlegt hatte. Die meisten ausländischen Touristengruppen, die den Sommerpalast besichtigen, werden auf dem Hin- oder Rückweg zur Abfütterung in das Freundschaftshotel gebracht, das im Widerspruch zu seinem Namen nicht bloß ein Hotel ist, sondern eine gewaltige Wohnanlage mit Dutzenden von Häusern ist, Anfang der Fünfziger Jahre mit russischer Kapitalhilfe als Wohnghetto für russische Ausbilder im chinesischen Palaststil mit geschwungenen grün glasierten Ziegeldächern errichtet.

   Dieses Freundschaftshotel markiert den Beginn des Universitätsviertels. Zwar hat man, wenn man das Freundschaftshotel erreicht, schon die Erste Fremdsprachenuniversität passiert, aber richtig los geht es erst ein paar hundert Meter nördlich, wo sich die Volksuniversität befindet, an die sich das chinesische Silicon Valley anschließt, das Zentrum der auf privater Basis entstandenen Computer-Industrie, gefolgt von der Peking Universität und der Technischen Universität. Zwischen Technischer und Peking Uni gibt es mehrere Buchhandlungen und ein privates Restaurant, dessen Name "Zum alten Sommerpalast" daran erinnert, daß ein an dieser Stelle im europäischen Barockstil erbauter Palast im Jahre 1845 von britischen und französischen Invasions-Truppen zerstört wurde. Die Mandschu-Kaiser überließen die Ruinen dieses Palastes dem Verfall und bauten einen weiter westlich gelegenen Park zur neuen, bis 1911 genutzten Sommerresidenz aus.

  In der früh einbrechenden Dunkelheit des Aprilabends warteten Winterkirsche und der kleine Ma vor dem westlichen Haupttor der Peking Universität auf die zu einer Aktionskonferenz eingeladenen Vertreter der anderen Universitäten, die man angesichts der verschärften Kontrollen nicht auf dem Campus empfangen, sondern in die Gaststätte "Zum alten Sommerpalast" umleiten wollte. Zu ihrem Erstaunen kamen sogar Aktivisten aus Hochschulen, die sie selber gar nicht aufgesucht hatten, ein Beweis dafür, daß sie mit ihrer Initiative tatsächlich einen Nerv getroffen hatten.

 

Neuntes Kapitel 

                                             17.April, vormittags

  Der Vizepräsident beugte sich, auf seinen Stock gestützt, über die Schulter seines wissenschaftlichen Assistenten vor und schaute mit einer ihn selbst überraschenden Fasziniertheit auf die chinesischen Schriftzeichen, die der Assistent auf dem Bildschirm seiner Computer-Anlage eingab. Sie waren im Begriff, die reaktionärsten Wandzeitungen, die in den letzten Tagen an der Peking Universität aufgetaucht waren, stichwortartig in eine Datenbank einzugeben. Die Unterlagen dazu hatten ihnen Gesinnungsgenossen aus dem Pekinger Stadtkomitee zukommen lassen.

  "Hierzu habe ich keinen Verfasser," beklagte sich der Assistent, "ich muß die Rubrik leer lassen."

  Auf dem Bildschirm stand: "Vierzig Jahre kommunistischer Herrschaft haben der Nation nichts gebracht als Armut, Hunger und Verfolgung."

  "Der wahre Urheber dieser Schmiererei," sinnierte der Vizepräsident, "ist nicht der Kindskopf, der dieses Papier beschmutzt hat. Er plappert nur nach, was er von anderen gehört hat. Wer diese anderen sind, das will ich sehen."

  "Ich könnte einen Suchlauf machen und die Begriffe Kommunismus und Armut vorgeben."

  "Wie lange dauert das?" fragte der Vizepräsident.

  "Höchstens eine Minute." Der Assistent drückte auf verschiedene Tasten. Eine Reihe für den Vizepräsidenten unverständlicher Ausdrücke kam in wechselnder Folge auf den Bildschirm. Dann blieb die Schrift wie eingefroren stehen.

  "Hier haben wir einen großen Fisch," erläuterte der Assistent. Der Herr Su, Dozent an der Akademie für Rundfunkwesen. Ein Reportageschreiber und Filmemacher."

  "Unser ganz besonderer Freund. Autor der Fernsehserie 'Der gelbe Fluß". Der Schützling des gegenwärtigen Generalsekretärs. Haben wir auch ein Zitat?"

  "Hier," erklärte der Assistent und rollte den Text auf dem Bildschirm ein paar Zeilen höher. "Macht die Augen auf und schaut euch den schlechten Platz unseres Volkes auf dieser Erde an! 1960 entsprach Chinas Bruttosozialprodukt dem von Japan, aber 1985 machte es nur noch ein Fünftel des japanischen aus. Wir meinen immer, wir seien noch im Fortschritt begriffen, und wir nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, daß der Fortschritt bei den anderen im Vergleich zu uns viel schneller ist. Wenn sich diese Differenz entsprechend der jetzigen Rate weiterentwickelt, dann werden wir in fünfzig bis sechzig Jahren Verhältnisse haben wie zur Zeit der Opiumkriege, als die Fremden moderne Gewehre und moderne Kanonen besaßen und die Chinesen ihnen mit großen Messern und langen Lanzen entgegentraten."

  "Volksverhetzung!" rief der Vizepräsident. "Lange Messer!" Er lief mit stampfenden Schritten auf und ab. "Atomwaffen und Raketen sind unsere Zähne. Unsere Wirtschaft ist am Überschäumen und wächst exponential, so lange die Führung geschlossen bleibt. Das haben Japan und die USA nicht zu bieten. Wir werden uns angewöhnen, mit einer Stimme zu denken. Zwischenrufe nicht mehr zulassen."

  Die Gestalt des Vizepräsidenten straffte sich. Er dachte an Wu Sung, den Tigertöter, der seiner eigenen Schwägerin das Herz aus dem Leibe geschnitten hatte, weil sie durch und durch verkommen war. So handelte ein Held.

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