Andreas Donath: Die Brandung von Sentosa - Kriminalroman        

 

1. KAPITEL

Als ich direkt von der Uni weg einen Job als Wirtschafts-Psychologe bei einer Agentur in Hamburg bekam, war ich so abgebrannt, daß ich nicht einmal Kaution und Maklergebühr für ein Möbliert-Apartment aufbringen konnte. Auf der Suche nach einer Übergangslösung entdeckte ich gleich hinter dem Hauptbahnhof, zwischen Steindamm und Schauspielhaus, die Pension "Einhorn", die Zimmer stunden- und tageweise vermietete.

Das "Einhorn" war ein stark renovierungsbedürftiges Etablissement in einem unerschütterlichen Altbau. Der Wirt erwies sich als älterer Mann mit Stirnglatze und kräftigen Augenbrauen, der Rollkragenpulli und Samtjacket trug. Er war so kleinwüchsig, daß es fast wie ein Defekt wirkte.

"Kann man bei Ihnen auch ein Zimmer für einen ganzen Monat bekommen?" fragte ich schüchtern, unsicher ob ich mich in dieses Milieu hineintrauen sollte. Aber ich war im Augenblick so mittellos, daß ich keine andere Wahl hatte.

"Sie haben Glück," erwiderte er, "ich kann Ihnen ein Angebot machen. Zum Ersten ist ein Zimmer frei geworden, das ich monatlich vermiete. Hat allerdings nur Dusche mit kaltem Wasser."

"Das macht mir nichts. Ich bin abgehärtet."

Er zeigte mir das Zimmer. Der bisherige Mieter war schon am Vortag ausgezogen. Der Raum war größer als ich erwartet hatte. Das Doppelfenster mit seinen mehrschichtig lackierten Holzrahmen ging auf eine Art Lichtschacht hinaus, deshalb war es im Zimmer auch bei Tageslicht so dunkel, wie in einer Gefängnis-Zelle. Aber wann gab es im norddeutschen Winter schon Tageslicht?

"Keine Küchengerüche," beruhigte mich der Wirt.

Das Zimmer enthielt ein Doppelbett mit einem altmodischen Nachttisch und einer einteiligen, dicken Matratze, einen Besucherlehnstuhl, Schrank und Kommode und einen Abstelltisch mit den Fußspuren von Gläsern. Ein gedrechselter Mantelständer in der Ecke.

Ich trug mein Gepäck Stück für Stück in mein Zimmer und setzte mich auf den Besucherstuhl, um genau zu planen, wie ich meine Sachen auf Schrank und Kommode verteilte. Als ich mit Auspacken fertig war, hatte ich das Gefühl, ein Zuhause gewonnen zu haben.

Das Pensionszimmer war eine gute Wahl. Durch die Innenlage zum Lichtschacht war es angenehm ruhig. An den Wochenenden konnte ich lange schlafen. Der Lichtschacht hieß nur so, brachte aber kein Licht. Ich mußte zum Glück nur ein paar Schritte tun, um mein vollverglastes Arbeitszimmer im Bürohochhaus auf der andren Seite des Bahnhofs zu erreichen. In einem solchen Geschäftshaus war immer etwas los. Niemand fand es ungewöhnlich, wenn ich mich dort auch am Wochenende aufhielt.                                                                

Natürlich genierte ich mich, in einer Absteige zu wohnen. Niemand durfte es wissen. Ich vermied auch streng, irgend etwas vom Tagesbetrieb mitzubekommen. Wer weiß, was für Typen da aufkreuzten. Aber es war praktisch. Von meinem Schreibtisch bis zur Pension mußte ich sechs Minuten laufen - das Warten auf den Lift nicht eingerechnet. Das sparte Fahrtkosten.

Der kurze Weg hatte nur einen Nachteil. Man wechselte zu schnell seine vier Wände. Ich kam gar nicht dazu, mich im frischen Westwind richtig auszulüften. Deshalb griff ich zu allerlei Tricks, um den Heimweg zu verlängern. Ich machte einen Abstecher durch das Erdgeschoß des Kaufhauses, ich studierte die Börsenkurse im Aushangkasten der Bank, ich drängte mich in das Gewühl des Bahnhofs und rechnete nach, welcher Zug die längste Verspätung hatte. Und dann entdeckte ich den Kaiserhof.

Der Kaiserhof war ein Hotel, das seine besten Tage vor dem Ersten Weltkrieg erlebt hatte, nie richtig renoviert worden war und jetzt Zimmer für zwanzig Mark vermietete, aber sein plüschiges Ambiente im Publikumsbereich noch gut im Schuß hielt. Eine riesige Lobby erstreckte sich von der Eingangs-Drehtür bis zur Rezeption ganz hinten. Bequeme Sessel luden ein, Cocktails oder Kaffee zu bestellen. Ich fühlte mich verführt, mich hier niederzulassen und Zukunftsfantasien nachzuhängen.

Auf der Suche nach einem freien Platz berührte ich mit meinem bereits geöffneten Mantel ein Tischchen an dem eine alleinsitzende junge Frau Kaffee trank. Der Saum meines Mantels blieb an ihrer Tischkante hängen, und als ich ihn anhob, riß er ihre Tasse um. Die braune Flüssigkeit ergoß sich über das Brokat-Tischtuch. Sie sprang erschrocken auf und stieß einen Schrei aus.

Sie trug ein dunkelblaues Wollkostüm mit goldenen Knöpfen. Wenn ich den Kaffee darauf gespritzt hatte, mußte ich ihr die chemische Reinigung bezahlen, falls die überhaupt noch half, und ein Taxi nach Hause. Sie hatte kurzes dunkelblondes Haar und ein rundliches Gesicht mit einem keck angesetzten Mund. Ich stellte mir vor, daß Püppchen ein guter Kosename für sie sein könnte. Aber im Augenblick war mir beklommen zumute.

"Entschuldigung," stotterte ich hilflos.

Ein Kellner trat an den Tisch und hob das nasse Tischtuch an den vier Ecken in die Höhe, ohne das Kaffeekännchen umzuwerfen.

"Ich bringe Ihnen einen neuen Kaffee" bot er an.

"Auf meine Rechnung," sagte ich schnell.

"Für Sie auch einen?" wollte er wissen. Ohne eine Antwort abzuwarten, trug er das zusammengebündelte Tischtuch geschickt fort.

"Da drüben ist die Garderobe-Ablage," wies mich die junge Frau an.

"Entschuldigung," wiederholte ich.

Sie strich mit ihren Händen über ihren ganzen Körper. Es war eine anmutige Geste, die mir gefiel. Ihr Kostüm war trocken geblieben.

Der Kellner wischte den Tisch ab und breitete ein neues Brokattuch aus.

"Das ist noch einmal gutgegangen," sagte das Püppchen. "Ich habe Sie hier noch nie gesehen."

"Ich bin erst seit ein paar Wochen in Hamburg," erwiderte ich.

Der Kellner balancierte ein Silbertablett auf der linken Hand und stellte zwei Tassen und zwei weiße Kännchen auf den Tisch. Dazu Zucker, Milch und einen Metallständer mit bebilderten Speiseeis-Angeboten.

Das Püppchen setzte sich wieder und lud mich mit einer Handbewegung ein, ihr Gesellschaft zu leisten. Sie schien mir nicht böse zu sein. Meine Hände zitterten, und ich hielt die Kaffeetasse ganz fest, während ich umrührte.

"Verraten Sie mir," sagte sie, "was Sie in Hamburg machen."

"Ich arbeite hier. In meiner Branche kann man in Hamburg doppelt so viel verdienen wie in München."

Ich erwähne nicht gerne, daß ich Psychologe bin. Dann glauben die Leute immer, ich könnte mit Röntgenblick ihre Defekte erkennen, oder sie haben das Vorurteil, daß einer schon ein wenig verrückt sein muß, um überhaupt Psychologie zu studieren.

"Darf ich einmal raten, was Sie tun?" fragte ich, den Spieß umdrehend. "Sie sind berufstätig, und Sie haben jetzt Feierabend."

"So weit richtig. Raten Sie bitte weiter."

"So wie Sie angezogen sind, sitzen Sie entweder an der Rezeption einer großen Firma oder im Mittleren Management."

"Entscheiden Sie sich. Welches von beiden?"

Eine Empfangsdame mußte ziemlich schlagfertig reden können. Das würde passen. Aber ich wollte sie nicht enttäuschen.

"Ich stelle mir vor, Sie haben das Zeug zur Managerin."

"Schön wäre es. Ich bin Controller."

Ihre Aussage überraschte mich. Unter einem Controller stellte ich mir eine Art Finanzdirektor vor. Aber diese etwas naiv aussehende junge Frau wirkte auf mich wie jemand, der das Kopfrechnen nicht erfunden hatte.

Sie zog eine blaugrüne Visitenkarte aus ihrer Handtasche. Es war eine Geschäftskarte der Firma Hansa Marine, auf der ich zum ersten Mal ihren Namen Susanne Hallstein und ihre Telefondurchwahl las.

"Müßte ich den Namen ihrer Firma kennen, wenn ich bereits länger in Hamburg wäre?"

"Ich glaube schon. Wir sind Schiffsausrüster. Unser Spezialgebiet sind Segelyachten und das Versorgen von Containerschiffen."

"Sie sehen nicht wie eine Seglerin aus, mit Ihrer zarten Haut."

"Hah nein. Ich bin eine Landratte."

"Aber Ihre Firma ist auf Schiffe spezialisiert."

"Wir sind ein Traditionsbetrieb. Bei uns ordern alle, von den größten Containerfrachtern bis hin zu den Segelschulschiffen der Bundesmarine."

"Zu wem gehört die Firma?"

"Familienbetrieb."

Mehr gab sie nicht von sich. Eine Pause trat ein. Wir tranken unseren Kaffee aus.

"Ich stelle fest, daß ich Hunger habe," sagte ich. "Haben Sie Lust mir beim Abendessen Gesellschaft zu leisten? Ganz in der Nähe gibt es einen stilechten Italiener."

"Ist es schon so spät?" Sie hob ihre goldene Armbanduhr vors Gesicht.

"Da Mario" war ein kleines Ein-Raum-Restaurant, das in einem früheren Ladenlokal untergebracht war, sehr schmal aber unendlich tief. Der Besitzer und seine Mitarbeiter waren alles Italiener. Kein algerischer Kellner, kein vietnamesischer Koch. Man bekam hier die beste und preiswerteste Pizza weit und breit. Die meisten Gäste waren südländische Facharbeiter, auch mit Kindern, die überall herumwuselten. Deutsche sah man wenig. Ich war gerne hier, auch wenn ich mir nur eine Pizza Margherita oder Spaghetti Bolognese leisten konnte. In der Agentur wurde ich als Süddeutscher von meinen Hamburger Kollegen wie ein Ausländer behandelt, dem nicht zu trauen ist. Unter Italienern war ich Mensch, durfte es sein.

"Hallo Signor Marco!" rief Mario, kaum daß ich den Isoliervorhang hinter der Eingangstür geöffnet hatte, der die Wärme im Raum hielt. "Hier ist ein Tisch."

Als er Frau Hallstein erkannte, zog er sein rundliches Gesicht in gewinnende Charmeurs-Falten.

 "Willkommen Signorina." Diensteifrig rückte er einen Stuhl für sie zurecht und half ihr aus dem Mantel.

"Sie sind hier bekannt," wunderte sich Susanne. "Ich dachte, Sie sind erst kurz in Hamburg."

"Dies ist mein Stammlokal. Das Essen ist einmalig."

"Sie werden es nicht bereuen, Signorina," bestätigte Mario. "Weißwein?"

"Nicht zu süß!" verlangte mein Gast.

Mario brachte einen Tonkrug mit zwei Gläsern und zwei Speisekarten.

"Was empfehlen Sie heute?" fragte ich ihn.

"Ich habe frischen Salbei vom Markt geholt. Probieren Sie Saltimbocca."

Die Zubereitung dauerte nicht lange.

"Kann man das essen?" fragte Susanne skeptisch, das dicke, rauhe Salbeiblatt betrachtend.

"Das ist die Hauptsache. Es ist sogar eine Heilpflanze. Immer zusammen mit Fleisch und Schinken."

Sie legte die Stirn in Falten, als sie hineinbiß, machte dann aber ein zufriedenes Gesicht.

"Besser als ich hoffte," gestand sie.

"Was glauben Sie, weshalb die Deutschen seit Jahrhunderten nach Italien pilgern? Heinrich der Löwe, Goethe... Die Italiener verstehen zu leben."

"In Hamburg ißt man zu Hause," erklärte sie. "Das ist Tradition hier." Dabei verdiente sie als Controller wahrscheinlich genug, um sich Restaurantbesuche leisten zu können.

Das Essen war so gut, daß wir es schweigend genossen.

"In Ihrem Betrieb arbeiten Sie gerne, habe ich den Eindruck," brachte ich sie auf das vorhin abgebrochene Thema. "Zu wem gehört die Firma?"

"Familienbetrieb. Zu bestimmen hat nur einer. Das ist der Seniorchef, der alte Hein Hansen. Es gibt aber zwei, von denen er sich um den Finger wickeln läßt. Das sind seine beiden Enkelinnen, Alkestis und Ismene."

"Das klingt wie eine griechische Tragödie."

"Es sind die Namen erfolgreicher Segelyachten, die man den Mädchen in die Wiege gelegt hat. Trotzdem ist es eine Tragödie. Der Alte ist vollkommen verrückt mit seinen Großtöchtern."

Erst so zurückhaltend, schien sie inzwischen Vertrauen zu mir gefunden zu haben. Ich scheute mich nicht, sie zu fragen: "Sie erzählen so überzeugt vom alten Hansen und seinen Großtöchtern. Haben die Mädchen keinen Vater?"

"Ach der. Der junge Hansen. Der ist dauernd auf Segelregatten unterwegs. Von Vancouver nach Patagonien, Admirals Cup und so weiter. Ein wildes Leben."

"Wie alt ist der alte Hansen?"

"Fünfundsiebzig, aber noch zäh wie eine Stahlfeder."

"Kennen Sie die Mädchen näher? Wie sind sie?"

"Anfang bis Mitte zwanzig. Ziemlich verdorben. Mit Ismene versteh ich mich gut. Ich habe ihr meinen Priority-Zugang zu SAP aufgeschrieben, damit ich ihr besser erklären kann, wie die Geschäfte laufen."

"Seid ihr so groß, daß ihr SAP braucht?"

"Jede Menge Umsatz. Ismene interessiert sich für alles. Ich schätze, sie wird die Nachfolgerin des Alten, obwohl er glaubt, daß er es noch ewig macht."

"Und die andere Enkelin?"

 "Bildhübsch und frech wie Nachbars Lumpi. Warum fragen Sie? An die kommen Sie nicht ran."

 Etwas näher gekommen wäre ich lieber meinem jetzigen Gegenüber, aber ihre Körpersprache signalisierte nicht das geringste Interesse.

"Was ist Ihr Arbeitsgebiet?" fragte sie mich sachlich interessiert.

"Firmen-Marketing."

"Wozu braucht man das?"

"Man betreibt Firmen-Marketing, damit der Name der Firma für den Verkaufserfolg wichtiger wird als der Name eines Markenartikels. Bogner mit seiner Skimode ist ein Beispiel für gutes Firmen-Marketing, Aldi ein schlechtes."

"Wieso?"

"Aldi setzt Annoncen in die Tagesblätter, in denen er ankündigt, daß grüne Bohnen diese Woche billiger sind. Niemand geht zu Aldi, um grüne Bohnen zu kaufen. Viele sparsame Reiche kaufen dort alles, was man für den Haushalt braucht."

Ein Aufleuchten ihrer Augen verriet mir, daß sie sich bei diesem Thema nicht langweilte. Also setzte ich fort: "Wichtig wäre, daß allen Kunden der Weg zum nächsten Aldi so klar wie möglich beschrieben wird. Straßenskizze, Parkplatz ja/nein, U-Bahn-Haltestelle wo. Das machen sie nicht, weit sie ein Self-Made-Management haben, das professionelle Hilfe ablehnt."

"Aldi ist ein Familienunternehmen. Alle Familienunternehmen haben ähnliche Probleme. Unser Chef delegiert auch zu wenig."

"Das ist eine Frage der Persönlichkeit, nicht der Betriebsform. Habt ihr in eurer Firma Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit und Werbung?"

"Das brauchen wir nicht. Wir inserieren hauptsächlich in der Segler-Fachpresse, und sie berichten ständig über uns im Zusammenhang mit den großen Regatten, an denen wir teilnehmen."

"Also ist der Segel-Sportler Hansen euer Public-Relations-Mann."

"Wenn Sie so wollen." Kleine Querfalten auf ihrer Stirn verrieten mir, daß sie darüber nicht sprechen mochte.

Mario brachte uns mit der Rechnung zwei kleine Gläser mit dunkelgelbem italienischem Likör. Frau Hallstein stürzte ihrs mit einem Schluck herunter und machte ein entsetztes Gesicht. Ich nippte an meinem und verstand es.

"Ich habe bei mir einen zwölf Jahre alten Whisky. Es ist gleich um die Ecke." Es war noch nicht spät.

"Ein andermal. Heute muß ich dringend heim."

"Sind Sie verheiratet?" fragte ich bestürzt.

"Seh' ich so aus? Meine Mutter hat es nicht gerne, wenn sie nicht weiß, wo ich bin, und ich habe keine Lust, ihr Rechenschaft abzulegen. Nächste Woche hier um die gleiche Zeit. Wär das recht?"

Sie wollte mit der S-Bahn heimfahren, weil es weit war, und ich begleitete sie auf den Bahnsteig. Dort war es dunkel und zugig und roch nach verbranntem Eisen, obwohl Eisen gar nicht brennen kann. Sie hatte keine Handschuhe eingesteckt und ließ mich ihre Finger zwischen meinen Händen wärmen, bis der Zug einfuhr. Ich hatte einen Menschen gefunden, der mich ernst nahm. Der erste in diesem Winter. Das kühle Hamburg wurde gleich etwas annehmbarer.

 

2. KAPITEL

Als ich am Dienstag früher als sonst ins Einhorn heimkam, saß in der Gaststube außer dem alten Wirt nur eine aparte Schönheit, die einem Branntwein zusprach. Die Stimmung im Raum war einsilbig.

"Ein neuer Gast, wie ich sehe," sprach die Frau mich an. Sie hatte ein schmales Gesicht mit sehr dunklen Augen und fast schwarzes, schulterlanges Haar, das leicht gewellt war und frisch aufgebürstet wirkte.

"Ich heiße Hellman. Ich wohne hier. Ich bin gerade eingezogen."

"Gibt es das überhaupt - hier wohnen?" Sie war auf eine unangenehme Weise aufdringlich, ohne sich selbst richtig einzubringen, als ob sie sich in ihrem Intellekt sicherer zuhause fühlte als in ihrem feingliedrigen Leib. Sie kam mir vor wie ein im Wasser schwimmender Fisch, der einem durch die Hände entgleitet, wenn man ihn anzufassen versucht, weil er so glatt ist.

Obwohl ich ausgehungert war nach Kontakten mit Menschen - wie neulich mit Susanne Hallstein - fühlte ich mich zu ihr nicht hingezogen.

 "Wir sind ein absolut seriöser Beherbergungsbetrieb," knurrte der Wirt. "Haben Sie das nicht bemerkt, meine Dame?"

"Das Einhorn soll also Ihr richtiges Zuhause werden?" fragte sie mich, ohne auf den Zwischenruf einzugehen.

"Ja."

"Das finde ich aufregend. Sie bekommen bestimmt alles mit, was hier so läuft."

"Das Zimmer liegt ganz hinten," mischte sich der Wirt ein. "Absolut ruhig."

"Wieso sind Sie allein hier?" fragte ich sie.

"Mein Chef ist schon wieder weg, immer in Eile."

"Haben Sie kein Zuhause?"

"Da werden mir die Ohren zugequatscht. Ein Monatszimmer im Einhorn wäre mir lieber. Zeigen Sie mir Ihrs, damit ich den Unterschied kennenlerne?"

"Das ist Privatbereich," warf der Wirt ein. Er war ein trockener, humorvoller Mann, der auf Ordnung hielt und mich in sein Herz geschlossen zu haben schien.

"Was wollen Sie überhaupt? Mein Chef hat doch schon für unser Zimmer bezahlt."

Worauf wollte sie hinaus? Vermutlich nicht auf das in dieser Pension Naheliegendste, das war abgehakt, aber auch nicht darauf, mich für das Elend der Welt schuldig zu sprechen. Also was? Obwohl sie - wie sie andeutete - mit ihrem Chef hier gewesen war, wirkte sie nicht ausgeglichen. Plötzlich interessierte mich ihr Problem.

"Sie hatten drei Chantree, sechs Emmer," präsentierte  ihr der Wirt die Rechnung.

"Ich bin gleich wieder da."

"Dann machen wir eine neue Rechnung auf."

Sie bezahlte penibel genau.

"Nur drei Chantree?" fragte ich den Wirt leise.

"Und die Laus auf der Milz," flüsterte der.

Obwohl es nur drei Schnäpse waren, schwankte sie etwas auf dem Flur. Ich legte einen Arm um ihre Taille, ohne damit einen Anspruch anzumelden. Sie lehnte sich unverbindlich gegen mich.

"Sind Sie regelmäßig hier?" fragte ich.

"Einmal die Woche."

"Sie sind also Stammgast im Einhorn."

"Das kann man wohl sagen."

Sie wies auf eine Zimmertür. "Hier war ich mit dem Chef. Ich wußte gar nicht, daß es hier Privatzimmer gibt."

"Man kommt wohl schwer dran. Warum wollen Sie es sehen?"

"Ich will wissen, ob man sich dort anders fühlt."

"Anders als?"

"Ich muß es sehen."

"Hier sind wir." Ich schloß auf und machte die indirekte Beleuchtung an.

Sie blickte sich forschend um, begutachtete die Gläser auf der Kommode, das Bett, die Fotomontagen, die ich bereits angebracht hatte.

"Das ist doch ein richtiges Zimmer und keine Absteige. Was machen Sie beruflich? Werbefotos?"

"Im breitesten Sinne."

"Ich arbeite auch in einer seriösen Dienststelle. Und dann, bei Dienstschluß, tauche ich hier ab."

Sie setzte sich auf mein Bett und zog die Schuhe aus.

"Entschuldige, die drücken. Ich bin die Chantal."

Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie mir Avancen machen wollte.

"Was kann ich für Sie tun?" fragte ich zurückhaltend.

"Mir sagen, daß ich ein normaler Mensch bin, mit einem normalen Beruf, einem normalen Liebesbedürfnis und einem normalen Wunsch, Karriere zu machen."

"Das sind Sie," sagte ich ohne zu überlegen.

"Können Sie verstehen, weshalb ich mich hierher verlaufe?"

"Sie kommen regelmäßig hierher. Warum fragen Sie sich das heute?"

"Weil es mir lästig wird."

"Wie alt ist Ihr Chef?"

"Siebenundfünfzig".

"Warum treffen Sie sich mit ihm? Erpreßt er Sie? Lieben Sie ihn?"

"Weder noch. Am Anfang war ich geschmeichelt, weil er ein wichtiger Mann ist, und er hält große Stücke auf mich."

"Bei Ihrem Altersunterschied kein Wunder."

"Nein. Er findet mich wirklich gut. Und er könnte viel für mich tun, wenn ich ihn nicht vor den Kopf stoße."

"Hat er eine so einflußreiche Position?"

"Ich denke schon. Er ist Senatsdirektor."

"Wieso kriecht so ein hohes Tier in diese Absteige?"

"Weil wir hier unsichtbar sind."

"Das gibt es nicht."

"Nenn es Schutzengel. Angeblich soll es wirklich passiert sein, daß sich ein Skandalfotograf mit seiner Nikon hier neben den Eingang plazierte. Er lauerte noch keine zwölf Minuten auf Beute, da hielt eine Polizeistreife auf dem Motorrad neben ihm. Die jungen Beamten fragten ihn höflich nach seinen Papieren. Er bürstete sie von oben ab. Als er wieder zu sich kam, lag er mit Prellungen und Knochenbrüchen im Gefängniskrankenhaus, eine Anzeige wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt neben sich. Ist das nicht ein sonderbarer Zufall?"

"Hat Ihr Senatsdirektor schon viel für Sie getan?"

"Er hat mir die nächste Abteilungsleiterstelle versprochen, die frei wird."

"Haben Sie das schriftlich?"

"Nein."

"Wie lange kann es noch dauern?"

"Halbes Jahr."

"Also noch sechsundzwanzig Besuche im Einhorn."

"Das schaff ich nicht."

"Wie alt sind Sie?" fragte ich sie.

"Sechsundzwanzig."

"Ich auch. Kann ich wirklich nichts für Sie tun?"

"Es war schon viel, daß Sie mir erlaubt haben, mich mal richtig auszusprechen. Jetzt fühle ich mich wieder wie ein Mensch, und nicht wie, wie..."

"Wie eine Karrieristin!" unterbrach ich sie schnell.

"Ja, das trifft es," lächelte sie gequält.

"Wollen wir mal zusammen essen gehen?" schlug ich vor. Sie war ein Mensch, der durch seine Überspanntheit den Psychologen in mir anzog, mehr als den Mann.

"Wenn Sie Zeit haben. Ich schreibe Ihnen meine Telefonnummer auf. Das ist im Dienst. Zu Hause rufen Sie besser nicht an."

Zwischen uns tat sich ein Schweigen der Verlegenheit auf. Daher bot ich ihr an: "Soll ich Sie bringen?"

"Bis zum Taxistand," erwiderte sie.

Wir gelangten ungesehen ins Treppenhaus.

"Das war mein letzter Besuch in dieser Absteige," erklärte sie.

"Wollen Sie auf den Abteilungsleiter verzichten? Lassen Sie uns das noch mal beim Essen diskutieren."

Der Taxiplatz war gleich an der Ecke. Ich öffnete die hintere Tür. Sie glitt auf den Sitz.

"Finger weg!" rief ich und warf die Tür zu.

In der Gaststube saß jetzt ein neues Pärchen. Ich trank mein Bier, kam aber nicht dazu, mich mit dem Wirt über Chantal zu unterhalten. Sie hatte mich stärker beeindruckt als ich es mir im ersten Augenblick eingestanden hatte. Sie hatte etwas von mir erwartet, aber es war nicht zur Sprache gekommen. Ich war kein guter Psychologe. Sollte ich sie darin bestärken, ihren Senatsdirektor aufzugeben? Und dann?

 

3. KAPITEL

In meiner Arbeit - die erste als Festangestellter - lief alles glatt. Die Tätigkeit lag mir. Ich hatte eine andere Art die Dinge zu sehen als die alteingesessenen Hamburger. Das führte mitunter zu schnellen Lösungen. Was mich überraschte war, daß ich mich unter meinen witzigen und begabten neuen Kollegen isoliert fühlte. Nicht den Anschluß fand, den man in München mühelos gewann. War es der kühle Norden? War es der Erfolgsdruck im Beruf? Lag es an mir?

Jeden Freitag gab es in der Firma eine sogenannte "große" Konferenz, auf der meistens sehr kontrovers und ergebnislos diskutiert wurde, bis der Chef die Richtlinien formulierte. Diesmal war er nicht anwesend, und seine Sekretärin fragte in die Runde, ob jemand die Abonnementskarten der Firma haben wollte.

"Zu welchem Spiel?" fragten mehrere.

"Händel."

Also die Staatsoper. Nicht das Stadion. Verlegenes Kopfschütteln.

"Niemand?" fragte die Chefsekretärin, eine gepflegte Frau über Vierzig. Sie hieß Lörke, und seit ich ihr erzählt hatte, daß ich einen Lyriker des gleichen Namens gelesen hatte, hielt sie mich für einen gebildeten Menschen, denn sie war mit ihm verwandt.

"Ich gehe gern," hob ich den Arm, "aber ich brauche nur eine Karte."

"Nehmen Sie beide." Lörke schob mir einen Umschlag zu. "Sie finden bestimmt eine Begleiterin."

Mein Wochenende war gerettet.

In der Staatsoper gab es den Xerxes. Ich hatte gehofft, Chantal oder Susanne mitzunehmen, aber sie schienen am Samstag nicht zu arbeiten, denn Chantal nahm das Telefon nicht ab, und beim Püppchen meldete sich jedesmal der Anrufbeantworter von Hansa Marine, auf den ich nicht sprechen wollte. Also zog ich alleine los.

An der Abendkasse warteten ein paar junge Leute auf in letzter Minute freiwerdende Sitze. Die Vorstellung war ausverkauft, weil es ein Gastspiel aus München war.

"Ich habe noch einen Platz frei," sagte ich zu den Wartenden.

"Was soll er kosten?" fragte ein Mann meines Alters.

"Nichts. Meine Freundin hat mich versetzt."

"Nehmen Sie mich," sagte eine junge Frau in einem wattierten Baumwollmantel. Sie sah gut aus, aber etwas ärmlich. Vor ihr mußte ich mich wegen meines bescheidenen Outfits nicht genieren. Sie hatte ein norddeutsches Gesicht, lang aber nicht schmal, mit kräftigen Lippen und wilden blonden Augenbrauen. Sie erklärte mir, daß die Mäntel in der Garderobe nach Platznummern abgegeben wurden.

"Wo sind wir? Was? Erstes Parkett Mitte, Reihe drei? Sie müssen Beziehungen haben. Die Plätze kommen normalerweise gar nicht in den Verkauf."

Sie war anscheinend Musikstudentin. Während sich der Zuschauerraum füllte, erklärte sie mir die Handlung der Oper. Ich konnte ihr nicht ganz folgen.

In der Pause tranken wir im Foyer ein stilles Mineralwasser. "Bloß keinen Sekt," hatte sie gewarnt. Sie erklärte mir noch einmal, wer auf der Bühne zu wem in welcher Beziehung stand. Mir kam das alles läppisch vor.

"Dieser Xerxes war einer der fürchterlichsten Tyrannen der Weltgeschichte. Er hat Zehntausende von Kriegsgefangenen ermordet. Wann sehen wir endlich, wie ihn das gerechte Strafgericht trifft?"

"In dieser Oper nicht. Für die Herrscher der Barockzeit waren die Taten des Xerxes ganz normaler Regierungsalltag. Sie waren aus dem gleichen Holz geschnitzt wie er. Die Weltgeschichte ist eine einzige Anhäufung von Greueltaten. Eine der ärgsten Gaunerinnen der Barockzeit war Englands Queen Elizabeth. Sie schickte Piratenschiffe über die Weltmeere, um den geregelten Handel zu ruinieren und England unrechtmäßig mit gestohlenen Waren zu bereichern. Sie war tausendmal schlimmer als Klaus Störtebeker."

"Sie war ein Regierungsoberhaupt." Ich fand den Angriff unangemessen.

"Du bist einseitig, wenn du Xerxes ablehnst, aber die Queen gelten läßt."

"Sie hat Shakespeare gefördert."

"So gut wie gar nicht. Sie hat Tausende von Matrosen aus aller Herren Länder auf den Meeresgrund geschickt, um sich persönlich zu bereichern. Hamburger Firmen erlitten schwere Verluste. Dafür haben Hanseaten ein langes Gedächtnis."

Es klingelte zum Pausenende.

"Sind Sie jetzt bereit, den Darsteller des Xerxes singen zu hören, ohne daß sich Ihnen die Nackenhaare sträuben?"

"Ich glaube."

"Sie müssen einen großen Sprung tun, von der Weltbühne ins Privatleben. Wichtig ist nicht, wer die Personen sind, sondern was sie empfinden."

Wir nahmen wieder unsere Plätze ein. Obwohl ich nicht alles verstand, stimmte die Wärme der Musik mich heiter. Ich war fast ein wenig enttäuscht, daß die Oper nach dreieinhalb Stunden zu Ende war, obwohl ich steife Beine bekommen hatte.

Als wir unsere Mäntel abholten, fragte ich sie, ob ich sie noch ein Stück begleiten könnte. Ich hätte sie gerne wieder getroffen, traute mich aber nicht, das offen anzusprechen, aus Angst einen Korb zu erhalten, da wir eine so unterschiedliche Weltsicht hatten. Immerhin, Tyrannen waren mir als Thema angenehmer als Tonarten.

"Ich wohne ganz in der Nähe. Es ist das Einfachste zu Fuß zu gehen."

Es waren wenig Leute unterwegs, und man konnte sich gut unterhalten.

"Die Musik hat mir gefallen," sagte ich, um Konversation zu machen. "Ich fand nur die Beschränkung der Handlung auf Liebe und Eifersucht etwas abwechslungsarm."

"Das ist die Welt der Oper. In der Oper geht es immer um Liebe und Eifersucht, selbst in einer Menschenrechtsoper wie Beethovens "Fidelio", weil Liebe und Eifersucht die stärksten Gefühle sind, die der Mensch kennt."

"Ist die Liebe in der Oper nicht nur eine Wahnvorstellung? Eine Illusion? Ein Gang durch den Zauberwald, an dessen Ende sich die Liebe wie Schaum auf den Wellen auflöst?"

"Das ist das Thema vom Mozarts Oper Cosi fan tutte. Sie zeigt, daß Liebe Illusion und Selbstbetrug ist, und trotzdem das stärkste Gefühl der Welt. Ich könnte immer weinen, wenn zu Beginn des Finales die angeblich heimkehrenden Offiziere eintreten und singen: Tam tatara tatam."

Sie blieb stehen. "Hier wohne ich."

"In einem Bürohaus?"

"Hier kann ich ungestört üben. Wollen Sie noch auf einen Kaffee raufkommen?"

"Ich weiß nicht. Es ist spät."

"Morgen ist Sonntag."

Ich war hochgestimmt durch das Erlebnis der Aufführung, und ich war zu allem bereit, aber ich hatte Angst, daß sie der Typ von Frau war, mit der man nicht bloß eine Beziehung sondern gleich eine Beziehungskiste aufmachte.

"Wie wäre es, wenn ich Sie nächstens zum Mittagessen einlade?"

"Klingt annehmbar." In ihrer Stimme lag ein Unterton von Enttäuschung. Sie schrieb mir im Licht der Flurlampe ihre Adresse, ihre Telefonnummer und ihren Namen auf. Sie hieß May.

"Danke für die Karte," sagte sie. Dabei hob sie den Kopf an. Im Licht der Straßenbeleuchtung war ihr Gesicht wunderschön. Ich war in Versuchung, ihre Kaffee-Einladung doch noch anzunehmen. Aber ich war kein Nachtmensch, und es war gleich Mitternacht, und ich machte mir Hoffnungen auf Susanne. Ich riß mich los.

 

4. KAPITEL

Zu unserem nächsten Treffen bei Mario brachte mir das Püppchen einen in Cellophan gehüllten Adventskranz mit vier dicken roten Kerzen mit.

"Bestimmt haben Sie nichts Vorweihnachtliches in Ihrer Wohnung."

"Das ist richtig. Woher wissen Sie das?"

"Ich kenne euch alleinlebende Männer."

Sie war älter als ich. Hegte sie mütterliche Gefühle für mich? Oder war ihre Zurückhaltung beim letzten Mal mehr hanseatisches Protokoll gewesen als Desinteresse?

Diesmal nahm sie nach dem Essen - Steak Pizzaiola - die Einladung zu einem Schluck meines zwölfjährigen Whiskys an. Es blieb nicht bei dem einen Schluck. Wir zündeten zwei Kerzen an und gerieten selber in Feuer.

Hinterher waren wir einander wieder etwas fremd und verlegen. Alle beide.

"Ich habe dir doch von unseren jungen Firmen-Erbinnen erzählt."

"Ich erinnere mich. Sie hatten ungewöhnlich Namen. Antigone und Ismene, nicht wahr?

"Halb richtig. Alkestis und Ismene."

"Aber der eigentliche Chef ist ihr Großvater, der alte Hansen, oder?"

"Stell dir vor, was er angestellt hat: Einem Oberleutnant zur See, der sich für Ismene interessierte, hat er eine Ladung Schrot ins Gesicht geschossen. Der Mann ist nur noch U-Boot-tauglich."

"Hat die Kriegsmarine nicht zurückgeschossen?"

"Der Standort Kommandant ist auch Segler."

"Wann ist das passiert?"

"Vor vier, fünf Wochen."

"Ich habe nichts davon gelesen oder gehört."

"Das ist Hamburg. Nicht einmal der SPIEGEL traut sich, das Thema anzufassen. Nur die Versicherung der Bundeswehr, die ihren Sitz in Berlin hat, glaubt nicht, daß alles mit rechten Dingen zuging und verlangt, daß Hansens Haftpflicht-Versicherung zahlt. Aber er weigert sich."

"Natürlich. Das wäre ein Schuldeingeständnis. Erhöht die Versicherungsprämie."

"Jedenfalls, die Berliner haben angekündigt, durch alle Instanzen zu prozessieren. Sie argumentieren, daß es gesetzwidrig ist, geladene Gewehre im Haus aufzubewahren."

"Hat die Polizei das nicht so gesehen?"

"Das weiß ich nicht. Anscheinend nicht."

Sie kuschelte sich an mich.

"Du bist gut informiert."

"Firmenklatsch ist die schönste Beschäftigung der Welt."

Ich war anderer Meinung, aber behielt sie für mich.   Die zwei Adventskerzen brannten immer noch und warfen einen rötlich goldenen Schimmer über ihre Haut.

"Jetzt, wo der Winter kommt," begann ich einen neuen Gesprächsfaden, "da müssen bei euch doch ruhige Tage eintreten."

"Hast du eine Ahnung." Sie wälzte sich halb auf mich, um mit den Fingern auf meiner Brust zu malen. "Die Bundesmarine zum Beispiel, die hat einen Jahresetat von soundsoviel Millionen. Wenn sie das nicht alles ausgeben, wird es nicht etwa auf das nächste Jahr übertragen, sondern das Geld verfällt ersatzlos und wird an den Finanzminister zurückgegeben, der damit die Löcher im Haushalt stopft."

"Das wußte ich gar nicht."

"Im Dezember greifen deshalb alle zum Rechenbrett und stellen fest, wieviel Millionen zu wenig sie ausgegeben haben. Jetzt ist Matthäi am letzten, denn die Gelder müssen am 31. von ihren Konten abgeflossen sein. Also ruft der Zahlmeister der Gorch Fock uns an und sagt: Ich habe noch soundsoviel. Was könnt ihr uns dafür noch dieses Jahr Sinnvolles liefern? Jetzt müssen wir rotieren."

Ich war überrascht, wie bruchlos sie zwischen dem Reich der Sinne und der Zahlenwelt hin und her schalten konnte.

Ein kleiner Stachel der Enttäuschung regte sich in meiner Brust. Unser erstes Zusammensein hatte ich mir etwas weniger in Firmeninformationen eingebettet vorgestellt. War ich auch eine "Nummer" für sie? Nein. Wohl eher ein Spiel-Gefährte.

     Das Doppelfenster stand einen kleinen Spalt offen, da sich die gußeiserne Zentralheizung nicht herunterdrehen ließ, und mein Lichtschacht übertrug das Läuten der Kirchturmglocke von Sankt Georg wie ein Schallkanal.

 "Wie spät ist es?" fuhr Susanne auf.

"Drei."

"Das kann nicht sein."

"Dreiviertel zwölf."

"Viel zu spät. Hilfst du mir, ein Taxi zu finden?"

Ein kleiner Nachtfalter flatterte in die noch brennende Kerzenflamme und stürzte ab, um reglos auf der Seite liegen zu bleiben. Susanne bemerkte es nicht, weil sie gerade ihren Pulli über den Kopf zog. Ich war ihr heute beglückend nahegekommen, viel näher als erwartet, aber der Drang, mir die Flügel zu versengen, war dabei nicht in mir erwacht.

 

5. KAPITEL

Es war Montag, und ich hatte völlig vergessen mich um Chantals Problem zu kümmern. Schlechten Gewissens rief ich sie an. Sie schien auf meinen Anruf gewartet zu haben und nahm meine Einladung zum Abendessen im Kaiserhof ohne zu zögern an.

 Der kürzeste Weg zum Kaiserhof führte durch den Bahnhof. Wir kamen fast gleichzeitig an. Ich orientierte mich gerade, wo das Restaurant war, als Chantal mir an der Treppe nach oben zuwinkte. Wir fanden einen Tisch mit weich gepolsterten Eßstühlen, der keine direkten Nachbarn hatte.

"Das hier ist ein Geheimtip," sagte ich.

"Im Gegenteil, es ist absolut out. Das "Vier Jahreszeiten" und das "Atlantic" sind in. Hier gibt es manchmal Premierenfeiern. Das Schaupielhaus ist nebenan, und das hier ist das Höchste, was sich die nach Tarif bezahlten Mimen leisten können."

"Mit gefällt es hier."

Der Kellner kam und überreichte uns zwei aufgeschlagene Speisekarten.

"Kein Wild," sagte Chantal schnell. "Wiener Schnitzel mit Bratkartoffeln, geht das?"

"Bei uns geht alles."

"Ich nehme das gleiche," sagte ich.

Als der Kellner mit der Getränkebestellung gegangen war, sagte ich zu Chantal:

"Du siehst heute viel zufriedener aus als letztes Mal."

"Warte nur bis morgen."

"Ich denke es gibt kein morgen. "

Ihre Finger zerknitterten die Serviette, ohne daß es ihr bewußt wurde.

"Heute früh hat er mir rote Rosen geschenkt und mir gesagt, er freue sich auf morgen. Da haben wir den schwarzen Peter."

"Mit anderen Worten, du bist hin und her gerissen."

"Beantworte mir eine Frage," sie legte die Fingerspitzen auf mein Handgelenk. "Hast du dir ein wirklich wichtiges Ziel in deinem Leben gesetzt?"

"Ich möchte ein paar gute Freunde gewinnen und behalten, für mein ganzes Leben."

"Auch Freundinnen? Im Plural?"

"Wenn es sich ergibt."

"Warum gleich mehr als eine? Die Monogamie ist der Grundstein unserer Gesellschaft."

"Die Zweierbeziehung begünstigt Besitzansprüche. Die Abwehr von Besitzansprüchen bedeutet Kampf. Für solche Kämpfe fehlt mir der Gusto."

"Du willst es dir bequem machen."

"Die Kräfte auf das Wesentliche konzentrieren."

"Was ist für dich das Wesentliche?"

"Der Beruf. Dort findet der Fortschritt der Menschheit statt. Nicht im Ehebett."

"Was kannst du dazu beitragen?" fragte sie herablassend.

"Ich habe eine Vision. Ich möchte das Bewußtsein vom Wesen der Arbeit verändern. Arbeit nicht als eine käufliche Leistung, sondern als Aktion zur Selbstentfaltung."

"Unter den Arbeitsbedingungen, die jetzt bei uns herrschen?"

"Und die so bleiben werden, wenn wir uns ihrer Herrschaft unterwerfen und uns von ihnen seelisch verkrüppeln lassen. Es ist eine ungeheure Verschwendung von Lebenskraft, wenn ein Mensch täglich zur Arbeit geht, ohne sich darauf zu freuen. Wir müssen dahin kommen, daß die Menschen das Unbehagen in der Arbeit aufgeben und sich einen Rechtsanspruch auf Arbeit wünschen."

Chantal sah mich mitleidig an. Bevor sie etwas sagen konnte, wurde das Essen gebracht. Die Schnitzel auf angewärmten Tellern, die Bratkartoffeln in einer Silberschüssel mit Deckel.

"Ich habe drei Sardellenstückchen und fünf Kapern," verkündete Chantal.

"Bei mir steht es zwei zu sechs."

"Jetzt weiß ich wenigstens, wie du tickst. Keine Ehe, Arbeit als Sinn des Lebens. Laß es dir schmecken."

"Dir auch guten Appetit. Was sind deine Lebensziele?"

"Nach dem Essen. Das Schnitzel ist zu gut."

Eine viertel Stunde später schob sie den Teller von sich.

"Was ich mir im Leben am meisten wünsche, ist Anerkennung."

"Was tust dafür?"

"Mein Bestes."

"Glaubst du, daß du wenn du Abteilungsleiterin wirst, auch von allen anerkannt wirst?"

"Natürlich nicht. Es gibt so viele Neider auf der Welt."

"In deiner jetzigen Position hast du keine Feinde?"

"Nein. Ich bin sehr gut."

"Also regnet es rote Rosen. Warum willst du befördert werden?"

"Weil von den anderen, die in Frage kämen, keiner auch nur annähernd so qualifiziert ist, wie ich. Das wäre eine Katastrophe für den Senat."

"Du hast bestimmt eine Vorstellung, um was für eine Abteilung es sich handelt?"

"Darüber darf ich nichts sagen."

"In welchem Ressort - oder sagt man Ministerium?"

"Beim Senator für Justiz. Verwaltung."

"Wenn du befördert wirst - wie sehen deine Einfluß-Möglichkeiten aus? Dürft ihr genehmigen, verbieten? Habt ihr Klienten mit einem heißen Draht zum Oberbürgermeister, der dir das Genick brechen kann?"

"Hör auf, hör auf. Als ich mich mit dir verabredete, hatte ich ein klares Problem. Jetzt sind es zehn unklare."

Die Essensreste wurden abgeräumt - es waren nur ein paar Bratkartoffeln übrig geblieben. Einen Nachtisch wollten wir nicht, aber Cognac, der uns in großen, am Tisch angewärmten Schwenkern dargereicht wurde.

"Wie wäre es, wenn wir das Gespräch ein andermal fortsetzen?" fragte Chantal. "Ich muß mir das alles durch den Kopf gehen lassen."

"Das versteh ich," stimmte ich zu.

Es war zehn nach zehn, als uns die Rechnung gebracht wurde. Chantal bestand darauf, ihre Hälfte zu übernehmen, obwohl der Betrag nicht der Rede wert war.

Ich brachte sie zum Taxi und hielt ihr die Wagentür auf. Sie ließ sie sich auf den Rücksitz fallen und zog die Tür von innen zu. Ich blickte den verblassenden Rücklichtern des Taxis nach.

Jetzt hatte ich schon zu drei erstaunlichen jungen Frauen eine erweiterbare Beziehung gewonnen, aber noch nicht zu einem einzigen Mann. Woran lag das? Alles was ich mit Kollegen geteilt hatte, waren ein paar kurze Helle in einer Souterrainwirtschaft, begleitet von Litaneien, wie schwierig die Arbeit in der guten alten Zeit gewesen sei. Ich schätzte Männerfreundschaften, aber nicht solche.

 Konnte es sein, daß ich als skandinavischer Typ - dank der Schwedischen Landsknechte unter meinen Vorfahren - bei den Hanseatinnen hier oben im hellen Norden besser ankam als bei den Gnomen im Alpengebiet?

 

6. KAPITEL

Ein paar Tage später kam ich früher als sonst ins Einhorn zurück. Ich hatte mit nichts gerechnet, als ich an der Gaststube anklopfte, aber ich wurde vom Wirt wie ein verlorener Sohn empfangen.

In einer Ecke des Gastraums saß ein vielleicht zwanzigjähriges Mädchen, das laut schluchzte. Eine junge Frau, vermutlich eine Freundin des Mädchens, kniete neben ihr.

"Das ist unser Doktor," stellte der Wirt mich vor, "er wird Ihnen sagen was Sie tun müssen."

Ich verzichtete darauf richtigzustellen, daß ich keinen Doktor-Titel besaß und setzte mich gegenüber der Weinenden an den Tisch.

"Hi!" sagte ich, "Ich bin Markus. Ich bin Spezialist für hoffnungslose Fälle."

Das Mädchen hob den Kopf. Trotz der rotgeweinten Augen  sah ich, daß sie eine außergewöhnliche Schönheit war, mit leicht gewelltem hellblondem Haar, einer schmalen guten Nase und einem vollen Kinn, das mich an die Trainerin in "Top Gun" erinnerte. Ihr Gesicht war naß, und die Augen voll langsam nachquellender Tränen.

"Vielen Dank," sagte sie stockend und schluchzend, "ich brauche niemanden, mir fehlt nichts, mir muß niemand helfen."

"Ich stelle mir vor," sagte ich, "Sie haben gerade einen großen Verlust erlitten." Ich faßte nach der Hand ihrer Freundin, die meine Finger zustimmend drückte.

"Ist Ihr Vater gestorben?" fragte ich.

"Der doch nicht," rief sie geradezu belustigt, "den kenne ich ja kaum."

"Ihre Frau Mutter?" setzte ich die Aufzählung fort.

"Die habe ich nie gesehen," schluchzte sie.

"Dann sind Sie ein armes Waisenkind."

"Mein Freund ist der einzige Mensch, den ich hatte, und der will nicht mehr."

"Seit wann wissen Sie das?"

"Seit eben."

"Hat er Ihnen das hier eröffnet?"

"Im Zimmer natürlich," ergänzte die Freundin.

"Waren Sie dabei?" fragte ich sie.

"Für was halten Sie mich?" fauchte sie. "Ich wollte sie nur abholen."

Die Weinende fiel ihr ins Wort: "Dieser Hund, dieser Schuft, dieser schlechte Mensch, ich könnte ihn umbringen."

"Wenn Sie solche Pläne haben," sagte ich mit gedämpfter Stimme, "sollten wir das nicht in aller Öffentlichkeit besprechen. Kommen Sie, wir gehen auf meine Bude. Da können wir besser über alles reden."

"Gute Idee," stimmte die Freundin zu. Sie reichte der Verstörten die Hand zum Aufstehen, und weil sie etwas schwankte, hielt ich sie von der anderen Seite fest. Der Wirt nickte mir erleichtert zu.

"Wie heißt du?" fragte ich, während wir aus der Wirtstube auf den Korridor traten.

"Cis."

"Cis?"

"Ja, Cis," bestätigte die Freundin, "Cis, wie die Musiknote."

"Ein schöner Name," kommentierte ich.

"Ich bin die Martina," stellte sich die andere vor. Sie hatte kurzgeschopftes schwarzes Haar, ein breites Gesicht, breite Schultern und wesentlich kürzere Beine, genau der Typ von Frau, den eine strahlende Schönheit sich als Begleiterin wählt.

Cis schluchzte immer noch. Sie war vollkommen hysterisch aber zugleich eine starke Persönlichkeit, denn sie stürzte sich in ihren Kummer, wie ein Fallschirmspringer in seine Flugseide.

Als ich mein Zimmer aufschloß, rief Martina erstaunt: "Das sieht manierlich aus."

"Das ist mein Zuhause."

Ich schleppte die Weinende ins Badezimmer und wusch ihr das Gesicht mit einem kalten Waschlappen.

"Huh," machte sie erschrocken. Dann schluchzte sie in verständlichen Worten: "Mein Freund hat mit mir Schluß gemacht, weil er ein schrecklicher Feigling ist. Dabei liebe ich ihn, und ich mache alles für ihn."

Ich plazierte sie auf den Besucher-Lehnstuhl und hockte mich vor sie nieder.

Ihre Füße steckten in eleganten Lederschuhen, wie man sie häufiger in Schaufenstern von Luxusläden als an lebenden Füßen sieht.

"Schöne Schuhe," bewunderte ich sie.

"Daran darf man nicht sparen," brachte Cis zusammenhängend heraus.

Ich nahm ihre linke Hand in meine Linke und streifte den seidengefütterten Ärmel ihrer Wolljacke hoch, über die makellos blanke und völlig narbenfreie Ellenbogenbeuge hinaus.

"Sind Sie verrückt?" fuhr sie mich an. "Was soll das?"

"Wir sind im Sankt-Georgs-Viertel. Man muß hier auf alles gefaßt sein. Es hätte sein können, daß du auf Entzug bist."

"Wir sind Sportlerinnen," erklärte Martina.

"Weißt du, was passiert ist?" fragte ich sie.

"Cis war mit ihrem Freund hier. Ich bin gekommen, um sie abzuholen. Als sie aus dem Zimmer rauskam, war sie schon in diesem Zustand."

"Der Freund, mit dem sie hier war?"

"Hat sich verdrückt."

"Aus heiterem Himmel?" fragte ich Cis.

"Das ist es ja," weinte sie. "Urplötzlich bekam er einen Rappel und schrie, er macht es nicht mehr mit, er ist nicht lebensmüde, es gäbe noch andere, mit uns sei es aus für alle Zeiten. Er zog sich an und ging weg."

"Da siehst du was für ein Typ er ist," kommentierte Martina, "ich versteh nur nicht, daß Cis so reagiert."

"Ich finde, daß sie völlig normal reagiert."

Cis war still geworden und hörte zu.

"Das nennst du normal?" ereiferte sich Martina.

"Völlig normal. Liebe ist das stärkste Gefühl, daß der Mensch kennt, und Liebesverlust das größte Unglück, das einen treffen kann."

Cis begann wieder zu weinen.

"Bist du Psychologe oder so was?" fragte Martina herausfordernd.

"Eher so was."

"Ist ja toll," sagte Martina geringschätzig.

"Was hast du gegen mich?" griff ich sie frontal an.

"Du bist doch selber noch ein grüner Junge," erwiderte sie. "Wieso bildest du dir ein, anderen helfen zu können?"

"Ich lasse dir den Vortritt. Ich habe sie nicht ins Einhorn gelockt."

"Das spielt doch keine Rolle," lenkte sie ein.

"Nein. Es hätte auch auf der Queen Mary passieren können. Dort hätte man wahrscheinlich einen Hubschrauber angefunkt und sie an Land in die Psychiatrie gebracht oder in eine Gummizelle gesperrt."

"Das kannst du mit ihr nicht machen."

"Willst du sie in diesem Zustand sich selbst überlassen?"

"Du bringst mich zur Verzweiflung."

"Du willst für nichts die Verantwortung übernehmen."

"Ich habe nichts mit dieser Sache zu tun. Ich sollte sie nur abholen."

Ich setzte mich neben Cis und berührte ihren rechten Fuß.

"Wenn Sie sich solche Schuhe leisten können," fragte ich, "warum laufen Sie auf ihnen ins Einhorn? Hat keiner von euch eine Wohnung?"

"Er ist nicht gut genug für die Familie," erläuterte Martina.

"Stimmt nicht, er ist Landesmeister über zweihundert Meter."

"Für ihre Familie," bemerkte Martina, "kommt nur ein Jungunternehmer in Frage, am besten mit Smoking und Fliege."

"Der paßt gar nicht zu ihr," urteilte ich, wie aus einem Anflug von Eifersucht.

"Sie folgt ja auch der Stimme ihres Herzens, deshalb treffen sie sich hier. Das vermeidet Ärger mit Zuhause."

"Das Abtauchen ins Einhorn," behauptete ich, "hat es aber nicht gebracht, wie ich sehe."

"Weil er ein Hasenfuß ist," klagte Cis

Ich stand auf und legte die Hände von hinten auf ihre Schultern. Sie waren total verspannt.

"Wie wäre es, wenn ich Ihre Schultern massiere?"

"Verstehen Sie was davon?"

"Ich habe es gelernt." In Wirklichkeit hatte ich nur einen Schnellkursus besucht, aber gleich begriffen, worauf es ankam. "Legen sie sich auf den Bauch!"

Sie ließ sich auf dem Bett nieder und probierte, ob sie die Arme nach unten oder oben halten sollte. Ich setzte mich auf die Bettkante und berührte ihren Nacken. Sie fühlte sich angenehm an. Behutsam bearbeitete ich ihre Muskeln.

"Mhm," machte sie.

"Macht er das gut?" fragte Martina.

"Ja."

Als ich bei den Schultern ankam, massierte ich durch den Stoff hindurch.

"Nicht so," protestierte Cis. "Auf der Haut ist es wirkungsvoller. Soll ich die Jacke ausziehen?" Sie setzte sich auf, ohne meine Antwort abzuwarten. Ich blickte weg, bis sie sich wieder ausgestreckt hatte. Sie war oben herum mit einem teuer aussehenden blaugrünen Büstenhalter bekleidet. Eine ungewöhnliche Farbe für Unterwäsche, aber ein wunderbare Kontrast zu ihrer gebräunten Haut.

"Ich glaube, das könnt ihr ohne mich," erklärte Martina. "Ich warte so lange in der Gaststube."

Sie warf die Tür von außen mit einem Knall ins Schloß.

"Ich habe nur zwei Hände," sagte ich entschuldigend.

"Und wenn es vier wären, würde ich keine an Martina abtreten".

"Warum glauben Sie," kam ich auf den Anlaß unseres Zusammenseins zurück, "daß Ihr Freund ein Feigling ist, der Sie nicht genug liebt?"

"Weil er der größte Angsthase aller Zeiten ist."

"Vor was hat er denn Angst?"

"Das kann ich nicht sagen. Das geht niemanden etwas an."

"Hat er Angst, daß du von ihm schwanger werden könntest?"

"Wie kommst du auf so eine verrückte Idee?"

"Weil es das ist, wovor Männer in einer Beziehung mit einer Frau am meisten Angst haben."

"Nein, nein, nein. Ich bin unfruchtbar. Meine Eierstöcke produzieren keine Eier."

"In deinem Alter?"

"Zwanzig Prozent aller Frauen sind unfruchtbar. Sie wissen es nur nicht und machen sich schreckliche Sorgen, wenn die Regel nicht pünktlich kommt. Nein, mein Freund macht sich schon aus Angst, man könnte uns zusammen sehen, in die Hose. Dabei käme niemand auf die Idee, uns im Einhorn zu suchen."

"Das glaube ich," sagte ich, "drehen Sie sich um, jetzt machen wir die Vorderseite."

"Aber nur ganz oben," schränkte sie ein, während sie sich auf den Rücken wälzte.

An der Oberkante des rechten Körbchens ihres BH befand sich ein Aufnäher mit einem Markennamen, der mir bekannt vorkam.

"Darf ich mal?" fragte ich neugierig und schob einen Finger zwischen die Oberseite ihres Busens und das Körbchen, um die eingestickte Inschrift zu entziffern. Bevor sie protestieren konnte, zog ich  die Hand wieder zurück, weil ich sofort entziffert hatte, was da stand: "Hansa Marine". Das war der gleiche Schriftzug wie auf Susannes Visitenkarte. Und das Papier hatte den gleichen blaugrünen Farbton gehabt, wie der Stoff hier.

"Sie haben sehr schöne Unterwäsche," bemerkte ich. "Bekommt man die im Segler-Fachgeschäft?"

"Die kann man überhaupt nicht kaufen. Das ist eine Spezialserie, die extra für meine Schwester und mich genäht wird."

"Wieso ist dann das Logo von Hansa Marine aufgenäht?"

"Kennst du das? Das war Opas Idee. Damit wir niemals vergessen, woher wir kommen, wohin wir gehen."

"Darf man das einfach, ein fremdes Firmenlogo nehmen?"

"Was heißt fremd? Es gehört uns."

Ich erschrak bis ins Rückenmark. Das verstörte Mädchen vor mir mußte die Millionärsenkelin sein, bei der Susanne als Controller arbeitete. Und ausgerechnet über ihre Existenz hatte mich die erste Frau aufgeklärt, mit der ich in diesem Winter ins Gespräch gekommen war.

"Ich weiß jetzt," stotterte ich, "weshalb dein letzter Freund dich verlassen hat."

"Wie meinst du das?" Sie setzte sich auf und stützte sich dabei mit dem linken Arm ab.

"Ich wundere mich schon die ganze Zeit, warum du dich Cis nennst. Als du sagtest, das Logo gehört euch, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Cis ist eine Koseform für Alkestis. Du bist Alkestis Hansen."

"Das ist mein voller Name. Du nennst dich bestimmt auch Mark oder Markus. Nicht wahr?"

"Was ich sagen will - dein früherer Freund hat wahrscheinlich erfahren, was mit dem Verlobten deiner Schwester passiert ist."

"Unmöglich! Was weißt du davon? Niemand kann etwas wissen. Es war ein Unfall. Ich habe Ferry nichts davon erzählt."

Sie rückte näher heran und legte die Hand auf meine Schulter. Ich blickte ihr in die Augen.

"So etwas spricht sich immer herum," erläuterte ich. "Vertrau mir, ich stehe unter Schweigepflicht. Erzählst du mir, wie es zu dem Unfall gekommen ist?"

"Also, da du es sowieso schon weißt..."  Alkestis warf sich auf den Bauch und stützte den Kopf in beide Hände. "Meine Schwester hat beim Segeln einen Marineoffizier kennengelernt, ein bildhübscher Kerl und ein Graf dazu. Sie gab mächtig an mit ihm. Opa hielt ihn für einen Nichtsnutz und befahl Ismene, ihm die kalte Schulter zu zeigen. Aber sie war störrisch. Es muß wohl so gewesen sein, daß Opa ihn einschüchtern wollte. Soldaten haben ja Respekt vor Waffen. Dabei löste sich versehentlich ein Schuß aus Opas Schrotflinte. Ist das nicht schrecklich?"

"Und dieser Schuß traf den Offizier versehentlich mitten ins Gesicht," ergänzte ich.

"Es kann nur ein Unfall gewesen sein," beharrte Cis.

"Ich verstehe eins nicht," fragte ich. "Wieso mischt euer Großvater sich in Ismenes Privatleben ein? Das ist doch in erster Linie Sache eures Vaters."

"Ach, der. Der ist immer unterwegs mit seiner Jacht rund um den Erdball. Den sehen wir fast nie. Im Augenblick steckt er gerade in Hobart, weißt du, wo das ist?"

"Nicht genau."

"Auf einer Insel zwischen Australien und dem Südpol."

Cis drehte sich wieder auf den Rücken und hob den Kopf auf meine Beine.

Ihre Augen waren klar. Das war ein schöner Erfolg für mich.

"Du bist vernünftig," sagte sie zu mir. "Ich glaube du bist kein Feigling."

"Ich hoffe nicht."

"Massierst du mich noch ein wenig?" Sie schloß die Augen.

"Martina wartet," fiel mir ein.

"Geh vor, sag ihr Bescheid, daß es später wird."

Ich war vollständig angezogen, ich konnte auf den Flur gehen. Martina saß vor einem Glas Weißwein. Ich setzte mich zu ihr.

"Wie geht es ihr?" fragte Martina.

"Alkestis will noch etwas bleiben. Wir sprechen gerade über den Tod und das Sterben. Du sollst nicht warten."

"Alkestis?" Martina hob den Kopf mit einem Ruck. "Sie sagt sonst niemand, daß sie so heißt. Sie geniert sich. Vor dir anscheinend nicht. Paß auf, daß sie gut nach Hause kommt."

Als ich ins Zimmer zurück kam, war das Bett leer, aber Cis' Jacke lag noch auf dem Besucherstuhl. Das Fenster war offen. Mein Herz blieb stehen und machte dann ein paar Extra-Schläge, unter denen es fast zersprang. Das Geräusch der Wasserspülung löste das Rätsel.

In der Psychologie nennt man, was sich nun anbahnte, eine Übertragung. Eine Form der Therapie, die als lebensgefährlich eingestuft wird, weil sie im schlimmsten Fall zum Tod der Patientin führen kann. Sie wird mit Berufsverbot geahndet. Zum Glück war ich kein praktizierender Therapeut. Meine Spezialität war Werbung.

 

7. KAPITEL

Am nächsten Vormittag fand ich auf meinem Büro-Schreibtisch einen Hauspostumschlag, der kommentarlos zwei Opernkarten für morgen enthielt. Ich dachte sofort an May, meine Partnerin aus der Händel-Oper. Diesmal erkundigte ich mich, was gespielt wurde, bevor ich sie anrief. Ich erreichte May erst beim dritten Versuch.

"Was hältst du von Verdis Maskenball?"

"Deshalb rufst du mich an? Das ist eine komplexe Frage. Wollen wir sie auf Sonntag vertagen? Da sehen wir uns sowieso."

"Die Aufführung ist morgen."

"Heißt das, du hast Karten?" Ich konnte mithören, wie sie einen Freudensprung machte.

"Deshalb rufe ich dich an."

"Die gleichen guten Plätze?" fragte sie.

"Wie letztes Mal."

"Du weißt, daß es eine Gala-Aufführung ist, mit internationalen Solisten. Zieh dich entsprechend an."

"Ich freue mich darauf."

"Wir treffen uns vor der Garderobe. Ich komme bestimmt."

Als ich den Hörer ablegte, zweifelte ich an mir selbst. Wie konnte ich noch mit einer anderen Frau ausgehen, nachdem ich Alkestis getroffen hatte? Und warum nicht? Die Begegnung aus Cis hatte aus mir über Nacht einen selbstbewußteren Menschen gemacht. Kein Anlaß, mich von der Welt zurückzuziehen. May war ein anregender Gesprächspartner, jetzt vielleicht noch mehr, da ich nicht mehr auf Partnersuche war und ihren gewagten Thesen unbesorgt Kontra geben konnte.

Was ich im Einhorn mit Alkestis erlebt hatte - ich habe keine Worte dafür. Wer kann schon exakt schildern, was in ihm vorgeht, wenn er einen Menschen tötet? Und wer, wenn er sich einen Menschen erschließt? Diese verrückte Mischung aus schlechtem Gewissen und Begeisterung, aus Erwartung und Enttäuschungs-Angst: Gewitterblitze auf einer Eisscholle. Nein, es war anders. Ich streiche die letzten Zeilen wieder durch. Die alten Meister pflegten an solchen Stellen drei Sternchen in den Text einzufügen. Fontane in "Effi Briest" nicht einmal das. Ich kann das nicht übertreffen.

 Die Staatsoper hatte für den Maskenball internationale Starsolisten engagiert, die ein noch exklusiveres Publikum anlockten als der Händel. Ich kam mir in meinem schwarz gestreiften Anzug, den ich zur Diplomprüfung gekauft hatte, underdressed vor. May trug ein mitternachtsblaues Kostüm, das ihr ein autoritatives Aussehen verlieh. Wir hatten die gleichen Plätze in der dritten Reihe, wie letztes Mal. Als das Licht ausging und die Türen verschlossen wurden, waren links von uns noch drei Plätze frei geblieben. Im letzten Augenblick wurde links noch mal eine Tür geöffnet, und drei Personen drängten sich in die dritte Reihe hinein, als erstes eine blonde Frau in einem tief ausgeschnittenen Abendkleid. Sie blieb neben mir stehen, beugte sich zu mir vor und flüsterte:

"Entschuldigung, welche Sitznummer haben Sie?

Dabei fiel mir der freiliegende Teil ihres Busens mit einer Bewegung entgegen, die mir vertraut vorkam.

Ich nannte ihr meine Sitznummer.

"Dann sind das unsere Plätze." Sie wandte sich zur anderen Seite und half einem steif wirkenden älteren Herrn auf seinem Stuhl neben ihr Platz zu nehmen.

Aufbrausender Beifall begrüßte das Erscheinen des Dirigenten im Orchester. Ein Verliebter sieht überall, woran er denkt. Aber es gab keinen Zweifel, woher ich den Busen meiner Sitznachbarin kannte. Er war von einem blaugrünen Büstenhalter umschlossen gewesen, als ich ihn  das erste Mal sah.

Ich flüsterte ihr zu:

"Kann es sein, daß ich neben Cis Hansen sitze?"

Sie drückte kurz meinen Oberschenkel.

"Habe ich doch richtig gesehen! Markus, wie gut."

Wir hatten beim Auseinandergehen nichts verabredet. Aber ich hatte ununterbrochen an sie gedacht. Angesichts der Kraft zur Hysterie, die ich an ihr beobachtet und hoffentlich auch etwas gedämpft hatte, mußte ich fürchten, daß ich für sie nur ein spontanes Abenteuer war. Eine vorübergehende Übertragung. Trotzdem taumelte ich, wie ein geblendeter Nachtfalter, in meine Begeisterung für sie hinein.

May, die etwas mitbekommen hatte, legte den Mund an mein Ohr. Aber in diesem Augenblick füllte der sonore Orchesterklang der Ouvertüre das ganze Theater, und alle privaten Fragen erloschen.

Ich glaube nicht an Schicksal, Fügung, Vorsehung. Alles ist Chaos und Zufall. Aber auch die Chaos-Theorie konnte nicht erklären, daß wir uns zweimal so kurz hintereinander begegneten. Es war mir peinlich, daß ich May bei mir hatte. Aber das mußte ich durchstehen. Cis war ja auch in Begleitung.

Wenn der Szenen-Appell aufbrauste, warfen Cis und ich uns begeisterte Blicke zu. Ihre Augen strahlten in einem Leuchten, das mir alles sagte, was ich wissen und erhoffen wollte.

In der Pause, als das Licht anging und die Zuschauer stehend auf ihren Plätzen verharrten, um die Solisten zu feiern, konnte ich erkennen, daß der alte Mann neben Cis einen Frack trug. An seiner anderen Seite stand eine junge Frau in einem schwarzen Kleid.

"Die ganze Kernfamilie," raunte Cis, die meinen Blick verfolgt hatte. "Jetzt kannst du zeigen, daß du kein Feigling bist."

May nahm meine Hand, weil sie nach rechts hinausgehen wollte, wo schon Bewegung entstanden war, aber ich signalisierte ihr, daß wir den Hansens nach links folgen wollten. Im Flur war der Rückstau so groß, daß die Hansens vornehm ein paar Schritte zurückgeblieben waren. Ich trat auf die drei zu und sagte zum alten Hansen: "Entschuldigung, Herr Hansen, da wir nebeneinander sitzen und ich Ihre Begleiterin kenne, erlaube ich mir, uns vorzustellen. Das ist Frau May, Herr Hansen." May streckte ihm unbefangen ihre Hand entgegen, die er auch ergriff.

"Ich bin Markus Hellman."

"Freut mich," sagte Hansen und nickte mit dem Kopf, ohne mir die Hand zu geben. Ich steuerte May auf Alkestis zu und sagte:

"Frau May, Frau Alkestis Hansen." Anschließend trat ich selber an Cis heran, legte einen Arm um sie und küßte sie auf die Wange. Sie erwiderte diese Begrüßung ungeniert. May nahm Kurs auf Ismene. Ich stellte vor: "Frau Hansen, Frau May."

"Angenehm," sagte Ismene und reichte May ihre Hand.

"Ich bin Hellmann," stellte ich mich ihr vor. Sie gab mir zögernd eine kühle Hand. Auf mich wirkte Ismene wie eine etwas kleinere und herbere Ausgabe von Alkestis.

"Wir kennen uns nicht," erklärte sie.

"Jetzt schon," sagte ich. Ich wandte mich wieder dem alten Hansen zu. Im kalten Neonlicht des Flurs hatte er ein Gesicht, das an einen Habichtskopf erinnerte. Die Haut glich zerknittertem Pergament. Die Augen waren hart und hellblau.

"Verzeihung," sagte ich zu ihm, "darf ich Ihnen Ihre charmante Begleiterin für einen Augenblick entführen? Wir sehen uns gleich im Foyer."

Ich schob eine Hand unter den Arm von Cis und zog sie zusammen mit May in das enge Gedränge hinein.

"Wieso, was soll das?" rief der alte Hansen uns nach.

"Das war unhöflich," kritisierte May.

"Nein, das hat er gut gemacht," raunte Cis.

"Alkestis ist ein ungewöhnlich schöner Name," sagte May, die sich sofort zwischen Cis und mich drängte. "Es gibt mehrere Opern, die so heißen. Zwei habe ich selber gesehen. Es geht darin um eine Frau, die sich opfert, um das Leben ihres Mannes zu retten."

"Das wäre mir kein Mann wert."

"Im Originaltext des griechischen Dramas, auf dem alle Librettis fußen," erklärte ich, "gibt es eine plausible Begründung. Alkestis möchte lieber tot sein, als weiterhin mit ihrem Mann in einem Bett schlafen."

"Das erfindest du," sagte May.

"Lies es nach. Die Ansprache der Alkestis an ihr Ehebett. Das ist ein Stück Weltliteratur, wie Sein oder Nichtsein."

"Ich weiß nur," sagte Alkestis, "daß meine Eltern mich nach einer Segelyacht benannt haben, die irgend ein Rennen gewonnen hat."

"Eine schöne Vorstellung," sagte May.

"Meine Freunde nennen mich Cis."

"Das finde ich praktisch. Nicht so auffallend."

Im Foyer hielt May ihren Standard-Vortrag, daß man in der Pause keinen Alkohol trinken dürfe, wegen der Aufmerksamkeit, keinen Kaffee und keinen Orangensaft, wegen der Blase, am besten stilles Mineralwasser.

"Holst du uns drei," sagte Cis in ihrem angeborenen Befehlston zu May. "Ich muß Mark etwas erzählen."

Die Lehrerin machte ein erstauntes Gesicht und reihte sich in die Schlange an der Theke ein.

Cis packte mich am Arm. "Du darfst dich nicht wundern, wie Ismene heute aussieht. Wir haben gerade eine schreckliche Nachricht erfahren. Graf Kolmar hat sich das Leben genommen."

"Wieso denn das?"

"Es wurde ihm alles zu viel. Endlose Schönheitsoperationen, der Prozeß, wo er für oder gegen Opa aussagen müßte, und nicht zuletzt, daß Ismene nicht zu ihm gehalten hat. Hast du morgen Nachmittag für mich Zeit? Ich komme um vier. Du bist ihr doch nicht verpflichtet?" Sie richtete den Blick zur Getränketheke, von der May sich jetzt mit drei Gläsern löste.

"Nein."

"Dann komme ich."

"Habe ich etwas verpaßt?" fragte May. Sie stellte die Gläser auf den Tisch.

"Nichts Nacherzählbares. Es ging um gemeinsame Bekannte, und was die so treiben."

"Du hast mich auf eine Idee gebracht mit der Blase," sagte Cis zu May. "Wollen wir schnell gehen, bevor der Ansturm losgeht?" Sie nahm die Lehrerin an der Hand und zog sie mit sich fort.

Der alte Hansen und Ismene steuerten den Tisch mit den drei Gläsern an, hinter dem ich stand. Der Großvater hatte einen Arm um die Hüfte seiner Enkelin gelegt. Er schien mich sofort wiederzuerkennen.

"Wo haben Sie denn die beiden Schönheiten gelassen, die Sie uns so plötzlich entführt haben?"

"Die machen sich noch schöner."

"Ja ja, die weibliche Eitelkeit. Alkestis hat mir nie erzählt daß sie Sie kennt."

"Wir kennen uns noch nicht lange."

"Darf ich erfahren, auf welchem Gebiet Sie beruflich arbeiten?"

"Unternehmensberatung im weitesten Sinne."

"Etwa Consulting? Wissen Sie, was ich von Consulting halte? Die meisten, die sich auf diesen Gebiet tummeln, sind kriminelle Organisationen."

"Wie kommst du auf diese Meinung?" fragte Ismene.

"Unter dem Deckmantel der Beratung spionieren sie Firmengeheimnisse aus, verlangen ein siebenstelliges Honorar und verkaufen, was sie gefunden haben, an die Konkurrenz."

Ich überreichte dem Alten ein noch unbenutztes Glas Wasser.

"Danke. Und wissen Sie, was bei der Beratung herauskommt? Dem Vorstand wird vorgegaukelt, daß er Millionen sparen wird, wenn er Personal abbaut. Was halten Sie davon?"

"Nichts," sagte ich.

"Wieso nicht?"

"Volkswirtschaftlich gesehen, ist erstens jeder entlassene Arbeiter ein in die Zahlungsunfähigkeit getriebener Konsument, und betriebswirtschaftlich ist zweitens eine motivierte Belegschaft das wichtigste Kapital eines Unternehmens."

"Was sagst du dazu, Ismene?" wollte der Großvater wissen.

"Das ist auch meine Meinung."

"Bravo!" sagte der Alte.

In diesem Augenblick kamen Cis und Mai zurück.

"Habt ihr uns vermißt?" Cis hängte sich bei Ihrem Großvater ein.

"Keine Sekunde. Wir haben uns gut unterhalten."

Eine Verlegenheitspause trat ein.

"Wie finden Sie die Aufführung?" wandte sich May höflich an Ismene.

"Stimmlich hervorragend, aber die Sängerin der weiblichen Hauptrolle ist so dick, daß nur ein Verrückter auf Idee kommen könnte, der König wäre ernstlich an ihr interessiert."

"Ja, das ist ein Schönheitsfehler, aber Eifersucht ist eine Form völligen Verrücktseins, und zugleich ist Eifersucht das stärkste Gefühl, das der Mensch kennt."

"Ich dachte, die Liebe," warf Alkestis ein.

"Liebe ist das schönste," dozierte May, kurz eine Hand auf meinen Oberarm legend, "aber Eifersucht ist das machtvollste. Die Liebe trägt immer den Zweifel in sich, liebt er mich, liebt er mich nicht, aber die Eifersucht ist sich ihres zerstörerischen Wahns völlig sicher und bildet sich ein im Recht zu sein, einen anderen Menschen zu töten, wie wir es gleich im letzten Akt sehen werden."

"Das hört sich überzeugend an," mischte der alte Hansen sich ein. "Aber Eifersucht entsteht nicht aus dem Nichts. Brünhilde in der Götterdämmerung ist schmählich betrogen worden."

Alkestis und Ismene warfen sich besorgte Blicke zu.

"Dafür haben wir ja die klassische Oper," fuhr May fort, "damit wir sehen und hören, wozu es führt, wenn ein Mensch angesichts einer durchaus realen Kränkung seine Selbstkontrolle verliert. Brünhilde verbrennt buchstäblich an der Ausführung ihrer Eifersuchtsrache. Das ist ja das Schlimme an der Eifersucht, daß sie nicht nur das Objekt, sondern auch das Subjekt des Gefühls zerstört, den Eifersüchtigen selbst."

"Ich muß doch ein Recht haben," stieß Hansen hervor, "mich zu verteidigen, wenn mir jemand das Liebste, das ich besitze, wegnehmen will."

"Im Grunde nur präventiv. Niemand besitzt einen anderen Menschen. Liebe ist ein Geschenk des Himmels, das der Himmel jederzeit widerrufen kann. Schon Goethe hat uns in der Marienbader Elegie vorgeführt, daß die Alternative zur Liebe der Verzicht ist, die bewußte Entsagung, und nicht die Eifersucht."

"Wieso kannst du so sicher über alles das reden?" fragte Ismene.

"Ich bin Musikpädagogin. Und du?"

"Ich lerne noch. BWL."

"Hast du schon was in Aussicht für später?"

Die Glocke zum Pausenende läutete. Die Frage blieb unbeantwortet.

An der Geraderobe sah man sich wieder, als man die Mäntel in Empfang nahm. Zum Abschied reichte der alte Hansen May die Hand und drückte sie lange. Von mir verabschiedete er sich mit einem kurzen Händedruck. Alkestis küßte May und mich auf die Wange. "Ich freue mich, daß du kein Feigling bist," flüsterte sie dabei. Am liebsten hätte ich sie an mich gerissen und fortgeschleppt. Aber sie wirkte nicht, als ob sie das erwartete. Ismene reichte mir eine kühle Hand. Sie trat auf May zu und nahm sie plötzlich ganz fest in ihre Arme, ihre Wange an Mays Wange reibend. Der Opa hüstelte, und die Hansens entschwanden. May und ich mußten noch auf eine  Chance warten, unsere Mäntel heraus zu bekommen.

"Ich muß morgen früh raus," sagte May, als wir in die kalte Abendluft traten, "aber auf einen Kaffee mußt du noch raufkommen. Ich platze vor Neugier. Was sind das für Typen? Woher kennst du sie?"

"Du hast gesagt, die Sitzplätze, die wir haben, kommen gar nicht in den freien Verkauf. Man muß jemand sein, um dort zu sitzen."

"Oder Lückenbüßer sein, wie du und ich."

"Danach sahen sie nicht aus, mit Frack und Abendkleid."

"Hast du den Frack auch bemerkt? Nicht nur den Ausschnitt?"

"Du sahst großartig aus, in deinem Kostüm."

"Du hast mir immer noch nicht gesagt, was für Leute das sind und woher du sie kennst."

"Du bist doch von hier. Läuten bei dir keine Alarmglocken?"

"Nur wenn ich sehe, wie Alkestis auf dich fliegt."

"Quatsch, das ist normaler Umgangsstil in diesen Kreisen. Du bist doch auch gerade geküßt und abgeknutscht worden."

"Mir ist immer noch etwas schwindlig davon."

"War das dein erster Körperkontakt mit der Hamburger High Society?"

"Wie high sind sie denn?"

"Ganz high. Gleich hinter Beiersdorf und Bucerius."

"Ich habe nicht einmal ihren Namen verstanden."

"Hansen. Das wird dir nichts sagen. Ihnen gehört Hansa Marine."

"Ist das was wert?"

"Einer der größten Hamburger Familienbetriebe. Schiffsausrüster."

"Und ich blöde Kuh habe die eine gefragt, ob sie schon einen Job in Aussicht hat."

"Das hat ihr gerade gefallen. Die sind so snobistisch, daß sie auf keinen Fall bemerkt werden wollen."

"Dann bin ich beruhigt."

"Hast du mit Alkestis noch ein Privatgespräch geführt, als ihr euch zurückzogt?"

"Nein, sie mußte wirklich austreten, und sie machte noch eine spaßige Bemerkung. Sie sagte, sie hätte das Gefühl, daß ihre Blase von Tag zu Tag kleiner wird. Ich sagte, das gäbe es bei zunehmender Schwangerschaft. Sie lachte sich halb kaputt und sagte, sie könnte keine Kinder bekommen, das stünde fest."

Wir waren vor dem abgedunkelten Bürohaus angekommen, in dem May wohnte. Sie sagte:

"Du kommst doch noch auf einen Kaffee rauf?"

Ich war so aufgedreht, daß ich in ihr am liebsten die ganze Nacht von Cis vorgeschwärmt hätte, immerhin hatten die zwei sich gerade kennen gelernt, aber das wollte ich ihr nicht antun.

"Bitte," sagte ich, "laß uns nicht mit dem falschen Fuß auftreten."

"Du willst nicht wegen Alkestis. Seit wann kennst du Sie? Gesteh."

"Nicht lange."

 "Verrenn dich nicht. Das ist nicht unsere Welt. Allein der Schmuck, den sie und ihre Schwester trugen. So viel verdien ich im Jahr nicht. Du auch nicht."

"Ich hatte keine Ahnung, daß Alkestis in die Oper kommt. Ich weiß, daß du Musik liebst. Ich bin immer noch voll von der Musik. Du hast bestimmt recht. Wir reden nächstes Mal über alles."

Ich reichte ihr die Hand, und ich spürte, daß sie ihre Erwartung langsam zurücknahm.

Ich hatte an Ihrem Verhalten gar nicht wahrgenommen, wie wichtig ich für sie geworden war. Bis hin zur Eifersuchtgrenze. Jetzt war es zu spät, das als Erfolg zu bewerten.

 

8. KAPITEL

Als ich am Samstag einkaufen ging, hatte ich, wie in Mahlers "Liedern eines fahrenden Gesellen", ein "glühend Messer" in meiner Brust. Ich war mit Alkestis nur einmal zusammen gewesen. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß es jemals aufhören würde. Sie sah es ähnlich. Das hatte sie mir in der Oper in ihrer Körpersprache bekräftigt. Ich wollte dieses unerwartet über mich hereingebrochene Glück festhalten, so lange ich konnte.

Wenn ich es konnte. Was war ich neben ihr? Ganz tief unten. Mieter in einem Stundenhotel, Opernbesucher auf Freikarten. Berufsanfänger ohne Sparbuch.  Alles das hatte sie letztes Mal nicht wahrgenommen. Sie war in Panik gewesen. Ich hatte sie beruhigt. Und dann hatten wir zusammengefunden, als hätte eine höhere Macht uns zusammengeführt und für einander bestimmt. Aber es gibt keine höhere Macht. Nur Zufälle und Zwänge. Ich hatte Angst.

Womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte, war daß um vier Uhr Alkestis in Begleitung ihrer Schwester Ismene aufkreuzte. Alkestis fiel mir gleich um den Hals, Ismene reichte mir zurückhaltend die Hand.

"Warum treffen wir uns hier?" fragte Ismene ablehnend.

"Weil uns hier niemand vermutet. Ich habe mich mit Ferry immer in dieser Pension getroffen, das habe ich dir doch gesagt."

"Ich habe es mir besser vorgestellt."

Alkestis zog aus einer Einkaufstüte eine dunkelbraun bedruckte Flasche heraus.

"Das hat Vater uns geschickt. Karibischer Rum. Dreißig Jahre alt."

"Das verteilst du so einfach?" Ismene war entsetzt. Offenbar war ich ihr einer solchen Gabe nicht wert.

"Mark ist im Augenblick mein bester Freund," verteidigte sich Cis.

"Er hat die Opernfreundin. Wo steckt sie eigentlich?" fragte Ismene.

"Sie hat ihre eigene Wohnung. Sie war sehr von dir beeindruckt, Ismene."

"Sie ist bestimmt die Richtige für dich. Wir brauchen heißes Wasser, wenn wir Grog machen wollen."

"Ich habe hier keins," gestand ich.

"Dann holst du was aus der Wirtsstube," kommandierte Cis.

Im Besucherraum saßen zwei Frauen bei Chantree, die mich ansahen, als käme ich für sie als Skatpartner in Frage.

"Chef, ich brauche heißes Wasser für Grog," meldete ich mich.

"Wir erfüllen jeden Wunsch." Er goß in eine oben offene Porzellankanne sprudelnd heißes Wasser.

"Was macht das?" fragte ich.

"Ein Glas von dem Rum, den Sie darunter mischen. Nicht vergessen."

"Das wäre auch was für uns," sagte eine der Frauen.

In meinem Zimmer hatten die Schwestern schon drei Gläser herausgesucht und zu gut einem Drittel mit Rum gefüllt.

"Riech mal," sagte Cis, mir ein Glas hinhaltend.

"Mit heißem Wasser riecht er noch stärker," erklärte Ismene. Sie nahm mir die Kanne aus der Hand und füllte die Gläser auf.

Alle drei nickten wir uns erwartungsvoll zu, als wir die Gläser an die Lippen führten.

Das Aroma war nicht nur betörend, der Alkoholgehalt war immer noch fast so stark wie bei unverdünntem Cognac, doch durch die Zuckerrohrsüße schwer einschätzbar.

Alkestis beobachtete meine Reaktion und verkündete: "Das ist achtzigprozentiger."

"Da steckt  die Süße des sonnenverbrannten Zuckerrohrs drin," improvisierte ich, "wahrscheinlich gereift auf den Inseln unter dem Wind."

"Du bist ein Dichter," rief Ismene aus. Sie hatte so schnell getrunken, daß ihr Gesicht rot anlief. Sie hatte sich auf dem Besuchersessel niedergelassen. Cis und ich bemühten uns auf dem Bett um Haltung. Wir hatten am Grog nur genippt, und schon waren die Gläser leer. Cis schenkte aus der Rumflasche nach, Ismene füllte mit heißem Wasser auf.

"Der Rum ist einmalig," lobte ich. "Kann es sein, daß euer Vater euch zu Weihnachten besucht?"

"Das geht nicht," erklärte Ismene, "er muß sich um das Team kümmern und das Boot in Ordnung bringen. Du ahnst gar nicht, wieviel auf der Strecke Neuseeland-Tasmanien in Bruch geht."

"Was erzählst du da für Geschichten," widersprach Cis. "Wir haben Vater seit Jahren nicht mehr gesehen. Immer unterwegs auf den sieben Meeren."

Mir fiel ein, was Püppchen mir über Ismenes Verhältnis zu Zahlen erzählt hatte. Deshalb sagte ich: "Das ist bestimmt kostenaufwendig."

"Du redest schon wie Opa!" fuhr Ismene mich an. "Wir sind nach Stracheys in London der zweitgrößte Jachtausrüster Europas. Wir müssen Präsenz zeigen."

"Dir liegt die Firma am Herzen," sagte ich.

"Sie hat gar kein Herz," sagte Cis, bei der der dreißigjährige Rum zu wirken begann. "Nur Hansa Marine, wo andere ein Herz haben."

"Jedenfalls sitzt mein Herz nicht im Bauch," erwiderte Ismene.

"Ich wollte, du hättest dort etwas sitzen," stichelte Cis.

Die Gläser waren leer, der Alkoholspiegel bei uns allen gestiegen.

"Hol noch heißes Wasser," schlug Ismene vor.

"Ich habe dem Wirt im Austausch ein Gläschen Rum versprochen."

Cis goß ein leeres Glas halb voll und gab es mir mit. Der Wirt schnupperte und geriet ins Schwärmen. "Das ist ein Aroma. Weihnachten und Seeräuberromantik in einem."

Cis hatte schon wieder Rum in die Gläser verteilt. Ich füllte selber die Gläser auf. Als ich Ismene ihrs überreichte, legte ich eine Hand auf ihre Schulter.

"Ich muß dir noch sagen, daß mir die Geschichte mit Graf Kolmar schrecklich leid tut."

Ismene machte eine so unwirsche Bewegung, daß sie etwas Grog verschüttete.

"Er ist selber Schuld. Er hat Opa tödlich beleidigt. Ihn und unsere ganze Familie."

"Das höre ich zum ersten Mal," sagte Cis überrascht.

"Man hängt nicht alles an die große Glocke. Ich habe es mit eigenen Ohren gehört. Er hat Opa vorgeworfen, daß er zu uns, zu dir und mir, ein unnatürliches Verhältnis hat, eins, das die Juristen Blutschande nennen. Weißt du, was das ist?" Die letzte Frage war an mich gerichtet.

"Wenn man nahe Verwandte liebt."

"Falsch. Blutschande ist vollzogener Geschlechtsverkehr unter Verwandten aufsteigender oder absteigender Linie. Wie kommt der Leutnant auf so einen Wahnsinn?"

"Ich schätze aus Eifersucht," erklärte ich.

"Eifersucht auf wen?"

"Auf die Art, wie euer Großvater euch tätschelt. Ich habe selber gesehen, wie er euch gestern, allen beiden, in der Oper die Beine gestreichelt hat."

"Da ist doch nichts dabei. Der Graf muß etwas in die falsche Kehle bekommen haben."

"Ich dachte, er war dein erster," sagte Cis. "Oder gab es vorher einen, von dem ich nichts weiß?"

Ismenes Gesicht lief rot an.

"Ich... er..." Sie stotterte.

"Spuck es schon aus," rief Cis. "Das ist das Natürlichste von der Welt."

"Für dich. Ich... wir..." Und dann sprudelte es aus ihr heraus: "Wenn Viktor nur etwas weniger schüchtern gewesen wäre, wäre er nie auf die Idee gekommen, von Blutschande zu sprechen, und er würde heute noch leben. Was für ein Mißverständnis!"

Sie schluchzte heftig. Die zweite Schwester, bei der ich das erlebte.

Cis umarmte ihre ältere Schwester fürsorglich. "Entschuldige, das ahnte ich nicht. Noch nie in deinem Leben? Das ist schlimm."

"Das Schicksal des Grafen ist schlimm," verbesserte ich."

"Das sage ich ja," bestätigte Cis."."

Ismene schluchzte.

"Eben hast du behauptet," erinnerte ich Ismene, " daß Kolmar selber an seinem Tod schuld ist, weil er euren Großvater grundlos beleidigt hat."

"Das habe ich nie gesagt," widersprach Ismene.

"Doch, das hast du, Issy," bestätigte Cis.

"Du hast mich falsch verstanden. Opa sagt, der Schuß wäre nie losgegangen, wenn Viktor ihm nicht ins Gewehr gegriffen hätte. Das war sein Verhängnis. Sonst nichts."

"Hast du Viktor nicht gefragt, wie er es erlebt hat?"

"Hundertmal. Aber er kann sich nicht erinnern. Er hat keine Ahnung."

"Das gibt es," wußte ich. "Gedächtnisverlust nach einem Schock. Aber die Erinnerung kann nach einer Weile wieder zurückkehren. Das ist jetzt nicht mehr möglich."

"Ich glaube nicht, daß etwas Neues dabei herausgekommen wäre," meinte Ismene.

Ich hatte in meiner Ausbildung etwas anderes gelernt, aber ich scheute mich, es ihr zu sagen.

"Komm," schlug Alkestis vor, "laß uns den Adventskranz anzünden und von schönen Dingen reden." Es war der kleine Kranz mit den dicken roten Kerzen, den Susanne mir geschenkt hatte.

"Heute ist noch nicht der Vierte Advent," korrigierte Ismene, als Cis alle vier Kerzen ansteckte.

"Wir verlegen ihn vor," erklärte Cis. Das liebte ich an ihr. Sie nahm nichts als gegeben hin.

Wir machten es uns auf der Liege bequem, Cis in der Mitte und Ismene auf ihrer anderen Seite. Der Grog war abgekühlt. Wir nahmen ganz kleine Schlucke.

"Was meint ihr," fragte Ismene versonnen, "sind wir als Jachtausrüster in einem wachsenden oder schrumpfenden Geschäft?"

Alkestis reagierte nicht. Ich hatte nicht die geringste Ahnung von diesen Dingen. Aufs Geratewohl sagte ich: "Nordsee ist Mordsee. Die Winter auf dem Wasser sind bitter kalt. Warum fragt ihr euren Vater nicht, ob es lohnend wäre, eine Niederlassung in einem der großen tropischen Segelreviere aufzumachen. Singapur, Tahiti, Neuseeland."

"Wir sehen ihn doch gar nicht."

"Das begreif ich nicht. Cis sagte, ihr habt euch zehn Jahre nicht mehr gesehen. Seine Segel-Wettrennen nehmen doch nicht so viel Zeit ein."

"Zwischendurch macht er Charterfahrten."

"Aber nicht das ganze Jahr. Da stimmt was nicht."

"Das ist ein Familiengeheimnis."

"Sei nicht albern," widersprach Alkestis. "Mark ist ein Freund."

"Dein Freund, nicht meiner."

"Gut, gut, dann klär ich ihn auf." Sie wandte sich mir zu. "Opa und Pappa verstehen sich nicht. Opa hat ihm verboten, sich jemals wieder in Hamburg blicken zu lassen. Weißt du, er ist nicht Opas Sohn, er ist kein Hansen. Mamma ist Opas Tochter. Vater hat den Namen nur angenommen, damit wir ihn auch bekommen. An der Firma ist er nicht beteiligt. Opa hat damals auf einem Ehevertrag bestanden, in dem stand, daß Pappa im Fall des Todes meiner Mutter nichts erben durfte. Sonst stünde er jetzt ganz anders da. Ich glaube, er hat Mamma echt geliebt, weil er das unterschrieben hat."

"Uns hat er auch geliebt," fügte Ismene an. "Ich sehe ihn noch vor mir, wie er auf meiner Bettkante sitzt und mir Geschichten erzählt, vom Meer und den Schiffen, von Klabautermännern und Elmsfeuern."

"Ich erinnere mich nicht daran," sagte Cis enttäuscht.

"Du hast es nur vergessen. Dir hat er auch gute Nacht gesagt. Ich war immer eifersüchtig, weil es so lange dauerte. So klein waren wir damals. Und jetzt mache ich meinen Diplom Betriebswirt. Nächsten Montag überreichen sie uns die Urkunden. In einer Feierstunde in der Aula. Schade, daß Viktor das nicht mitbekommt."

"Du hast ihn sehr geliebt."

"Ja. Er war der einzige in meinem Leben. Liebst du Cis wirklich?"

"Merkst du das nicht?"

"Du mußt vorsichtig sein, daß du keinen Ärger mit Opa bekommst."

"Das scheint leicht zu passieren, wie man an deinem Vater und Graf Kolmar sieht."

"Opa ist schwierig. Aber zu uns ist er gut."

"Vermißt ihr euren Vater nicht?"

"Das ist schon so lange her."

"Warum besucht ihr ihn nicht über Weihnachten?"

"Als ob das so einfach ginge."

"Nach Australien fliegt man in zwanzig Stunden. Ihr müßt es nur wollen. Euer Großvater hat dir gegenüber, Ismene, ein schlechtes Gewissen wegen Graf Kolmar, deshalb wird er nicht nein sagen, wenn du den Weltmarkt beobachten willst."

"Zu Weihnachten? Das wäre ja schon in acht oder zehn Tagen. Unmöglich."

Es tat mir gut, Cis an meiner Seite zu fühlen. Wir berührten uns nur verstohlen, aber es war geradezu explosiv. Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich Ismene motivieren konnte, nach Hause zu gehen, um mit Alkestis allein zu bleiben, aber mir fiel keine Lösung ein. Nicht für heute. Cis wollte ihre Schwester in ihrem Kummer nicht sich selbst überlassen. Und das gefiel mir wieder. Es war auch gut, mit beiden zusammen zu sein. Als wüchse ich in die Familie hinein.

Nach einer Weile setzte Ismene sich auf meine andere Seite. Den Grund erkannte ich schnell. Sie wollte mir direkt an meinem Ohr - und nicht über ihre Schwester hinweg - von den Gedanken erzählen, die sie sich über die Zukunft von Hansa Marine machte. Ich hörte aufmerksam zu. Es war mir wichtig, einbezogen zu sein, aber ich mußte mir Mühe geben, nicht zu verraten, wie gut ich durch Susanne informiert war. Alkestis interessierte sich nicht dafür und drängte bald zum Aufbruch.

"Ich ruf dich morgen an," raunte sie zum Abschied.

9. KAPITEL     

Alkestis machte am Montag keinen Gebrauch von meiner Telefonnummer. Anfangs fuhr ich jedesmal zusammen, wenn der Apparat anschlug, aber dann nahm ich an, daß sie noch eingeschnappt war, weil ich mit ihrer Schwester geschmust hatte, als sie im Bad war.

Dafür bekam ich einen Anruf von May. "Was ich dir immer schon sagen wollte, ich finde es unmöglich, daß ein Mann wie du in einem Pensionszimmer ohne Telefon lebt. Warum ziehst du nicht zu mir in meine Wohnung?"

"Ich schnarche schrecklich."

"Das würde mich nicht stören. Ich fahre zu meiner Mutter nach Hannover."

Ich war nie in ihrer Wohnung gewesen. Daß sie sie mir plötzlich anbot, war ein Schachzug gegen Alkestis.

"Wann fährst du?"

"Heute Mittag."

"So früh schon?" Ich war erleichtert und enttäuscht.

"Ich muß alles für Weihnachten vorbereiten. Sie schafft das nicht allein. Heute beginnen die Schulferien. Hast du keine Eltern, zu denen du fährst?"

"Nein."

"Ich komme Silvester zurück. Wenn du nichts anderes vorhast, feiern wir zusammen. Wenn du zum Bahnhof kommst, gebe ich dir den Schlüssel für meine Bude."

"Ich komme, aber den Schlüssel kann ich nicht annehmen. Es würde mir das Herz brechen, ohne dich in deiner Wohnung."

"Du könntest alle meine Platten hören."

"Und dich vermissen."

Sie stieß ein melodisches Lachen aus und nannte mir Bahnsteig und Abfahrtszeit.

Sie hatte wieder den wattierten Mantel an, in dem ich sie kennengelernt hatte. Neben einem kleinen Koffer trug sie ein Futteral für ein Musikinstrument.

"Ich habe dich nie gefragt, was du spielst."

"Klarinette."

"Ich mag den Klang sehr gern. Vor allem in Cosi fan tutte."

"Das ist dir aufgefallen? Wir müssen uns regelmäßiger sehen, wenn ich zurück bin."

Ich schwieg. Als der Zug einfuhr, drückte sie mir einen Zettel in die Hand.

"Die Telefonnummer meiner Mutter. Für absolute Notfälle."

Ein Abschied am Bahnhof löst auch dann Trennungsschmerz aus, wenn man noch gar nicht richtig zusammen war und es wahrscheinlich nie sein wird. Auf den paar Schritten in mein Büro war mir wehmütig zumute.

Dann drehte sich wieder die Zentrifuge in meinem Kopf, die immer die gleichen zwei Wörter ausstieß: Cis, Alkestis, Cis.

Dienstag morgen hatte ich gerade meinen Schreibtisch aufgeschlossen, als Cis anrief:

"Ich kann es kaum abwarten. Noch zweiunddreißig Stunden. Dann können wir uns sehen."

"Warum kommst du nicht heute abend?"

"Ich kann nicht alles umschmeißen. Wir müssen vorsichtig sein. Hast du was von Ismene gehört?"

"Warum sollte ich? Sie hat nicht einmal meine Nummer."

"Das ist gut. Ich freue mich auf morgen."

An diesem Abend hielt ich mich länger an meinem Schreibtisch auf als nötig, weil ich keine Lust hatte, Chantal im Einhorn zu begegnen.

 

10. KAPITEL

Am nächsten Vormittag wiederholte sich der Anruf von Cis. Jetzt waren es nur noch sieben Stunden. Sie fragte erneut:

"Was hörst du von Ismene?"

"Nichts. Wie kommst du darauf?"

"Sie benimmt sich merkwürdig. Ich erklär es dir nachher."

Obwohl Cis die Stunden gezählt hatte, erschien sie nicht um viertel vor sechs im Einhorn. Auch nicht um sechs oder halb sieben. Bei ihrer Neigung zur Hysterie konnte ich mir vorstellen, daß ein Anfall von Eifersucht auf ihre Schwester sie zurückhielt. Mir wurde die Brust eng.

Um viertel vor sieben hörte ich eilige Schritte auf dem Flur. Als ich die Tür öffnete, stand Cis in einem dunkelroten Ledermantel vor mir. Ich nahm sie in den Arm und küßte sie auf die winterkalten Wangen.

"Es ging nicht früher. Bei uns zu Hause ist die Hölle los. Weißt du, was passiert ist? Ismene hat sich ein Ticket nach Singapur gekauft. Sie fliegt zwei Tage vor Heilig Abend."

"Was macht sie dort?"

"Unseren Vater besuchen. Er kommt extra nach Singapur rüber, um sie dort zu treffen."

Ich half ihr aus dem Mantel.

"Zwei Tage vor Weihnachten, das ist morgen."

"Opa ist außer sich. Das ist kein Weihnachten. Weihnachten ist ein Familienfest. Wenn du deine Schwester nicht umstimmst, sagt Opa zu mir, gibt es überhaupt kein Weihnachten und keine Geschenke. Du kannst dir schon überlegen, bei welcher Freundin du den Heiligen Abend verbringst."

"Warum fliegst du nicht mit nach Singapur?"

"Du tickst wohl nicht richtig. Weißt du, was ich glaube? Du hast das alles ausgelöst, mit der Quatscherei auf deiner Liege hier."

"Du warst dabei. Wir haben uns über euren Vater unterhalten, und ich habe ihr vorgeschlagen, sie solle nach Australien fliegen und ihn besuchen, damit sie mal auf andere Gedanken kommt. Die Sache mit Kolmar hat sie mehr mitgenommen als sie sich anmerken läßt."

"Ich weiß."

"Vielleicht versteht sie sich ja sehr gut mit eurem Vater."

"Nach so langer Zeit?"

"Euer Opa macht es nicht mehr lange. Wen habt ihr dann?"

Sie lehnte sich an mich und fuhr mir mit der Zunge durch die Ohrmuschel.

"Sag ehrlich: Liebst du Ismene?"

"Nein?"

"Du hast ihr den Floh ins Ohr gesetzt, daß sie Pappa besucht."

"Ist das so unnatürlich?"

"Opa will es nicht."

"Müßte euch dein Vater nicht näher stehen als euer Großvater? Glaubst du, daß dein Vater ein Feigling ist?"

"Er hat mir und Issy mal geschrieben, heimlich, daß er uns nichts zu bieten hat als ein Segel voll Wind. Opa könne besser für uns sorgen. Nein, er ist kein Feigling. Issy kann mich ja anrufen, wie es mit Pappa geht, nach so langer Zeit. Vielleicht fliege ich nach. Aber erst nach Weihnachten. Ich kann Opa nicht allein lassen."

"Deine Schwester hat keinen besonderen Grund, auf deinen Großvater Rücksicht zu nehmen. Das mußt du zugeben."

"Es war ein Unfall mit Graf Kolmar."

"Zu dem Unfall wäre es nie gekommen, wenn dein Großvater sich nicht in Ismenes Privatleben eingemischt hätte. Sie ist ein erwachsener Mensch. Du auch."

"Ich mache, was ich will. Das siehst du ja. Hast du dich wirklich nicht in Ismene verliebt?"

"Nur in dich."

"Sag das noch einmal."

"Ich zeige es dir."

"Tu es."

"Läßt du mich noch einmal deinen blaugrünen BH sehen?"

"Wenn es sein muß, aber nur ganz kurz."

 

11. KAPITEL

Ich hatte die Unruhe in den Hansenschen Haushalt gebracht, weil ich Ismene vorgeschlagen hatte, ihren Vater zu besuchen. Deshalb hatte ich mir vorgenommen, ihr am Flughafen Auf Wiedersehen zu sagen. Je nachdem, wer sie begleitete, würde ich mich zurückhalten oder unsichtbar machen.

Es gab nur eine Zubringermaschine für die Nachtflüge von Frankfurt nach Singapur. In der langen Schlange vor den beiden Economy-Class-Schaltern war Ismene nicht. In der Business Class wurde nur ein arabischer Passagier unendlich langsam abgefertigt. Ich wartete, bis er ging.

"Verzeihung," fragte ich, "ist Frau Hansen vielleicht schon in die Lounge gegangen?"

Die Boden-Stewardeß blickte auf eine Liste.

"Frau Hansen hat sich nicht gemeldet. Sind Sie sicher, daß sie überhaupt kommt?"

"Hundertprozentig. Sie fliegt nach Singapur durch."

"Davon steht hier nichts."

"Sie müssen doch ihr Gepäck nach Singapur durchchecken und ihr die Bordkarte Frankfurt-Singapur ausdrucken."

"Mal sehen, ob ich etwas finde. Richtig, sie fliegt nicht mit Lufthansa, deshalb versteckt der Computer die Angaben. Sie ist auf Singapur Airlines gebucht. Das ist der Grund."

"Ich dachte, die Lufthansa agiert hier als Agent für Singapur Airlines."

"Bringen Sie das mal dem Computer bei. Gut daß Sie mir Bescheid sagen, ich wollte Frau Hansens Platz gerade an einen Gast von der Waiting List vergeben."

Ich drehte mich um.

"Da kommt sie ja."

"Ich bin spät," sagte Ismene und schob ihren Koffer auf die Waage. Sie legte das Ticket und ihren Reisepaß auf den Counter. Jetzt erst erkannte sie mich.

"Wie lieb, daß du kommst."

Der Gepäckband-Drucker spuckte einen Papierstreifen mit dem Code SIN FRA aus.

"Hier ist die Bordkarte für Frankfurt, hier für Singapur. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug. Für einen Lounge-Besuch ist leider keine Zeit mehr. Sie müssen noch durch die Sicherheitskontrollen, und wir fangen gerade an zu Boarden."

Ismene sammelte ihre Papiere zusammen und drängte mich in den freien Platz vor der Flugschein-Kontrolle.

"Es hat furchtbaren Ärger gegeben. Opa hat die Haustür mit dem alten Schlüssel verschlossen, von dem wir keine Kopie haben. Ich mußte durch den Garten gehen. Dabei habe ich mir die Schuhe schmutzig gemacht, weil die Erde naß war. Also zurück ins Haus und neue Schuhe geholt. Wenn die Stimmung so bleibt, kannst du damit rechnen, daß Cis dir am Heiligen Abend auf die Bude rückt."

"Sie hat doch Martina."

"Familienstolz." Sie umarmte mich mit heißem Gesicht. "Hoffentlich mache ich alles richtig. Vater freut sich so."

"Gute Reise, frohe Weihnachten unter Palmen."

Sie riß sich los und verschwand im Gewühl hinter der Sperre.

 

12. KAPITEL

Weil der Heilige Abend auf einen Samstag fiel, konnte ich am Vormittag alle Einkäufe tätigen, die ich für die Feiertage brauchte. Zwei große Weihnachtsstollen, Pralinen für unerwarteten Besuch, eine Salami, zwei Flaschen Whisky, Kopfschmerztabletten. Ich war so schwer bepackt, daß ich die Tüten absetzen mußte, um die Pensionstür aufzuschließen. Aus der Gaststube drang der schimpfende Ton einer Frauenstimme an mein Ohr. Die Stimme kam mir vertraut vor, aber nicht in dieser Tonlage. Ich steckte den Kopf hinein.

"Da ist er ja," sagte der Wirt.

Die Person, die von ihrem Stuhl aufsprang, war Susanne, des Püppchen. Ihr gegenüber hatte ich schon seit Tagen ein schlechtes Gewissen, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie den Grund ahnte.

"Kann es sein," fragte sie mit vor Aufregung zitternder Stimme, "daß du mit Nachnamen Hellmann heißt?"

"Ist dir das neu?"

"Du hast dich mir nie vorgestellt."

"Du hast mich in meiner Firma angerufen, ich habe mich mit Hellmann gemeldet."

"Das ist mir nicht aufgefallen. Komm, wir gehen auf dein Zimmer, ich muß mit dir abrechnen."

"Du kannst mir tragen helfen." Ich gab ihr die Tüte mit den Stollen. Den Whisky wollte ich nicht gefährden.

"Heute ist Heilig Abend," sagte sie in einem fast weinenden Ton, "und ihr tut mir das an."

Ich schloß mein Zimmer auf. Sie wartete, bis ich die Tür von innen zugemacht hatte. Dann schrie sie:

"Wie kommst du dazu, Frau Hansen etwas von unserem Verhältnis zu erzählen?"

"Ich habe keiner Frau Hansen auch nur ein Wort von unserer Beziehung verraten."

"Wie kommt es dann, daß sie mich heute morgen zuhause anruft und verlangt, ich soll in die Pension Einhorn hinter dem Hauptbahnhof gehen und Herrn Hellmann etwas ausrichten?"

"Weil du ihre Vertrauensperson bist. Die einzige, die sie im Augenblick hat."

"Und wieso soll ich gerade dir etwas ausrichten? Was hast du mit ihr zu schaffen?"

"Ich arbeite für sie," log ich.

"Das ist das Allerneueste."

"Ja. Seit ein paar Tagen. Ich bin noch nicht dazu gekommen, es dir zu erzählen."

"Das soll ich glauben?" Sie setzte sich aufs Bett.

"Ich habe dir doch erzählt, daß ich die Hansens in der Oper getroffen habe."

"Kann sein."

"Ich habe dir auch erzählt, daß ich mich in der Pause mit dem Alten und Ismene über Wirtschaftsfragen unterhalten habe."

"Was verstehst du denn von Wirtschaft?"

"Ich bin Betriebspsychologe. Mit Diplom."

"Ich dachte, du machst Werbung. Woher weiß Ismene, daß du hier wohnst?"

"Ich habe ihr diese Adresse gegeben, weil ich über die Feiertage im Büro nicht erreichbar bin."

"Im Herausreden bist du Weltmeister."

"Du suchst mit Gewalt etwas, um auf mich wütend zu sein."

"Ich koche vor Wut. Du hast dich nur an mich herangemacht, um an die Hansens zu kommen."

"Kaputte Firmen gibt es genug. Dafür brauche ich dich nicht."

"Wir sind nicht kaputt. Wir haben per zwanzigsten Dezember einen Gewinn von dreißig Millionen vor Steuern."

"Ich meine nicht finanziell. Seelisch ist die Familie ein Schrotthaufen. Du hast mehr Durchblick als alle drei zusammen. Ich wette, daß du hinter den Kulissen Druck machst, wenn du aus dem SAP-Frühwarnsystem siehst, daß etwas aus dem Ruder läuft."

"Das traust du mir zu?"

"Das und noch viel mehr." Ich legte den Arm auf ihre Schulter, um ihren Zorn zu besänftigen.

"Heute ist heilig Abend."

"Nein, Vormittag."

"Ich kann nicht bleiben. Mein Sohn hat Ferien. Willst du nicht wissen, was ich dir von Ismene ausrichten soll? Ich habe extra den weiten Weg gemacht."

"Du hast mir nie erzählt, daß du einen Sohn hast. Wie alt ist er?"

"Er ist schon zwölf."

"Was macht sein Vater?"

"Verschollen auf hoher See." Sie leierte das herunter wie einen tibetanischen Gebetsmühlen-Spruch.

"Er lebt bei dir und deiner Mutter."

"Ja."

"Dann hast du nicht viel Zeit."

"Nein, das sage ich ja. Du hättest mich im Büro anrufen können und mich informieren, daß du jetzt für uns arbeitest. Das wäre fair gewesen unter Lovern."

"Da hast du recht." Jetzt war nicht der Zeitpunkt, klar Schiff zu machen. "Wie heißt dein Sohn?"

"Leon."

"Hast du ein Foto von ihm dabei?"

"Immer."

Sie mußte, wie viele Frauen, lange in ihrer Handtasche suchen. Dann zeigte sie mir das in einer Klarsichthülle steckende Bild. Sie saß auf einem Stuhl und neben ihr stand ein blonder Junge, der fürsorglich seinen Arm um ihre Schulter legte. Mutter und Sohn lächelten einander zu.

"Ein hübscher Junge," sagte ich. "Das wird einmal ein Herzensbrecher."

"Hoffentlich nicht."

Leon hatte ein längliches Gesicht, dessen Ausdruck mir norddeutsch vertraut vorkam, aber keine erkennbare Ähnlichkeit mit dem Engelsgesicht seiner Mutter aufwies.

"Leihst du mir das Bild? Ich laß es bei mir im Labor kopieren. Dann kann ich dich immer an meinem Herzen tragen."

"Ich schenke es dir, weil heute Weihnachten ist."

"Von wo aus hat Ismene dich angerufen?"

"Aus Singapur." Sie zog ihren Mantel über und kramte einen Zettel aus der Tasche. "Hier habe ich alles aufgeschrieben. Du sollst sie im Goodwood Park Hotel anrufen. Das ist die Nummer."

Sie stand auf um zu gehen, setzte sich aber wieder.

"Jetzt wird mir einiges klar. Vor ein paar Tagen kam Ismene zu mir. Sie wollte, daß ich alle wichtigen Finanzdaten über die Firma aus SAP heraussuche, ausdrucke und binden lasse, wie eine Diplomarbeit."

"Wozu braucht sie das?"

"Das ist es ja. Sie behauptete, es solle ein Weihnachtsgeschenk für ihren Vater sein, der sich in der Südsee rumtreibt. Ich hielt das für eine Ausrede. Es sah aus wie ein Verkaufsprospekt. Aber jetzt fliegt sie wirklich hin. Wieso überbringt sie ihrem Vater das Zahlenwerk? Er und der Alte stehen sich wie Hund und Katze. Was vermutest du, was sie damit will?"

"Hast du noch nie von Familienkonflikten gehört? Vor Sonnenuntergang von Gerhart Hauptmann?"

"Nein."

"Immerhin hat der Opa ihren Liebhaber erschossen."

"Das war ein Unfall."

Sie hob den Kopf zum Kuß. "Nächstes Jahr. Ja?"

Sie rannte raus und legte auf dem Flur ein trittsicheres Staccato hin. Ich war nicht einmal dazu gekommen, sie zu fragen, was sie ihrem Sohn zu Weihnachten schenkte.

Das Mittagessen nahm ich aus Bequemlichkeit im Stehen im "Suppentopf" des Hauptbahnhofs ein. Ich inspizierte auch gleich das Bahnpostamt und stellte fest, daß sie einen Telefondienst hatten, der Tag und Nacht besetzt war, auch am Heiligen Abend. Falls Ismenes Vorhersage in Erfüllung ging und Alkestis bei mir aufkreuzen sollte, könnten wir von hier aus gemeinsam nach Singapur telefonieren.

Am Zeitungsstand gab es wegen der bevorstehenden Feiertage den SPIEGEL schon heute. Die Weihnachtsausgabe war dünner als in den Adventswochen. Ich konnte das Heft bequem im Liegen lesen. Auf dem Flur wurden Stimmen laut.

"Es ist absolut nicht nötig, daß Sie mich anmelden, ich bin bei ihm immer willkommen."

Das war Alkestis. Ich machte schnell die Tür auf und sagte zum empörten Wirt:

"Vielen Dank, ich habe schon auf diese Besucherin gewartet, ich wußte nur nicht, ob sie es schafft, am Heiligen Abend herzukommen. Deshalb hatte ich vergessen, Ihnen Bescheid zu sagen."

"Wenn das so ist, will ich nichts gesagt haben. Zu Ihnen finden heute ja so einige den Weg."

Damit schlurfte er davon.

"Was soll das heißen," fragte Cis, ihren Mantel aufhängend, "wen hast du heute schon da gehabt?"

"Eine Mitarbeiterin aus eurer Firma hat mir eine Nachricht von Ismene überbracht."

"Das war schlau. Bei uns kann man nämlich nicht anrufen. Großvater hat die Telefonleitung zerschnitten. Was steht in der Botschaft?"

Ich zeigte sie ihr.

"Versteh ich nicht."

"Das heißt, daß sie im Goodwood Park Hotel in Singapur wohnt und wir sie dort anrufen sollen."

"Wo können wir hier telefonieren?"

"Im Hauptbahnhof."

"Laß uns gehen."

"Das hat im Augenblick keinen Zweck. Wir haben sieben Stunden Zeitverschiebung zu Singapur. Das heißt sie könnten schon schlafen. Oder sie sitzen irgendwo draußen am Wasser und blicken auf den tropischen Sternenhimmel. Außerdem werden um diese Zeit alle Telefondrähte durch Weihnachtsglückwünsche überbelegt sein."

"Wann telefonieren wir dann?"

"Morgen früh um neun nach der Zeit von Singapur. Das ist um zwei Uhr nachts hier."

"Bleiben wir eben so lange hier. Laß uns ein bißchen kuscheln." Sie warf sich angezogen aufs Bett. Ich legte mich zu ihr.

"Es ist so schrecklich, mit diesem störrischen alten Mann im Haus. Er spricht kein Wort mit mir. Er ist selber auch todunglücklich. Heute morgen sagte er zu mir: Es gibt kein Weihnachten. Das habe ich dir vorher gesagt. Dabei schluchzte er."

Sie setzte sich auf und blickte um sich. 

"Ich will aber mein Weihnachten haben. Du hast auch nichts Festliches. Nur den alten Adventskranz mit den abgebrannten Kerzen. Gibt es in diesem Hause keinen Weihnachtsbaum? Laß uns mal in der Wirtsstube nachsehen."

Dort stand tatsächlich ein mit Kerzen und roten Kugeln geschmückter Weihnachtsbaum. Einziger Gast war eine alte Frau, die eine Wohnung ganz oben im Haus hatte und oft auf dem Heimweg von der Arbeit im Einhorn eine Pause einlegte, um ein Glas Chantree zu trinken.

"Es wird schon dunkel draußen," sagte Cis zum Wirt, "finden Sie nicht, daß es Zeit wird, die Kerzen am Baum anzuzünden und ein paar Weihnachtslieder zu singen?"

"Ja, das fehlt hier," sagte die Alte.

"Ich kann nicht singen, und ich habe die Texte vergessen," behauptete der Wirt.

"Das macht nichts," sagte Cis, "dann singen Sie alles auf 'ah'. Ich seh mal nach, ob noch etwas von dem alten Rum übrig ist, dann machen wir Grog, aber diesmal mit Tee und Zucker."

"Das versteht sich von selbst."

"Soll ich schon mal die Kerzen anzünden?" fragte die Alte.

"Ja, mach das," nuschelte der Wirt, "ich tu den Zucker in den Tee."

Als alle Kerzen brannten, kamen Cis und ich mit der Rumflasche. Wir setzten uns im Halbkreis um den Baum.

"Sie können bestimmt 'Oh Tannenbaum' singen," schlug Cis vor."

Das kannten alle. Nach und nach steuerte jeder ein paar Lieblingslieder bei. Die alte Frau kannte die meisten Texte und sagte sie vor, wenn die anderen nicht weiter wußten. Aller Augen glänzten. Es breitete sich jene typisch deutsche Nestwärme aus, die der Wesenskern des Weihnachtsfeierns ist. Alle Jahre wieder.

Als der Liedervorrat erschöpft war, wurde dem Grog weiter zugesprochen, Genüßlich aus seinem Glas schlürfend, erzählte der Alte:

"Zu diesem Trunk fällt mir ein Lied ein, das wir früher immer gesungen haben." Er intonierte mit rauher Stimme: "Wir lagen vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord."

Cis fiel mit heller Stimme ein: "In den Kesseln, da faulte das Wasser, und täglich ging einer von Bord. Ahoi, kleines Mädchen, ahoi Kamerad."

"Sie können ja Seemannslieder singen," sagte der Alte gerührt.

"Meine Familie ist eine Seemannsfamilie," erwiderte Cis stolz.

"Das stimmt," bestätigte ich. "Ihr Vater ist auf hoher See verschollen." Kaum hatte ich das gesagt, fiel mir ein, daß das Susannes Formulierung war, die ich gedankenlos wiederholte.

"So ein Quatsch!" verbesserte mich Cis. "Der Rum, den wir trinken, ist eine Flaschenpost von ihm, und morgen kriegen wir wahrscheinlich eine Telefonverbindung zu ihm auf ein Korallenriff."

"Das freut mich für euch."

Ich wollte mit Cis aufs Zimmer zurück, bevor der Alte anfing, auch noch "Wildgänse rauschen durch die Nacht" zu singen. Heute war Heilig Abend. In gerührter Stimmung löste sich unsere kleine Gruppe auf.

Ich stellte den Wecker auf zwanzig vor zwei. Cis und ich krochen zwischen die Laken. Ob wir aneinandergeschmiegt ruhten, ob wir mehr wollten, es war beides gleich schön. Am Ende rief uns der Wecker auf die Erde zurück.

Ich gab dem Mann am Telefonschalter der Bahnhofspost die Nummer, und Cis stellte sich in eine Kabine. Die Verbindung kam fast sofort zustande.

"Hallo Pappa, ich bin Alkestis. Ja, ich freue mich auch: Nein, das ist völlig unmöglich. Ich kann Opa jetzt nicht allein lassen. Was, Hellmann auch? Den kennst du doch gar nicht. Ja, er steht neben mir. Wenn du willst."

Sie überreichte mir den Hörer.

"Hansen hier," sagte eine trotz der Entfernung kaum verzerrte Stimme, die gewinnend klang, voller Kameraderie und Schalksnarren.

"Hellmann," bestätigte ich. Cis kam mit dem Ohr ganz nah an die Hörmuschel.

"Herr Hellmann, ich muß Sie unbedingt kennenlernen. Können Sie nicht für zwei, drei Tage rüberkommen, zusammen mit Alkestis. Alleine fliegt sie doch nicht los."

"Wann?" fragte ich widerstandslos, obwohl ich gar kein Geld für ein Flugticket hatte.

"Sofort."

"Hier liegt alles im Winterschlaf. Heute und morgen tut sich nichts."

"Übermorgen, dann. Es gibt ein Dutzend Verbindungen."

"Wofür brauchen Sie mich bei Ihrem Familientreffen?"

"Sie haben meiner Tochter einen Floh ins Ohr gesetzt. Sie will, daß ich nach Hamburg zurückkomme und die Leitung der Firma übernehme, auch gegen den Willen meines Schwiegervaters."

"Das hat sie nicht von mir. Das muß Wiedersehensfreude sein."

"Ganz egal. Es muß durchgesprochen werden. Sie sind Psychologe. Wir brauchen Ihren Rat. Noch dieses Jahr."

"Ich versuch es. Lassen Sie mich mal Ismene sprechen."

"Das ist jetzt nicht mehr nötig."

"Es ist mein Wunsch, und ich bestehe darauf."

"Na, na, na, was sind denn das für Töne?"

"Herr Hansen, bitte geben Sie mir Ihre Tochter."

"Ich frage sie mal. Issy, legst du Wert darauf, mit Hellmann zu sprechen?"

Sie schien nur darauf gewartet zu haben.

"Hallo Markus."

"Geht es dir gut?"

"Ich war noch nie so weit von zu Hause weg. Mir liegt sehr daran, wenn ihr kommt."

"Hast du gehört, was dein Vater zu mir sagte?"

"Er ist ein prima Kerl. Wir müssen alles genau beraten. Ich freue mich auf euch."

"Ich gebe dir deine Schwester."

Ich reichte den Hörer weiter.

"Ja, Issy. Ist bei dir alles in Ordnung?"

Cis ließ mich auch mithören, aber die Antwort war zu kurz, um sie mitzubekommen.

"Was soll ich in Singapur?"

"Es wird dir gefallen. Du wirst nie wieder weg wollen. Jetzt kommt Pappa noch mal."

Ich zog meinen Kopf zurück wie eine Schildkröte.

"Ja, Pappa, es ist schön, deine Stimme zu hören. Ich habe auch Sehnsucht nach dir. Soll ich wirklich? Es kommt so plötzlich. Ich rufe dich übermorgen an. Um elf Uhr vormittags."

"Elf in Deutschland," bestätigte ihr Vater, "sind bei sieben Stunden Zeitverschiebung achtzehn Uhr hier. Ich verlaß mich drauf."

"Gute Nacht, Vater."

Sie legte den Hörer ab.

Ich bezahlte am Schalter. Es waren neunundzwanzig Mark.

"Wir müssen das klären," sagte Cis ärgerlich, als sie wieder in die Bahnhofshalle traten. "Vorher steige ich nicht ins Taxi."

"Noch einmal zu mir?"

"Nein. Hier. Irgendwo muß man doch reden können."

Der Stehbierausschank hatte noch offen, und ausnahmsweise standen keine Penner herum. Es gab nur Halbliter-Gläser.

Cis nahm einen kräftigen Zug.

"Das ist dir doch klar," legte sie los, "Ismene hat einen Tropenkoller. Vater zum Firmenchef zu machen. Es sei denn, das ganze ist auf deinem Mist gewachsen."

"Das Thema hatten wir schon ausdiskutiert," erwiderte ich bemüht ruhig. "Ich habe Ismene nur vorgeschlagen,  Weihnachten zu eurem Vater zu fliegen, damit sie über den Tod des Grafen hinwegkommt. Weiter nichts. Daß sie wirklich fliegt, habe ich von dir erfahren. Mir hat sie kein Sterbenswort verraten."

"Ist ja auch Familiensache. Weshalb wolltest du unbedingt mit ihr sprechen?"

"Ich wollte hören, wie ihre Stimmung ist."

"Weißt du das jetzt?"

"Nein." Ich hatte den Eindruck, daß ich Ismene in eine Situation geschickt hatte, in der sie sich überfordert fühlte und Hilfe brauchte. Ich war dafür verantwortlich, und ich mußte ihr beistehen. Aber das konnte ich ihrer grundlos eifersüchtigen Schwester nicht so offen anvertrauen. Ich setzte das Glas an meine Lippen.

Mich fror, als mir das frische Bier die Kehle hinunter lief.

"Mir ist kalt," erklärte ich. "Meinst du nicht, eine laue Tropennacht wäre mal das Richtige für uns? Einfach schnell hin und her gejettet, wie das die Schönen und die Reichen tun?"

"Damit wir Ismene den Kopf zurecht rücken?"

"Zum Beispiel."

"Also gut. Wir fliegen zusammen. Ich werde Opa schon rumkriegen. Ich muß nur zwei Tage zu Hause bleiben und die Brave spielen."

"Weißt du wo mein Büro ist?"

"In der Fußgängerzone, gleich am Anfang. Das Glashaus, nicht wahr?"

"Direkt gegenüber ist ein Last Minutes Reisebüro. Die sollten bis elf die Lage geklärt haben. Nach Singapur können wir von meinem Arbeitszimmer aus anrufen."

"Ist das erlaubt?"

"Ich muß es als privat anmelden. Dann wird es mir vom Gehalt abgezogen."

"Ich bin übermorgen, also am Siebenundzwanzigsten, um viertel vor zehn bei dir. Das Bier müssen wir nicht zu Ende trinken."

Wir gingen hinaus. Nur ein Taxi wartete noch auf Reisende.

Als ich heimging, flog mir mein Atem in weißen Wölkchen ums Gesicht. Auf einmal machte ich mir Sorgen. Ich wollte nicht in die Affären der Hansens hineingezogen werden. Graf Kolmar war Berufsoffizier gewesen. Anstatt aus seinem Schicksal zu lernen, hatte ich jetzt auch noch den Vater wissen lassen, daß ich Alkestis nachts um zwei Gesellschaft geleistet hatte.

 

13. KAPITEL

Die Feiertage verbrachte ich in der Firma, um vorzuarbeiten und nichts unerledigt liegen zu lassen. Ein Koffer mit leichten Sachen für die Tropen war schnell gepackt. Erst nach der Ankunft in Singapur sollte ich meinen Denkfehler erkennen. Die meisten Innenräume dort sind klimatisiert, bis hinunter auf eiskalte achtzehn Grad.

Die Eingangstür zum Reisebüro ging von außen nach innen auf, aber es war menschenleer. Erst nach mehreren Rufen von Alkestis und mir erschien eine Reiseberaterin, die eine herausfordernd sonnengebräunte Stirn und platinblonde Haarsträhnen hatte.

"Wie kann ich Ihnen helfen? Haben Sie schon ein Ziel?"

"Wir wollen nach Singapur. Heute noch, wenn es geht."

"Und das ist Ihnen gerade eingefallen."

"Nein vorgestern. Da hatten Sie zu."

"Die Lufthansa ist Tag und Nacht im Dienst, aber da müssen sie den vollen Preis bezahlen. Meine Spezialität sind Discount Tickets. Ist das ihr voller Ernst? Haben Sie einen Trauerfall?"

"Die Nase voll von der Kälte," erklärte Cis.

"Kann ich verstehen. Es gibt keinen Direktflug nach Singapur. Sie können fliegen über Kopenhagen, London, Amsterdam, Frankfurt, Zürich."

"Frankfurt liegt direkt auf dem Weg."

Sie hackte auf ihrer Tastatur herum: "Heute Abend in Frankfurt hätte ich Plätze frei auf Lufthansa, Quantas, Singapore Airlines."

"Was ist der billigste Flug?"

"Augenblick. Vielleicht gib es ein Weihnachtssonderangebot. Ja, hier, Singapur Airlines. Achthundertneunzig Mark. Für jeden."

"Hin und zurück?" fragte Alkestis ungläubig.

"Wir verkaufen keine Nur-Hinflüge, das hat die Fremdenpolizei dort nicht so gern."

"Wie können wir zahlen?" fragte ich. "Nehmen Sie Kreditkarten an?"

"Mal sehen was sie wert ist." Sie steckte meine Karte in ein Lesegerät und wartete auf die piepsende Benachrichtigung.

"Ihr Limit ist tausend Mark. Davon würde ich abraten. Sie können dort mit dieser Karte in der Ankunftshalle Bargeld ziehen, Singapur Dollar. Das wäre praktisch."

"Ich hole Geld von der Bank nebenan," entschied Cis. "Ich bin gleich wieder da. Ihn lasse ich als Geisel hier."

"Von Ihnen brauche ich die exakten Angaben," sagte die Reisebetreuerin zu mir. "Den Flugschein von Hamburg nach Frankfurt kann ich Ihnen ausdrucken, aber das Ticket für den Weiterflug nach Singapur wird für Sie am Eincheck-Schalter der Singapore Airlines hinterlegt."

Kurz vor elf waren wir mit allen Papieren in meinem Büro, um ihren Vater anzurufen. Ich meldete das Gespräch an und überließ Cis alles weitere.

Ich hörte sie sagen: "Nur Handgepäck? Ich habe schon einen Koffer gepackt. Wenn du das sagst. Gut, dann packe ich um. So viel Zeit haben wir." Dann sagte sie ihm die Flugnummer und die Ankunftszeit an.

In diesem Augenblick wurde kurz an meine Tür geklopft und Lörke trat ein. Als sie Alkestis sah, die gerade den Hörer ablegte, wich sie zurück, aber dann ging ein Leuchten über ihr Gesicht.

"Wir kennen uns. Helfen Sie mir, woher!"

Cis reichte ihr entgegenkommend die Hand.

"Hansen. Ich kann mich im Moment nicht erinnern. Vielleicht auf der Kieler Woche."

"Nein, nein, nicht in Kiel. Ich sehe Sie in einem perfekten Abendkleid vor mir. Eine Frau merkt sich das."

"Ich gehe kaum auf Bälle."

"Jetzt weiß ich es. Sie sind meine Sitznachbarin in der Oper. Parkett, dritte Reihe."

"Das kann gut sein," bestätigte Cis.

"Das sind schöne Plätze, nicht wahr Hellmann," stichelte Lörke. So viel hatte sie sich sofort zusammen gereimt.

Am frühen Nachmittag brachte mir ein Bote in hellgrauem Kittel einen Hauspost-Umschlag ins Büro.

"Sind Sie Herr Hellmann? Ich soll das persönlich abgeben."

Der Brief kam aus der Direktion und enthielt nur einen Ausriß aus einer Fotokopie über das Unternehmen Hansa Marine. Der Eintrag, den Lörke rot angestrichen hatte, lautete: Gesellschafter - Hein Hansen, Ismene Hansen, Alkestis Hansen, je 33 1/3 Prozent.

Blutschwarzer Ärger stieg mir in den Kopf. Wenn ich geahnt hätte, daß Alkestis Mit-Inhaberin von Hansa Marine war - wenigstens auf dem Papier - hätte ich mich nie um sie bemüht. Ich hatte die Mädchen für verspielte Töchter - oder Enkelinnen - aus reichem Hause gehalten. Das hier war etwas völlig anderes. Ein Spielfeld, auf dem ich nichts verloren hatte.

Der Fall Kolmar geriet in ein ganz anderes Licht, falls der Graf davon gewußt hatte. Aber das nahm ich nicht an. Wahrscheinlich hatte Ismene ihn genauso wenig aufgeklärt, wie Cis mich. May hatte völlig recht. Das war nicht unsere Welt. Aber jetzt war es zu spät. Ich steckte den Zettel in meine Brieftasche, um Cis später darauf anzusprechen.

In Fuhlsbüttel nahmen wir den gleichen Zubringer nach Frankfurt, mit dem auch Ismene geflogen war. Zum Glück war die Warteschlange am Economy-Schalter heute ganz kurz.

In Frankfurt ankommend, wurden wir, obwohl wir ein Lufthansa-Flug waren, auf dem Vorfeld abgesetzt. Dort mußten wir in einen Bus steigen, in dem wir stehend eine Besichtigungsfahrt um das ganze Terminal machten, bis wir an einer Souterrain-Tür abgesetzt wurden, von der aus wir über primitive Betontreppen zu Fuß hochsteigen durften, daß uns die Puste wegblieb. Wir gelangten in ein Gewirr von Gängen, in dem wir der blauen Leuchtschrift TRANSIT folgten, fast einen halben Kilometer weit, bis wir in eine Art Wartesaal kamen, an dessen äußerstem Ende wir die Paßkontrolle für den Abflug Ausland fanden. Wir hatten keine Tickets, aber man glaubte uns, daß sie am Gate lagen. Nun durften wir den ganzen Weg, den wir seit der Landung zurückgelegt hatten, wieder durch ganz ähnliche Gänge zurück laufen.

"Ich dachte, wir wollten Singapur auf dem Luftweg erreichen und nicht zu Fuß," beklagte sich Cis. "Mir tut der Bauch weh. Wenn du irgendwo einen Rollstuhl findest, setze ich mich rein, und du schiebst mich."

Ich nahm ihr das Handgepäck ab, und sie stöhnte dankbar. Wir kamen an einem Rollstuhl vorbei, aber er war mit einem Vorhängeschloß gegen Benutzung gesichert.

"Mist, Scheiße," schimpfte Cis.

In dem endlosen Gang, der zu den einzelnen Andock-Plätzen führte, herrschte eine hallige Akustik. Deshalb begriff ich nicht sofort, daß in der quiekigen Lautsprecher-Ansage von uns die Rede war.

"Die Passagiere Hansen und Hellmann werden gebeten, sich am Gate 54 zu melden. "

Es waren noch einige Minuten Fußweg, bis wir das Gate erreichten. Im Warteraum hockten weit über hundert Reisenden stoisch in weißen Plastikguß-Sitzschalen, für deren Konstruktion bestimmt kein Orthopäde zu Rate gezogen worden war. Das Counter war leer. Nur eine Stewardeß in einem braun-blau gemusterten Batikkleid blätterte ziellos in einer Liste.

"Wir sind Hansen und Hellmann," sagte ich.

Die Stewardeß machte ein verständnisloses Gesicht.

"Do you speak English?" fragte ich.

In diesem Augenblick wurde die Ansage wiederholt. Ich deutete mit dem Zeigefinger auf den Lautsprecher n der Decke und dann auf Cis. Jetzt verstand sie mich.

"One Moment, please."

Sie verschwand in einem Hinterzimmer, von dem ich gar nicht gesehen hatte, daß es das überhaupt gab, und kam mit einer älteren Chinesin zurück, die ebenfalls das auf Figur geschneiderte Batikkleid trug. Ein Abzeichen wies sie als Head-Purser aus. Sie öffnete ein Absperrband und bat uns in den freien Raum dahinter.

"Frau Hellman, Herr Hansen," sagte sie in fließendem Deutsch, "Sie haben ihre Flugkarten nicht am Eincheck-Schalter abgeholt."

"Ich tue keinen Schritt mehr," kündigte Cis an.

"Wir sind durch den Transfer gekommen," erklärte ich.

"Verstehe. Haben Sie eine Quittung, daß die Tickets bezahlt sind?"

Ich gab ihr die Rechnung des Reisebüros.

"In Ordnung. Ich drucke Ihnen Ersatz-Einstiegkarten aus."

"Wir wollen zusammen sitzen," verlangte Cis.

"Wir haben eine Zweier-Sitz-Kombination hinten am Heck."

"Das wäre das Richtige für uns."

Wir bekamen die Plätze 66 A und B, die sehr praktisch waren, weil sie die erste Zweier-Reihe hinter den Dreiern bildeten und viel Beinfreiheit boten. Wir hatten beide lange Beine und brauchten keinen Sitznachbarn neben uns.

 

14. KAPITEL

Der Flughafen von Singapur war auch ein Airport der langen Wege, aber die Gänge waren breit und hell und gut belüftet. Alkestis war erholt und hatte keine Beschwerden. Die Paßkontrolle war kein Nadelöhr, sondern ein Durchgang. Ein schneller Computerabgleich, ein Stempel. Schon war man draußen und traute sich nicht, den Stempel zu studieren, um den Nachfolgenden nicht den Weg zu verstellen. An den Gepäckbändern drängelten sich Massen. Wir hatten nur Handgepäck und schlenderten direkt zum Ausgang.

Ismene wedelte uns mit hochgestreckten Armen zu. Neben ihr stand ein großer Mann. Kräftige Figur in einem hellen Anzug, das Gesicht braun, aber nicht durch Falten gefurcht, das sonnengebleichte Haar strohblond, die Augen ein kräftiges Grau. Obwohl ich es nicht angemessen finde, einen Mann als schön zu bezeichnen - dieses Adjektiv sollte Frauen vorbehalten bleiben - Knut Hansen war ein schöner Mann. In seiner Körperhaltung und seinen weit ausholenden Armbewegungen sah man die Ähnlichkeit mit Alkestis, vor allem, als er sie jetzt in die Arme nahm. Mir reichte er eine große Hand mit kräftigem Druck, in seinen Augenwinkeln bildeten sich Lächelfalten, während er mich begrüßte. Ich war beeindruckt.

Wir stiegen über Treppen in den Keller des Flughafens, wo in der Tiefgarage eine Limousine auf uns wartete. Die Scheiben des Wagens waren getönt und dämmten den Ausblick auf die Allee, in die wir einfuhren. Nur abgedunkelt erkannte ich blühende Bäume, Wohnblocks, Verkehrsschilder. Wir fuhren durch sehr viel Grün und hielten vor einer Hotelanfahrt. Aus dem Auto steigend, tauchten wir in grelles Licht und stechende Mittagshitze. Vor uns ein Gebäude, dessen Eingang rechts und links von Rundgiebeln geschmückt wurde, mit einem mittelalterlichen Burgturm darüber.

"Hättet ihr das erwartet?" rief Knut vergnügt. "Hier habt ihr eins der berühmtesten historischen Gebäude von Singapur. Es steht unter Denkmalschutz."

"Sieht aus wie Nürnberg oder Rothenburg," urteilte Cis herablassend.

"Mit Absicht, mit Absicht. Dieses Haus wurde fünfzehn Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gebaut, von Deutschen für Deutsche. Es war das Gebäude des Deutschen Klubs."

Ein livrierter Hoteldiener kam heraus und war erstaunt, daß er dem Taxifahrer nur Handgepäck abnehmen konnte.

"Gab es so viele Deutsche hier? Vor hundert Jahren?" fragte ich ungläubig. Die Schwüle der Tropenluft schob sich in meine Lungen und legte einen Schleier der Unwirklichkeit über alles, was ich sah.

"Vor dem Ersten Weltkrieg lebten hier Hunderte von Deutschen, ständig oder auf der Durchreise. Wir unterhielten Kolonien in der Südsee, wo die Insulaner heute noch Schulz oder Meier heißen, wir hatten Kanonboote auf dem Jangtsekiang, einen Marine-Stützpunkt im Gelben Meer. Als der Krieg ausbrach, wurden alle Deutschen, die hier zu Hause waren, verhaftet und in Australien interniert. Das Gebäude wurde meistbietend versteigert."

"Jetzt lassen Sie uns wieder rein?" fragte ich, um die Anmeldung zu beschleunigen, weil Cis von einem Bein auf das andere trat.

"Dieses Haus hat für mich Heimatcharakter." Knut führte uns in die Kühle der Empfangshalle. Das Hotel war ein weitläufiger niedriger Bau mit Swimmingpools zwischen den Seitenflügeln und einem zur Weihnachtszeit üppig blühendem Garten. Knut hat für Cis und mich Zimmer in verschiedenen Etagen reserviert, zu denen wir von Pagen geleitet wurden. Jeder in seins.

Das meinige war ein kleines Einzelzimmer mit einer hohen Stuckdecke, unter der sich ein dreiflügeliger Ventiltor drehte. Eine Glastür führte auf den holzgedielten quadratischen Balkon, der fast genau so groß war wie das Zimmer selbst.

Nach Duschen und Umkleiden war ein Treffen am gut besuchten Selbstbedienungsbüffet angesagt. Die Speisen waren in zwei Reihen angeordnet. Links die chinesischen Gerichte, rechts abendländische Küche. Ich wollte meinem Magen nicht die Begegnung mit einheimischer Kochweise zumuten, pickte Roastbeef und Käsekroketten heraus.

Unsere Küstenbewohnerinnen - so nennen sich Hamburgerinnen, obwohl sie nur das Elbufer besiedeln, entdeckten verlockend aussehende Meeresfrüchte auf den chinesischen Platten. Zu Gesprächen kam es kaum, obwohl wir alle vier am selben Tisch saßen, denn es war ein ständiges Kommen und Gehen zum Büffet, wo man nach manchen Köstlichkeiten sogar anstehen mußte. Mir fiel auf, daß die Chinesen unter den Gästen ihre Teller besonders hoch beluden, obwohl die meisten von ihnen schlank und untersetzt von Figur waren.

Nach dem Essen wartete vor dem Hotel ein Minibus auf uns, in den Knut uns zu einer Stadtrundfahrt einsteigen ließ.

Mir behagte es wenig, das ständige Aussteigen in die schwüle Tropenluft, um an der verglasten Fassade eines Hochhauses hochzublicken, und dann wieder zurück in die künstlich gekühlte Luft des Fahrzeugs. Die meisten dieser Bauten waren ein ganzes Stück höher als die höchsten Wolkenkratzer in Hamburg. Wenn ich hinauf blickte, kam ich mir vor wie Gulliver unter den Riesen, aber wenn ich den Blick senkte, waren all die Chinesen, die um mich herum wuselten, einen Kopf kleiner als ich. Ich konnte mir weder den Namen noch die Funktion der himmelstrebenden Bauten merken. Was mir gefiel war ein Hotel mit sechsundfünfzig Gästeetagen. Von dort oben mußte die Erde geordnet erscheinen.

In einem Park am Meer stand eine grob gemetzte Steinfigur, die eine Seejungfrau mit einem Löwenkopf darstellte.

"Das ist das offizielle Wahrzeichen von Singapur," erläuterte Knut, "Merlion genannt. Ihr müßt wissen, daß Singapur auf Indisch Löwenstadt genannt wird. Darauf spielt dieses Fabelwesen an, eine Kreuzung aus Löwe und Fisch."

Ich fand es unbeholfen und naiv. Aber junge Staaten brauchten wohl Nationalsymbole, und neu geschaffene waren vertrauensbildender als die alten und abgenutzten, die wir mit uns herumschleppten. "Deutschland, Deutschland über alles in der Welt." Das hatte man schon zu Zeiten des Admiral Tirpitz gesungen, als hier der deutsche Club gebaut wurde.

Zum Abschluß der Rundfahrt wurden wir am Boot Quai abgesetzt, der Vergnügungsmeile am Singapore River. Dieser Fluß war ursprünglich ein Kanal gewesen, mit Geschäften und Lagerhäusern an beiden Seiten zum Umschlagen von Waren. Der Handel wurde jetzt über moderne Hafenanlagen weiter draußen abgewickelt, und die alten Shophäuser am linken Ufer hatte man umgebaut in Cafés, Restaurants, Discos, Biergärten - alle mit der Front zum Wasser, ohne störenden Straßenverkehr. Wir setzten uns an einen Tisch, der vor den Häuserfassaden direkt an der Uferkante stand, und wir bekamen jeder einen großen Glaskrug mit Bier serviert.

Das Bier war kalt, erfrischend und so alkoholarm, daß es in Deutschland nicht einmal die Handelsmarke "light" erreicht hätte. Gerade das Richtige für einen heißen Tropen-Nachmittag. 

"Die ganzen Länder ringsum," erklärte Knut seinen Töchtern. "Indonesien, Malaysia, Brunei, Ost-Timor, bildeten früher eine Einheit mit Singapur, den malayischen Archipel."

"Aber zersplittert in tausend Sultanate," warf ich ein.

"Sie haben Liebe und Tod auf Bali gelesen," wies er mich zurecht. "Aber bedenken Sie - Deutschland war genauso in Kleinstaaten zersplittert, und schuf Kultur für die Welt. Justus von Liebig, Beethoven, Goethe - und wen haben wir in Hamburg?"

"Brahms," antwortete ich.

"Und Lessing und Telemann. Und was gab Deutschland der Welt nach der Vereinigung zum Kaiserreich?"

"Denkst du an Kanonenboote und Kolonien?" riet Ismene.

"Wie Kaiser-Wilhelm-Land, das heutige Papua Neu Guinea das von Menschenfressern bevölkert war. Und was war die Folge? Deutschland wurde selber eine Nation von Menschenfressern, die den Ersten und den Zweiten Weltkrieg anzettelte."

"Ich kann mir vorstellen, Pappa," entgegnete Alkestis, "daß Opa da anderer Meinung ist. Er ist mächtig stolz auf unser Land."

"Weil er engstirnig ist, keinen Horizont hat."

"Das sagst du, weil dein Horizont die Weite der Meere ist. Wie heißt eigentlich deine neueste Jacht?"

"Aphrodite. Und weißt du warum? Weil ich dich so taufen wollte, als du geboren wurdest. Aber dein Großvater war dagegen. Er sagte, man wüßte nicht, ob du in die Anforderung dieses Namens hineinwächst. Wie unrecht er hatte! Du bist die Aphrodite geworden, die ich von Anfang an in deinem faltigen Babygesicht sah."

"Danke Pappa."

"Alkestis ist auch ein schöner Name," meinte Ismene.

"Die Alkestis der Sage mußte jung sterben, wegen einer Geschichte mit ihrem Mann. Das ist ein schlechtes Omen. Deshalb darfst du nie heiraten, Cis, damit es dir nicht ähnlich ergeht."

Ich hatte schon bemerkt, daß Knut - ohne es mit Worten zu sagen oder mit Blicken anzudeuten - an meiner Beziehung zu Alkestis Anstoß nahm. Und nachdem ich gelernt hatte, wie die Besitzverhältnisse an der Firma aussahen, konnte ich ihn sogar verstehen.

In diesem Augenblick fiel mir ein, wo ich das schalkhafte Siegerlächeln, das jetzt um Knuts Augen spielte, schon einmal gesehen hatte. Auf dem Foto von Leon, Susannes Sohn. Er wird einmal ein großer Verführer, hatte ich spontan zum Püppchen gesagt. Das brachte mich auf eine Idee.

"Habe ich dir schon gezeigt, Ismene," ich holte meine Brieftasche heraus, "was Frau Hallstein mir zu Weihnachten übergeben hat?"

Es war noch hell genug, um das Foto zu betrachten.

"Ich wußte gar nicht, daß sie einen Sohn hat. Sie bringt ihn nie mit."

"Zeig mal her!" Cis riß ihr das Photo aus der Hand. "Das bin ja ich. Genauso habe ich mit zwölf Jahren ausgesehen.

"Das ist ein Junge," verbesserte ich, "Leon Hallstein."

"Als ich zwölf war, hat man mir noch nicht angesehen, ob ich mal ein Junge oder ein Mädchen werde."

"Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr," sagte Knut. "Du bist eine wunderhübsche Frau. Darf ich das Foto auch mal sehen?"

Er hielt sich das Bild aus verschiedenen Blickwinkeln vors Gesicht.

"Das ist ja das Weib, das an meiner ganzen Misere schuld ist. Das sieht man ihrem Engelsgesicht gar nicht an."

"Was hat sie dir getan?" fragte Ismene scharf.

"Also..." Knut wollte weit ausholen, aber Alkestis fiel ihm ins Wort.

"Opa hat mir erzählt, daß du Hamburg verlassen mußtest, weil du einen Lehrling geschwängert hast."

"Das kam alles nur, weil die Kuh gewartet hat, bis sie im vierten Monat war, und dann ist sie mit der Neuigkeit zu Opa gelaufen, nicht zu mir. Euer Großvater hat nur auf so eine Chance gewartet, um sich von mir zu trennen. Er leidet nämlich unter der Wahnvorstellung, ich wäre schuld am Tod eurer Mutter, weil sie bald nach Alkestis Geburt an Gebärmutterkrebs gestorben ist."

"Das mußt du dir nicht anziehen, Pappi," tröstete ihn Alkestis. "Wir Hansen-Frauen haben alle ein genetisches Problem mit dem Unterleib."

"Ich nicht," warf Ismene ein.

"Jedenfalls," fuhr Knut fort, "Euer Großvater hat mich erpreßt, entweder aus der Geschäftsführung auszuscheiden, oder ein Verfahren wegen Mißbrauchs einer minderjährigen Abhängigen an den Hals zu bekommen."

"Das hat Susanne bestimmt nicht gewollt," warf ich ein.

"Ich habe ihr dummerweise erzählt, daß Opa meiner Hochzeit mit Mammi erst zugestimmt hat, als Ismene unaufhaltsam unterwegs war. Ich weiß absolut nicht, was in Susies Kopf vor sich gegangen ist. Jedenfalls hat Opa mich aufgefordert, dieses Problem sofort zu lösen."

"Dieses Problem," Ismene sah ihren Vater zweifelnd an, "damit meinst du Susannes unaufhaltsame Schwangerschaft?"

"Sie war zum Glück nicht unaufhaltsam. Ich fand einen Frauenarzt, alter Segelkamerad, der den Eingriff auch im vierten, fast schon fünften Monat durchführte."

"Dann ist das nicht mein Brüderchen?" fragte Alkestis und drückte das Foto an ihren Busen.

"Nie im Leben."

"Wieso weißt du das so genau?" fragte Ismene. "Bist du beim Eingriff dabei gewesen?"

"Die ganze Zeit. Im Zimmer nebenan. In einer solchen Situation läßt man eine Frau nicht allein. Das wäre unehrenhaft."

"Hier," Alkestis schob mir das Foto zurück, "ich hätte gerne einen zwölfjährigen Bruder, der was von Computern versteht und die Strömungsgeschwindigkeit von Ebbe und Flut für einen ganzen Mondzyklus vorausberechnen kann."

"Da spricht meine Tochter!" rief Knut. "Wenn wir in Hamburg sind, suchen wir den besten Computer für dich aus."

Als ich das Bild wieder einsteckte, näherte sich ein alter Mann, mager und grauhaarig, der einen Klapphocker in der Hand trug. Er verneigte sich höflich und fragte:

"Do you want I read your future from your palm? I am geomancer.

"No," wehrte Knut in schroff ab.

"Thank you," erwiderte ich, "I plan my future myself."

"Come here!" rief Alkestis und winkte ihm, "I want to know how happy I will be."

"I can see you are happy now, my lady." Er schlug seinen Klappstuhl neben ihr auf, setzte sich und ergriff ihre Linke. Er drehte die Hand leicht hin und her und wischte mit seinen Fingerspitzen darüber. Er wechselte zur anderen Hand über, studierte sie aufmerksam und konzentrierte sich erneut auf die Linke. Dann hob er ihre Handfläche an sein Gesicht und schnupperte daran wie ein Hund. Daraufhin legte er ihre Hand auf die Tischplatte, stand auf, verbeugte sich und sagte: "Sorry, cannot read your hand. Thank you. Give no money, no money."

Er klappte den Hocker zusammen und schimpfte im Weggehen: "Ah mi to fo, tai lihai."

"Was war denn das für eine Veranstaltung?" fragte Ismene."

"Er hat wohl erkannt," erklärte Knut, "daß er uns nicht reinlegen kann."

"Haben Sie verstanden, was er zum Schluß sagte?" fragte ich ihn.

"So gut ist mein Chinesisch nicht."

Der Psychologe in mir traute Knuts Erklärung nicht. Es lag zuviel Abwehr und Trotzreaktion darin. Aber an die Wahrsagekunst glaubte ich ebenfalls nicht.

"Jetzt habe ich nicht erfahren," bedauerte Cis, "wie meine Zukunft aussieht."

"Ich kann auch etwas Hand lesen," behauptete Knut. "Wenn man so lang auf See ist, muß man sich mit irgend etwas beschäftigen."

Alkestis streckte ihm ihre flache Hand hin.

"Es ist im Prinzip ganz einfach," erklärte Knut. "Diese Linie hier oben ist deine Lebenslinie, und das hier die Schicksalslinie, die von der Lebenslinie gekreuzt wird."

 Cis zog ihre Hand zurück und betrachtete sie genau.

"Wieso ist die Lebenslinie so kurz? Nur halb so lang wie die Schicksalslinie. Sie kreuzt sie auch nicht, sondern endet an ihr."

"Das liegt daran, daß du noch so jung bist. Sie braucht Zeit, sich zu entwickeln."

"Zeig mir mal deine Hand, Issy!" verlangte Cis. Die Schwestern beugten sich beide über Ismenes Handfläche.

"Hier," stellte Alkestis fest, "deine Lebenslinie verläuft über die ganze Breite der Handfläche."

"Ich bin ja auch älter."

"Jetzt laß mich mal aus deiner Handfläche lesen!" verlangte Knut energisch. "Also ich sehe hier -" er fuhr mit dem Nagel des Zeigefingers darüber - "daß du bald eine große Reise antreten wirst, weit über das Meer. Und daß ein älterer Mann eine zentrale Rolle in deinem Leben spielen wird."

"Das ist dein Wunschdenken, Pappa!" warf Ismene ein.

"Soll ich deine auch lesen, Issy?"

"Danke, danke!" Ismene zog ihre Hände eng an sich heran.

Auf der anderen Seite des Kanals gingen in den Hochhäusern die Lichter an und warfen bunte Reflexe auf das leicht zitternde Wasser, dessen Oberfläche im Kontrast dazu tief schwarz wirkte.

"Schaut euch das an," rief Knut mit einer weit ausholenden Armbewegung aus, "ist das nicht zauberhaft? Die blaue Stunde am Singapore River."

Wir tranken unser Bier aus und gingen zu einem Taxistand, bei dem, anders als in Deutschland, nicht wartende Wagen standen, sondern Fahrgäste sich in einem gelb markierten Bereich anstellen mußten, um von vorbeikommenden Wagen aufgelesen zu werden. Das ging sehr flott, und als Knut und Alkestis auf dem Rücksitz Platz nahmen, wollte Ismene mir etwas zuflüstern, aber Knut rief von hinten "Komm zu uns, Issy," und ich mußte mich neben den Fahrer setzen.

Als wir an der Rezeption auf unsere Schlüssel warteten, verkündete Cis: "Ich geh sofort unter die Dusche."

"Davon schwitzt du nur noch mehr," wurde sie von ihrer Schwester belehrt, die schon ein paar Tage hier war. "Du mußt dich mit einem heißen Waschlappen abreiben."

"Das ist ein merkwürdiges Phänomen," erklärte Knut, "daß hier bei Einbruch der Dunkelheit die Luftfeuchtigkeit stark ansteigt. Das beste Gegenmittel ist ein Gin Tonic und das Einschalten des Deckenventilators, den sie hier zum Glück haben. Wir treffen uns um halb acht am Eingang des Schanghai-Restaurants hier im Hauptgebäude."

Kaum hatte Ismene ihren Zimmerschlüssel in der Hand, da marschierte sie los, ohne auf den Rest der Familie zu warten. Knut ging ins Business Center.

"Zeigst du mir, wo du wohnst," drängte mich die zurückgelassene Alkestis. "Für den Notfall."

Ich berührte ihren Ellenbogen.

"Für den Notfall nimmst du in diesem Klima besser den Zeigefinger," neckte ich sie.

"An was du immer denkst." Sie boxte mich kräftig auf den Oberarm.

Ich schloß meine Zimmertür auf.

"Dein Bett ist riesig," schwärmte sie.

"Ich möchte nicht in die Schrotflinte deines Vaters blicken," sagte ich schlicht.

"Er hat etwas Protektives. Ist das nicht wunderbar?"

"Für dich mehr als für mich."

"Du bist kein Hasenfuß. Hilf mir aus dem Kleid heraus."

Ich schloß erst das Zimmer von innen ab. Aber sie hatte es nicht auf mich abgesehen, sondern den Trick mit dem nassen Waschlappen.

"Zeig mir nochmals das Foto," bat sie, während sie herumtänzelte, um die Verdunstungskühle zu spüren.

Ich reichte es ihr.

"Ich habe die ganze Zeit eine Stimme im Hinterkopf, die mir sagt, daß etwas nicht stimmt."

"Was sagt sie denn?"

"Ich weiß, daß du mich hysterisch findest, auch wenn du es nicht zugibst, aber ich bin mir todsicher, daß der Junge auf diesem Foto mein Bruder ist, und niemand anderes."

"Du hast doch gehört, was dein Vater erzählt hat."

"Erwachsene lügen immer."

"Du bist selber eine Erwachsene."

"Wenn es mir paßt. Weißt du was wir jetzt machen? Ich frage Frau Hallstein, was Sache ist."

"Du kennst sie kaum."

"Ich will ihre Version hören."

"Bitte." Ich holte das Telefonregister heraus, um alle Vorwahlen zu finden.

"Hansa Marine, Hallstein," meldete sich eine vertraute Stimme.

"Hier Markus Hellmann in Singapur. Wir hatten einen guten Flug und haben gerade einen wunderschönen Sonnenuntergang erlebt. Ich übergebe an Alkestis Hansen."

"Hallo Susanne."

"Hallo Frau Hansen."

"Du weißt, weshalb wir alle in Singapur versammelt sind, Ismene, Hellmann und ich."

"Keine Ahnung."

"Es geht um die Frage, ob wir meinen Vater in die Geschäftsleitung nach Hamburg zurückholen, jetzt wo Opa abbaut."

"Wessen Idee ist das?"

"Das haben Ismene und Pappa über Weihnachten ausgeheckt."

"Wie wollt ihr euren Großvater überzeugen?"

"Das wird sich zeigen."

"So. So."

"Ich dachte, das würde dich interessieren. Immerhin habt ihr zwei euch einmal sehr nahegestanden."

"Was ist das für ein Schauermärchen?"

"Vater hat alles gestanden. Her Hellmann hat uns das Foto von dir und deinem Sohne gezeigt. Dadurch sind wir darauf gekommen. Und Vater hat uns die ganze traurige Geschichte eurer Beziehung erzählt, bis hin zum Besuch beim Frauenarzt, wo Vater dir die Hand gehalten hat."

"Was hat er zum Foto gesagt?"

"Er hat gesagt, daß du ein Engelsgesicht hast, und daß Leon nie im Leben sein Sohn ist."

"Dann weißt du ja Bescheid."

"Ich weiß, daß ich nichts weiß. Ich möchte von dir hören, was an dem Tag im Behandlungszimmer des Frauenarztes passiert ist."

"Das geht dich überhaupt nichts an."

"Glaubst du nicht, daß es für Leon schön wäre, wenn er eine Schwester wie mich hätte, die mit ihm auf der Alster Schlittschuhlaufen geht?"

"Ach, Kind, du träumst."

"Also, was ist in der Arztpraxis passiert?"

"Der Doktor hat mich untersucht, die Assistentin hat mir eine Spritze Evipan gegeben, und als ich wieder aufwachte, war alles vorbei."

"Kein Wort wahr. Ich werde dir sagen, wie es gelaufen ist. Der Arzt hat dich untersucht, und dann hat er gesagt, eigentlich möchte er den Eingriff nicht vornehmen, aber weil du noch zu jung bist, um ein Kind zu versorgen, würde er es machen, wenn du es absolut willst, aber nur wenn du es willst, und nicht dein Chef. War es so?"

"Ich sagte ihm, ich will meine Stellung nicht verlieren. Das war mir das Wichtigste. Er sagte, ich schreibe dich erst einmal krank, und anschließend tritt automatisch der Mutterschutz in Kraft, da kann dir nichts mehr passieren. Ich fragte ihn, was wird Knut sagen..." Susanne schluchzte jetzt laut. "Er schlug vor, es mit der Notlüge zu versuchen, wir hätten den Eingriff erfolgreich durchgeführt, um mir Auseinandersetzungen zu ersparen, und aus dieser Notlüge wurde eine Dauerlüge. Knut hat Hamburg sehr schnell verlassen. Er weiß wirklich nicht, daß Leon von ihm ist. Du bist die erste, die diesen Betrug durchschaut."

"Das ist kein Betrug, das war Notwehr. Glaubst du, wenn Pappa nach Hamburg kommt, daß ihr euch wieder versteht?"

"Niemals. Ich bin nicht mehr die dumme Gans, die ich damals war, und ich sehe doch, was für ein Leben er führt durch seine Spesenabrechnungen. Er ist bestimmt ein großartiger Mann und Vater, aber nicht für Leon und mich. Bitte, bitte sag ihm nichts von unserem Gespräch."

"Das bleibt unter uns." Sie legte auf.

"Du warst unglaublich taktlos," kommentierte ich.

"Das ist meine Stärke. Nicht wahr? Jetzt ist mir kalt." Ihr fast nackter Körper war in der klimatisierten Raumluft ausgekühlt.

Das Restaurant im Hauptgebäude war im China-Kitsch-Stil dekoriert. Wir wurden zu viert an einen runden Tisch mit einer Drehplatte in der Mitte gesetzt.

"Habt ihr was gegen Enten?" fragte Knut.

"Nicht gegen gebratene."

"Die Spezialität des Hauses nennt sich Schanghai Ente. Ihr habt sicher schon von der Peking Ente gehört."

"Die ißt man mit kleinen Plinis," steuerte ich bei.

"Peking ist die Hauptstadt von China, aber die Leute in Schanghai glauben daß sie alles viel besser machen. Deshalb nennen sie ihr Gericht Schanghai Ente, obwohl es genau so zubereitet wird. Ihr werdet selber entscheiden, ob es genau so gut oder noch besser ist."

"Ich habe einen Film gesehen," erzählte Ismene, "wo junge Enten in China zwangsernährt werden. Es war wie umgekehrtes Erbrechen."

"Na, na , na, was sind das für Ausdrücke!" rügte der Vater. "Das tut man, damit die Tiere Fleisch ansetzen. Die Enten hier herum, Indonesien, Thailand, sind alle viel zu dünn, um geschlachtet zu werden."

"Das zeigt, daß die Tiere schlau sind," erklärte Cis. "Nur Menschen überfressen sich."

"Heute könnt ihr das ruhig," empfahl Knut.

Ich hatte schon einmal Peking Ente in einer Runde gegessen, aber das war ein armseliges Gerippe gewesen im Vergleich zu dem, was hier aufgetischt wurde. Der Fülle nach mußte das Fleisch zu einer Gans gehören, aber es schmeckte deutlich nach Ente. Kein Zweifel, die Köche von Schanghai waren die Besten. Um sich in meinem Bauch wohl zu fühlen, brauchten die Enten eine Menge Bier, mehr als ich sonst trank, und nach und nach verlor ich den Faden.

Das fiel nicht weiter auf, denn Knut war die Hauptperson, und er legte es darauf an, vor seinen Töchtern zu brillieren. So weit ich es noch mit bekam, erklärte er ihnen, daß nicht Susanne der Anlaß für sein Zerwürfnis mit dem Schwiegervater war, sondern daß ihn der langsame Krebstod seiner Frau so in Anspruch genommen hatte, daß er sich nicht genug für die Firma einsetzen konnte und mit seinen Verbesserungsvorschlägen viel zu spät kam. Die Augen der Töchter glänzten. Ich verstand nichts davon und blickte lieber in die Bläschen meines Biers.

 Das Läuten eines Telefons weckte mich. Ich begriff nicht, wo ich war. Ich fühlte mich, als hätte ich in vierundzwanzig Stunden ein halbes Menschenleben durchlebt. Die ewige Flughafenlauferei in Frankfurt, dann auf dem Zweiersitz das blonde Haar auf meiner Schulter, die plötzliche Schwüle im Flugzeug kurz vor der Landung, der Glaskrug  mit dünnem Bier am Singapur River, die unglaublich zarte Ente. Ich mußte in meinem Zimmer eingeschlafen sein. Das Telefon klingelte weiter. Es war drei Uhr morgens auf der Nachttischuhr.

"Ja," sagte ich orientierungslos.

"Hast du schon geschlafen?" Es hörte sich an wie Ismenes Stimme.

"Ich weiß es nicht."

"Das ist normal. Machst du auf, wenn ich klopfe?"

"Hm." Ich rannte ins Badezimmer um mir die Zähne zu putzen.

Es dauerte dann doch etwas länger, bis es klopfte. Ismene trug den dünnen, schwarz-weiß gemusterten Kimono, den das Hotel in die Badezimmer hängte.

"Ich habe solche Angst." Sie umarmte mich, ohne geküßt werden zu wollen.

"Wovor hast du Angst?"

"Vor allem." Sie preßte sich an mich, und ihr fester Körper zitterte.

"Man hat nie vor allem Angst. Man hat immer vor etwas Bestimmtem Angst, vor einem schmutzigen Totenkopf, in dem noch ein Auge steckt, vor einer schwarzen Vogelscheuche."

"Ich habe aber vor etwas Unbestimmtem Angst. Wollen wir uns hinsetzen, dann können wir besser reden." Sie nahm unbefangen auf der Bettkante Platz.

"Ich bin jetzt sechs Tage in diesem fremden Land mit einer unverständlichen Schrift und einem fremden Mann, der mir ein schreckliches Rätsel ist."

"Warum ein schreckliches Rätsel? Warum nicht bloß ein Rätsel?"

"Weil ich eine wahnsinnige Angst habe, herauszufinden was für ein Mensch mein Vater ist, von was für einem Menschen ich abstamme."

"Die Geschichte von Susannes Abtreibung hat dir nicht gefallen."

"Unter anderem." Sie zog die Beine im chinesischen Schneidersitz an sich. "Jetzt weiß ich wieder, was mich so aus der Fassung gebracht har. Heute, beim Abendessen, sind erst du und dann Cis ans Nachspeisen-Büffet gegangen. Vater blickte Cis wohlwollend nach, und dann sagte er mit seinem spitzbübischen Lächeln:

'Wenn der Wahrsager recht hat und Aphrodite etwas zustößt, erben wir jeder die Hälfte ihres Anteils. Wie wäre das?' Ich habe mich vor Schreck an meinem Wein verschluckt."

"Ja, ich erinnere mich, er klopfte dir liebevoll auf den Rücken. Der Wahrsager hat gar nichts prophezeit."

"In der Oper, die wir gesehen haben, wollte die Wahrsagerin auch nicht mit der Wahrheit heraus, und dann hatte sie entsetzlich recht."

"Ein publikumswirksamer Effekt. Du hast dir bestimmt überlegt, wo Cis am ehesten etwas zustoßen könnte."

"Verrückt, von mir. Nicht wahr? Wir machen übermorgen, nein, jetzt schon morgen abend die große Dinnerkreuzfahrt rund um Singapur herum. Bei unserer Yacht-Kundschaft kommt es laufend vor, daß einer plötzlich ins Wasser fällt, und niemand bemerkt es rechtzeitig."

"Dann müssen wir auf der Kreuzfahrt gut auf sie aufpassen.

"Ja, das machen wir," sagte sie erleichtert und stand auf. Ich begleitete sie bis zur Tür und stellte die Klimaanlage ab. Nur den großen Deckenventilator ließ ich laufen, wie es die Mitglieder des Deutschen Clubs vor dem Ersten Weltkrieg gewohnt waren.

 

15. KAPITEL

Alle vier trafen wir uns wie auf Verabredung beim großen Frühstücksbüffet.

Knut und Ismene hatten für den Tag Besuche bei Kollegen und Konkurrenten geplant. Cis wollte sich an den Swimmingpool legen, weil sie, wie sie sich einbildete, die ganze Nacht kein Auge zugemacht hatte. Ich wurde nicht gefragt. Und das war gut so. Ich verdrückte mich ins Business Center, wo ich eine kompetente Beraterin fand, die verstand, was ich wollte und meine Anfrage in viele chinesische Telefongespräche umsetzte.

"Was für einen Markt bedienen Sie?" fragte sie, vom Telefon aufblickend.

"Wir beliefern Hunderte, wenn nicht Tausende von Yachtbesitzern in Europa," prahlte ich.

"Wie lange bleiben Sie in Singapur?"

"Nur noch zwei Tage."

Sie schrieb etwas auf einen Zettel.

"Herr Lau von Singapore Maritime Electronics hätte um elf Uhr dreißig Zeit Sie über seine Neuentwicklung zu informieren."

Ich scheuchte Cis von ihrer Liege am Swimmingpool hoch. Sie hatte gar nicht geschlafen, sondern studierte einen Stadtführer, den das Hotel auf alle Nachttische legte.

"Komm, es wird ernst, ein Hersteller von elektronischen Schwimmwesten will uns sehen," sagte ich.

"Was ist denn das für ein Gag?"

"Ein ganz neues Produkt. Sie suchen einen Vertriebpartner für den europäischen Markt."

"Du denkst schon wie Ismene."

"Du bist genau so tüchtig."

"Hoffentlich." Sie ging sich umziehen.

 Die Firma Singapore Maritime Electronics befand sich in einem Hochhaus, das wie ein Altbau wirkte, verglichen mit den Gebäuden, die wir auf der Stadtbesichtigung gesehen hatten. Es hatte keine abgehängte Glasfassade, sondern Fenster in lackierten Eisenrahmen. Nur einige Stockwerke gehörten dem Unternehmen. Am Empfang wußte man schon Bescheid. Eine Chinesin in weißer Bluse und schwarzem Rock führte uns zu Herrn Lau, dem Generaldirektor.

Er war ein mittelgroßer Mann mit Bürstenschnitt, der ausgesprochen wohlgenährt aussah, ohne dick zu wirken. Sein Mund war zu einem unablässigen Lächeln hochgezogen. Sein Arbeitszimmer wirkte bescheiden. Er plazierte uns auf zwei Besuchersessel und nahm selber hinter seinem aufgeräumten Schreibtisch Platz.

Die Sekretärin von eben brachte uns wortlos drei Becher mit Jasmintee.

"Mir wurde gesagt," eröffnete Lau das Gespräch, "Sie sind Jachtausrüster." Dabei löste er die Augen kurz von Cis, um mich erwartungsvoll anzublicken.

"Ich nicht. Die junge Dame hier."

Cis überreichte ihm ihre grünblaue Visitenkarte. Als er sie in die Hand nahm, wich sein Lächeln einem ungläubigen Staunen. Aber nur für einen Augenblick. Dann kehrte das Lächeln zurück. Er studierte die Visitenkarte.

"Beinahe der gleiche Name," stellte er fest. "Hansa Marine – Singapore Maritime. Wer sind Ihre Kunden?"

"Alles was Segel setzt. Wir versorgen auch Container-Schiffe."

"Woher wissen Sie, daß wir eine signalgebende Schwimmweste entwickeln?"

"Ich wußte es nicht," erwiderte Cis. "Mehr eine Hoffnung." Sie spielte sich schnell in die Situation ein. "Wissen Sie, bei größeren Segelbooten kommt es immer wieder vor, daß einer unbemerkt über Bord fällt, ohne daß die anderen etwas mitbekommen."

"Für solche Fälle," ging Lau auf sie ein, "bauen wir Schwimmwesten, die das Wasser intensiv rot färben und ein Funksignal ausstoßen. Aber das hilft nichts, wenn das Boot einige Meilen weiter gefahren ist und niemand ein Peilgerät bedient."

"Bei uns sagt man," erwiderte Alkestis, "Wasser hat keine Balken."

"Hier kommt es darauf an, daß eine mit Wasser in Berührung gekommene Schwimmweste über Wasser sichtbar Signale aussendet. Kalte Blitze sozusagen."

"Selbst wenn das technisch möglich wäre," nahm Cis den Faden auf, "an warmen Sommertagen präsentieren sich Segler am liebsten in Badehosen und Bikinis. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand bereit wäre, ein batteriebestücktes kiloschweres Monster zu tragen. Jeder glaubt doch, ihm passiert nichts."

"Sie haben recht," bestätigte Lau. "Bis vor kurzem war das ein unüberwindbares Hindernis. Aber die Mikroelektronik bietet uns ganz neue Möglichkeiten. Wir haben ein Verfahren entwickelt, daß es ermöglicht, ein speziell hergestelltes Gewebe als Impulsgeber zu benutzen. Nicht gerade ein Bikini, aber ein geschlossener Badeanzug, der ein über Wasser sichtbares Notsignal aussendet."

"Ein Gewebe, das man auf der bloßen Haut tragen kann, obwohl es elektrisch aufgeladen ist?"

"Elektronisch, nicht elektrisch."

"Das wäre ein riesiger Fortschritt, wenn das eitle Yachtbenutzer anstelle ihrer normalen Badebekleidung tragen könnten. Ich kann mir nur nicht vorstellen, daß man so etwa tragen kann, ohne dauernd elektrische Schläge zu bekommen."

"Warum probieren Sie das nicht am eigenen Leibe aus? Ich könnte für Sie einen Badeanzug aus diesem Material zur Probe maßschneidern lassen. Dann sehen Sie gleich, ob das etwas für Sie und ihren Markt ist."

"Ich bin nur über den Jahreswechsel hier. Wir fliegen gleich wieder zurück nach Hamburg.

"Bis morgen mittag könnte ein Musterstück fertig sein."

Er nahm den Telefonhörer auf. "Ich lasse eine Schneiderin zum maßnehmen kommen."

"Wollen Sie nicht erst den Finanzstatus unserer Firma sehen? Meine Schwester hat einen im Hotel."

"Ich sehe Sie, und das genügt mir vorerst."

Alkestis errötete. Eine ältere Chinesin kam herein und bat Cis, ihr zu folgen.

Lau nahm noch einmal ihre grünblaue Karte in die Hand. "Wissen Sie, wieviel Mitarbeiter Hansa Marine beschäftigt."

"Alles in allem," schätzte ich auf Geratewohl, "annähernd zweitausend."

"Bei Ihrem Gehaltsniveau," rechnete er schnell im Kopf, "wäre das eine Lohnsumme von mehr als sechzig Millionen Singapur Dollar. Da sind Sie ein Riese, im Vergleich zu uns. Welchen Status hat die junge Dame in der Firma?"

"Sie ist Mitinhaberin."

"Es gibt sie also wirklich, die Schönen und die Reichen, von denen man immer hört. Lassen Sie uns nach unten in die Schneiderei gehen."

Falls er gehofft hatte, Alkestis noch beim Umkleiden zu erwischen, kamen wir zu spät. Auch so blickte er sie bewundernd an.

Als wir gingen, drückte er uns am Ausgang noch eine Tragetüte mit Prospekten über die Produkte seiner Firma in die Hand.

Auf dem Rückweg fragte Alkestis: "Was hältst du von diesem Überraschungsangebot? Etwas plötzlich, alles."

"Ihm liegt daran, dich wiederzusehen."

"Quatsch!" Sie stieß mir den Ellenbogen in die Rippen.

"Die hier sind in der Elektronik viel weiter als wir."

"Das Gebäude sah schäbig aus."

"Sie investieren in Forschung und Entwicklung."

"Das ist alles so unwahrscheinlich. Gut, ich ziehe das Ding morgen auf dem Schiffsausflug an. Dann gehe ich wenigstens nicht unter, wenn mich ein Betrunkener über Bord stößt. Aber sag den anderen nichts. Das bleibt unser Geheimnis."

 

16. KAPITEL

 

Am nächsten Tag fragte ich Alkestis beim Frühstück unauffällig:

"Wie hast du geschlafen, ohne mich?"

"Fantastisch!" war die Antwort.

Sie himmelte die ganze Zeit ihren Vater auf eine Weise an, die in mir den Eindruck erweckte, daß sie ihren Vater wiederentdeckt hatte. Sie entschied sich auch, am Vormittagsprogramm von Knut und Ismene teilzunehmen. Ich wurde wieder nicht gefragt. Der Nachmittag war offen für die Inselrundfahrt, die gegen sechzehn Uhr dreißig begann.

Ich besuchte Singapur Maritime Electronics, um zu erfahren, daß das Korsett um vierzehn Uhr fertig sein würde. Sie gaben mir auch die Adresse der Reederei, die die Rundfahrt organisierte. Ohne konkreten Grund fuhr ich hin. Nach langem Zögern händigte man mir einen ausführlichen Grundriß des Schiffes aus. Es reizte mich, daß die Leute sichtlich genervt waren von meinen Fragen nach den Sicherheitsvorkehrungen, und ich machte mir einen Spaß daraus zu fragen, ob es ein Beiboot gab, und ob es mit Mannschaft hinter dem Schiff hergezogen wurde, oder im Falle eines Falles vom Bootsdeck heruntergelassen werden müßte, und wie lange das dauern würde.

"Warum bleiben Sie nicht an Land?" fragte mein Gegenüber gereizt.

"Ich habe die Karte geschenkt bekommen," erwiderte ich.

Die Hansens kamen erst kurz vor zwei zurück und wollten um drei schon wieder los, weil das Einschiffen erfahrungsgemäß viel Zeit in Anspruch nahm. Ich stahl mich mit Cis davon und nahm ein Taxi zu SME. Dort erwartete man uns schon. Cis wurde in einen Umkleideraum geführt und kam nach einer Weile in einem hellgrauen Korsett herausgetänzelt.

"Wie sehe ich aus?" fragte sie.

"Place Pigalle," erwiderte ich.

Als sie das Kleid überzog, sah man nichts mehr von der Unterkonstruktion.

Der Firmenchef wurde herbeigerufen und machte zufriedene Augen.

"Tun Sie mir einen Gefallen," bat er Cis. "Springen sie auf keinen Fall mutwillig ins Wasser. Das kann Störung der öffentlichen Ordnung sein und in Singapur hart bestraft werden."

"Keine Angst," erwiderte Cis, "ich bin selber Seemann."

Weder Knut noch Ismene bemerkten etwas von der neuen Unterwäsche.

In der Menschenschlange, die sich aufs Schiff drängte, standen Ismene und ich zufällig außer Hörweite der anderen zusammen.

"Denkst du noch an die Wahrsagerin im Maskenball?" fragte ich.

"Nur präventiv. Man sieht hier schnell Gespenster. Das ist Asien."

"Ich verspreche dir, Cis im Auge zu behalten."

"Das tust du sowieso."

Jetzt wäre der Augenblick gekommen, Ismene über das Sicherheitskorsett zu informieren. Aber Cis hatte mich gebeten, den anderen nichts zu erzählen, weil sie aus ihren Reaktionen ablesen wollte, ob man wirklich nichts sah.

Ich kannte die uralten Ausflugsdampfer auf dem Starnberger See, wo man an festgeschraubten Klapptischen saß. Der schwimmende Palast, zu dem wir hochstiegen, die MS Merlion, war im Vergleich dazu ein Kreuzfahrtschiff. Chinesen interessieren sich nicht für Sehenswürdigkeiten, es sei denn, man stellt ein Verkehrsschild mit einer Kamera daneben. Die Inselrundfahrt war nichts als ein Vorwand für ein Schlemmer-Dinner. Auf zwei Decks wurden ununterbrochen Speisen serviert. Im Unterdeck gab es elektronische Flimmerspiele für die Kinder. Kaum hatten wir vom Kai abgelegt, machte alle paar Minuten eine melodische Lautsprecher-Stimme auf frisch fertig gestellte Leckerbissen aufmerksam. Knut warnte uns vor Salaten, Muscheln und allen Speisen mit Mayonaise.

Ich hielt mich beim Trinken zurück, entdeckte aber Canapees mit gebratener Ente, die noch warm waren. Dabei verlor ich die anderen aus den Augen. Vorsichtshalber machte ich einen Rundgang an allen Relingen entlang, deren Lage ich mir nach dem Grundriß gemerkt hatte. Auf dem Promenadendeck entdeckte ich Cis und Knut wieder. Sie standen an Backbord, der von der leuchtenden Stadt-Silhouette abgewandten Seite des Schiffs. Der Wind trug mir Fetzen ihres Gesprächs zu.

"Weißt du noch, wie ich dich als Kind immer in die Luft geworfen habe?"

"Ich habe dich so bewundert."

"Weißt du noch, was du immer gerufen hast?"

"Hoch, Pappa, hoch."

"Glaubst du, daß ich das immer noch kann?"

"Ich bin zu schwer. Ich wiege siebzig Kilogramm."

"Weißt du nicht, daß ich ein starker Seebär bin? Ich beweise es dir." Er unterfaßte ihre Schultern und Knie und hob sie bis in Brusthöhe an. Dann warf er sie hoch, und sie rief:

"Hoch, Pappa, hoch."

Er setzte sie wieder ab.

"Wie war das?"

"Wunderbar."

"Du bist schön schwer geworden. Schwerer als deine Mutter es war, bevor sie starb. Aber einmal schaffe ich es noch."

Auf einmal schämte ich mich, Augenzeuge einer solchen Intimität zu sein. Ich trat hinter das Gehäuse eines großen Belüfters.

"Hoch, Pappa - " rief Alkestis. Ich wartete auf das zweite "hoch". Es kam nicht. Viel zu spät begriff ich, was das bedeuten konnte. Ich rannte auf die Stelle zu, an der ich die zwei zuletzt gesehen hatte. Sie waren beide verschwunden. Ich blickte über die Reling. Unten, fast am Heck des Schiffes, schnellte ein Delphin in die Höhe und klatschte zurück. Dann brach ein schwaches rotes Leuchten über dem Wasser aus. Das mußte die elektronische Schwimmweste sein. Wie gut, daß Cis sie anhatte.

Eine verzerrte Lautsprecherstimme, die von einem Tonband kommen konnte, rief etwas, das klang wie "Mann über Bord. Alle Maschinen stop. Ruder Steuerbord hundertachtzig Grad."

Der Schiffsleib ächzte und legte sich auf die Seite. Eine gepflegte Lautsprecherstimme verkündete:

"Meine Damen und Herrschaften, hier spricht der Kapitän. Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Wir führen gerade eine vorgeschriebene Seenotrettungsübung durch, die vorher nicht angekündigt werden darf. Wir sind dabei, das Beiboot auszusetzen, und in wenigen Minuten werden wir sehen, wie die Testperson an Bord geholt wird. Dann setzen wir unsere Fahrt wie geplant fort. Wie dieser Vorfall zeigt, tun wir alles, um die Sicherheit unserer Passagiere zu garantieren."

Das sah gut aus. Jetzt mußte ich den Kapitän informieren. Ich rannte zu der Stelle, wo sich der Aufgang zur Brücke befand. Eine steile enge Treppe führte nach oben.

"Bleiben Sie unten, Mann," rief ein weißgekleideter Offizier, der am Ende der Treppe stand.

"Ist der Kapitän oben?" fragte ich.

"Nicht für Sie."

"Ich bin Unfallzeuge."

Widerwillig ließ man mich nach oben kommen.

"Herr Kapitän!" rief ich.

Der Schiffsführer war ein zerfurchter Schotte.

"Was wissen Sie?"

"Der Passagier, der über Bord gefallen ist, das ist eine deutsche Unternehmerin aus der Schiffsausrüstungsbranche."

Ich überreichte ihm die letzte Geschäftskarte, die ich von Cis besaß.

"Ja, ich sehe. Sagen Sie, was ist das für ein verrücktes rotes Wetterleuchten?"

"Das ist ein in Singapur neu entwickeltes Ortungssystem, das wir auf dem europäischen Markt einführen wollen. Aber es ist für betrunkene Yachtbesucher in Monte Carlo gedacht. Nicht für einen Sturz vom Promenadendeck."

"Vom Promenadendeck? Haben Sie das gesehen?"

"Sie lehnte an der Backbord-Reling. Ich blickte nach Steuerbord zu den Lichtern der Stadt, und als ich wieder zu ihr hinsah, war sie verschwunden."

"Wenn sie das überlebt hat!"

"Käptn," rief der Offizier, der am Treppenabgang stand und mit einem Fernglas den Horizont absuchte, "wir haben sie im Scheinwerfer des Beiboots. Sie bewegt sich. Sie winkt. Nein, sie krault. Eine erstklassige Schwimmerin."

"Da haben wir alle Glück gehabt," brummte der Kapitän. "In fünf bis zehn Minuten haben wir sie oben. Hoffentlich war es kein Übermut oder Selbstmordversuch."

"Ausgeschlossen. Was werden Sie jetzt für sie tun?"

"Wir bringen sie zur Beobachtung ins Schiffshospital. Wir haben sogar einen weiblichen Schiffsarzt an Bord."

Er nahm ein Mikrofon in die Hand. "Frau Dr. Maria Fuentes, Frau Dr. Maria Fuentes, Sie übernehmen sofort den Dienst im Schiffshospital."

"Wir müßten auch die Angehörigen von Frau Hansen informieren. Ihre Schwester und ihr Vater sind an Bord und haben nichts mitbekommen. Wenn Sie gestatten, kann ich eine Durchsage auf Deutsch machen, dann wissen die anderen nicht, worum es geht."

"Hier," der Kapitän hielt mir das Mikrofon hin  "auf den Knopf drücken."

"Achtung, Achtung," sagte ich, "Frau Ismene Hansen aus Hamburg und Herr Knut Hansen, ich wiederhole, Frau Ismene Hansen und Her Knut Hansen, bitte melden Sie sich im Bordlazarett." Ich ließ den Knopf los.

"Darf ich jetzt wieder die Führung des Schiffes übernehmen?" fragte der Schotte.

"Entschuldigen Sie die Unannehmlichkeit!" sagte ich.  "Ich gehe jetzt nach unten."

"Ich fürchte wir sehen uns noch. Wie war Ihr Name?"

"Hellmann, Mark Hellmann."

Der Offizier am Treppenabgang blickte fasziniert durch das Fernglas und bemerkte nicht, daß ich an ihm vorbei wollte.

"Was sehen Sie?" fragte ich.

"Das Beiboot hat sie fast erreicht. Jetzt werfen sie ihr einen Rettungsring zu."

"Verdächtiger Vorgang auf dem C-Deck," kam es aus einem Lautsprecher an der Decke. "Ein Mann, der die Rettungsaktion an der Reling verfolgt, zieht seine Schuhe und seine Jacke aus. Es sieht aus, nein, er springt, er springt!"

"Idiot!" rief der Kapitän. "Hört das denn gar nicht auf?"

"Ich stehe jetzt an der Reling. Er taucht nicht wieder auf. Wir machen so wenig Fahrt, er müßte zu sehen sein".

"Orientierungsboje werfen," befahl der Kapitän.

"Ich habe hier die Jacke des Mannes, mit Papieren. Er wohnt im Goodwood Park Hotel. Er heißt Hansen. Was ist los mit ihm? Warum kommt er nicht wieder hoch?"

"Der Mann ist der Vater der über Bord Gefallenen," erklärte ich. "Ein erfahrener Hochsee-Segler."

"Jetzt gehen Sie mal runter," schnauzte der Kapitän mich an, "und passen Sie auf, daß die dritte Person Hansen nicht auch noch über Bord geht. Der Vater trägt wohl kein SME-System?"

"Nein."

"Das wäre auch zu schön gewesen."

Als ich die Treppe hinunter kletterte, hörte ich noch den Kapitän sagen: "Hallo,  Küstenwache, hier ist die MS Merlion, Position..."

Vor dem Bordlazarett fand ich Ismene im Gespräch mit einer zierlichen, dunkelhäutigen Asiatin in weißem Kittel.

"Ich habe auch keine Ahnung," sagte sie.

"Frau Dr. Fuentes, wir bringen gerade eine Frau an Bord, die vom Promenadendeck ins Meer gefallen ist. Es handelt sich um die Schwester von Frau Hansen hier."

"Alkestis?" rief Ismene entsetzt.

"Aber nicht unbemerkt. Sie trug ein Signalsystem, das beim Aufschlag ins Wasser aktiviert wird."

"Waren das die roten Blitze?"

"Ja."

"Wie kommt sie dazu?"

"Es ist ihr Spielzeug. Sie will es in Deutschland auf den Markt bringen."

Die Ärztin hatte aufgeschlossen und ließ Wasser in eine Badewanne. Eine junge chinesische Krankenschwester war plötzlich da.

"Wo ist Vater?" fragte Ismene. "Hat er deine Ansage nicht gehört?"

In diesem Augenblick wurde eine tropfende, in eine Wolldecke gehüllte Alkestis von zwei Matrosen herbeigeführt. Ihr Haar klebte in Strähnen an ihrem Kopf.

"Guten Tag, Miß Hansen, ich bin Dr. Fuentes."

Cis ergriff die ihr dargebotene Hand und sagte: "Mir geht es gut, danke, ich brauche keinen Arzt."

Dann warf sie sich mir an den Hals.

"Er hat mich nicht aufgefangen," weinte sie, "ich war zu schwer für ihn. Ich habe es erst nicht bemerkt. Ich dachte, er wirft mich noch einmal so hoch wie als kleines Kind, und dann sah ich die Bordwand mit ihren erleuchteten Fenstern an mir vorbei gleiten, und ich hatte gerade noch Zeit, mit den Fußspitzen voran ins Wasser zu prallen, und dann machte ich ganz automatisch einen Parabol-Dive."

"Was ist das?"

"Sofort unter Wasser wenden, um durch die Schwerkraft wieder nach oben getragen zu werden."

"Ich dachte, ich höre einen Delphin springen."

"Ich war der Delphin. Ich habe Pappa vertraut, und er hat mich nicht gehalten." Sie schluchzte heftig.

"Wir werden jetzt ein Bad nehmen," sagte die Ärztin, "das Meerwasser hier ist sehr schmutzig. Und Schwester Han wird Ihnen die Haare waschen."

"Das wäre gut," sagte Cis automatisch.

"Sie müssen leider draußen bleiben," sagte die Ärztin zu mir.

"Lassen Sie ihn, er tut meiner Schwester gut," verlangte Ismene.

"Das ist in Singapur nicht üblich."

"Sind wir hier nicht in internationalen Gewässern?"

"Mir steht kein Urteil über Ihre Moral zu. Wenn Sie glauben, daß es gottgefällig ist, kann der junge Mann mitkommen."

Die Badewanne aus Leichtmetall war schon halbvoll mit Wasser. Die Schwester schälte Cis aus der Wolldecke heraus. Das nasse Sommerkleid war vom Korsett heruntergezogen und klebte an den Oberschenkeln.

"Ist das die Wunderwaffe?" fragte Ismene. Sie half ihrer Schwester aus dem Kleid, weil die beiden Medizinerinnen Distanz hielten.

"Das schneiden wir am besten herunter, " sagte die Ärztin, als sie das auf der Haut klebende Korsett sah und griff nach einer chirurgischen Schere mit gebogenen Klingen.

"Auf keinen Fall, das ist alles Elektronik."

"Macht das das rote Leuchten?" fragte die Schwester, die sich anschickte, die vielen Haken und Ösen an ihrem Rücken zu öffnen.

"Ja. Können wir das gut einwickeln? Wir müssen es morgen zurückgeben, es gehört uns nicht."

"Ich mach das," sagte die Schwester.

Die Ärztin goß inzwischen mehrere Spritzer eines Schaumbad-Konzentrats in das Badewasser, vermutlich um den Körper von Alkestis unsichtbar zu machen. Das Korsett sank hinunter. Die Schwester legte es weg und sagte zu Cis:

"Geben Sie mir Ihre Hand, ich helfe Ihnen in die Wanne."

"Der muß auch noch runter." Cis zeigte auf ihren Slip. "Vielleicht steckt ein Fisch drin." Sie hielt sich mit einer Hand an der Schulter der Schwester fest und befreite sich selber von ihrem letzten Kleidungsstück.

"Kein Fisch," lachte die Schwester.

"Ich fühle mich wie ein Fisch im Wasser," sagte Cis, als sie sich in das Schaumbad gleiten ließ.

"Tut es irgendwo weh?" fragte die Ärztin

"Sie können meinen Körper überall anfassen," erwiderte Cis.

"Nach dem Bad. Haben Sie keine Stelle, die schrecklich weh tut?"

"Nur meine Seele. Mark, warum ist Vater nicht hier?"

"Er ist dir nachgesprungen, als er sah, wie das Boot dich fand. Wahrscheinlich wollte er bei deiner Rettung dabei sein."

"Warum hat man ihn nicht mit herausgezogen?"

"Er war in diesem Augenblick nicht zu sehen. Aber sie suchen noch."

"Laß uns beten," sagte Ismene. Sie kniete sich neben die Badewanne und faltete die Hände.

"Unser Vater, der du bist im Himmel..."

Die philippinische Ärztin beugte auch ein Knie und betete auf Latein mit, obwohl sie nicht wußte, worum es ging.

"Wißt ihr, was ich glaube," sagte Alkestis plötzlich aus ihrem Schaum heraus, "es kann nur so gewesen sein, daß er das Gleichgewicht verloren hat und gestolpert ist, weil er mein Gewicht falsch in der Erinnerung hatte."

"Die einzige Erklärung," stimmte Ismene ohne rechte Überzeugung zu.

"Wir dürfen die Suche nach ihm nicht aufgeben."

"Die Küstenwache ist schon unterwegs."

"Das ist gut. Wenn ich nicht nach Singapur geflogen wäre, dann wäre das alles nicht passiert."

"Es wäre gut," sagte ich, "daß du eine offizielle Erklärung über deinen Unfall abgibst, in der dein Vater nicht vorkommt, da alles unklar ist."

"Was soll ich denn sagen?"

"Das ist ganz einfach," improvisierte Ismene, "du hast dich mit dem Arsch auf die Reling gesetzt, wie du das immer tust, ohne dich festzuhalten. Und dabei hast du das Gleichgewicht verloren."

"Ja, das könnte mir gut passieren."

"Ich habe dem Kapitän schon gesagt, daß ich dich allein an der Reling stehen sah," erzählte ich, "und plötzlich warst du weg."

"Dabei müssen wir bleiben," bekräftigte Ismene.

"Hast du mich wirklich gesehen? Waren noch mehr Leute auf dem Deck? Hast uns noch jemand beobachtet?"

"Nein, niemand."

"Sag, was du gesehen hast?"

"Ich sah euch an Backbord, und plötzlich warst du weg. An mehr kann ich mich nicht erinnern."

"Du mußt."

"Ich habe nicht hingeschaut, weil mit euer albernes Geschmuse auf die Nerven ging. Ich habe wirklich nichts gesehen."

"Wie dumm von dir! Ich bin jetzt still, damit sie mir die Haare waschen kann."

Ein paar Minuten später stand eine völlig frische Aphrodite unter uns.

"Ich werde jetzt ihre Reflexe untersuchen, aber Sie müssen alle rausgehen," verlangte die Ärztin.

"Komm," sagte Ismene und nahm die Krankenschwester an der Hand. Sie hatte das Korsett schon in ein Handtuch gehüllt und in eine Plastiktüte gesteckt.

"Wie kommt Cis an so ein Produkt?" fragte Ismene.

"Sie interessiert sich für Elektronik. Das weißt du doch. Wir haben zusammen die Firma besucht, die das produziert. Sie war begeistert. Sie will damit das Leben eurer Kunden verlängern."

"In Mittelmeersommernächten, das glaube ich gern."

Die Untersuchung dauerte über zehn Minuten.

Die Ärztin kam als erste heraus. Sie wandte sich an Ismene, ohne mich auszuschließen.

"Ihre Schwester hat alles unbeschadet überstanden. Ich möchte trotzdem, um ganz sicher zu gehen, die Untersuchung heute Abend um halb zwölf wiederholen."

"Wieso denn das?"

"Reine Routine. Wo wohnen Sie?"

Ismene hatte einen Lageplan des Hotels bei sich.

"Das ist gleich neben dem Grand Hyatt. Das finde ich."

Cis kam aus dem Untersuchungsraum, sie trug eine dunkelblaue Matrosenbluse, die ihr sehr gut stand, und eine lange weiße Hose.

Im Hotel fragten wir sofort an der Rezeption, ob es Nachrichten von der Küstenwache gab. Noch nicht. Cis instruierte den Empfang, die philippinische Ärztin auf ihr Zimmer zu schicken.

Ich ging zu mir nach oben, weil ich die Töchter mit ihrer Sorge um den Vater unter sich lassen wollte. Ich war schon eine ganze Weile auf meinem Zimmer, als Ismene anklopfte, die Ärztin im Gefolge.

"Ich muß Sie auch untersuchen," sagte Frau Dr. Fuentes. Das ist bei Liebespaaren so üblich."

"Wieso, hat meine Freundin etwas Übertragbares?"

"Nein, nein, das ist reine Routine."

"Ich ziehe mich zurück," sagte Ismene. Du findest mich bei Cis."

Die Ärztin setzte sich auf einen Besuchersessel und signalisierte mir, daneben Platz zu nehmen.

"Ich werde Sie nicht körperlich untersuchen, aber Sie müssen mir ein paar Fragen beantworten. Es ist wichtig."

"Bitte."

"Haben Sie regelmäßig Verkehr mit Ihrer Freundin?"

"Ein bis zweimal die Woche."

"Wie lange im Durchschnitt?

"Wozu wollen Sie das wissen?"

"Aus rein medizinischen Gründen."

"Fünfzig Minuten im Durchschnitt.

"Wenn Sie so lange aktiv sind, wechseln Sie oft die Stellung, um den Genuß zu steigern?"

"Eigentlich nicht. Wir haben unsere Lieblingsposition."

"Wie geht die?"

"So daß die Frau nicht belastet wird."

"Ich verstehe," sagte die Ärztin. "Das ist angenehm und schonend für ihre Partnerin. Hat Frau Hansen manchmal Schmerzen?"

"Ganz im Gegenteil. Sie hat eine so starke Freude, wie ich es noch bei keiner anderen Frau erlebt habe."

"Das kann auch ein Zeichen einer Dysfunktion sein."

"Wie meinen Sie das?"

"Ich habe nur laut gedacht. Wir müssen alle Möglichkeiten berechnen. Es ist möglich, daß Frau Hansen sich beim Aufprall aufs Wasser den Unterleib gestaucht hat. Ich habe für sie für morgen Mittag einen radiologischen Highspeed-Scan im Raffles-Hospital gebucht, damit wir da mal hineinschauen können."

"Rechnen Sie mit einer inneren Blutung?"

"Nein, das nicht. Sonst hätte ich sie sofort hingebracht. Ich will sehen was los ist. Die Radiologin, die das macht, wird Ihnen sofort die Diagnose sagen. Dann können wir hoffentlich alle beruhigt sein."

Ich brachte Frau Dr. Fuentes bis zum Ausgang, wo man schon das Grand Hyatt sehen konnte, ein Hotel, von dem ich nie begriffen habe, woher es den Anspruch nahm, sich "Grand" zu nennen.

"Ich hole Sie morgen vormittag ab. Die Radiologin ist eine Freundin von mir."

Sie nahm kein Taxi, sondern wollte den Bus benutzen, der an der Ecke vor dem Asia-Kaufhaus hielt. Ich war mit den Gedanken so durcheinander, daß ich vergaß ihr anzubieten, das Taxi für sie zu bezahlen, sondern mit ihr an der Haltestelle stehen blieb. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, daß sie mir etwas sagen wollte, aber dann kam der Bus. Sie winkte mir nach dem Einsteigen noch einmal zu. Sie war eine philippinische Gastarbeiterin, die ihre Familie unterstützen mußte. Sie konnte sich kein Taxi leisten.

Als ich durch die schwüle Nachtluft zurückging, kam mir die Sorge der Ärztin um Cis leicht übertrieben vor, aber ich fand keine Erklärung dafür.

Ich suchte direkt das Zimmer von Alkestis auf. Als die Mädchen mich sahen, hellte sich die Stimmung von Cis schlagartig auf:

"Erzähl, was ihr zwei so getrieben habt. Mußtest du ihr deinen Meister Johannes zeigen?"

"Wir haben uns nur unterhalten."

"Fast eine halbe Stunde? Das glaube ich nicht."

"Ich habe sie noch zum Bus begleitet. Sie hat mich gefragt, wie oft und wie lange wir uns lieben."

"Was geht das eine Schiffsärztin an?" mischte Ismene sich ein.

"Sie wollte vor allem wissen, ob du dabei Schmerzen hast?"

"Das hat sie mich auch gefragt. Ich bin doch keine Masochistin, habe ich ihr erklärt. Aber jetzt tut mir der ganze Bauch weh, so fest hat sie gedrückt."

"Ich geh noch mal die Küstenwache anrufen", sagte Ismene. "Die Unterlagen sind auf meinem Zimmer."

Ich blieb bei Chris. Ihr tat immer noch der Bauch weh, aber, wie ich annahm, vom Aufprall auf das Wasser, nicht von der ärztlichen Untersuchung. In der tropischen Luftfeuchtigkeit Singapurs hatte man wenig Freude am Schmusen. Aber es war schön zusammen zu sein.

 

17. KAPITEL

Beim Frühstück waren wir nur zu dritt.  Die fröhlich polternde Persönlichkeit Knut Hansens fehlte uns. Ismene telefonierte schon seit dem Aufwachen mit der Küstenwache nach seinem Verbleib, aber es gab keine Neuigkeiten.

"Stell dir vor," berichtete Ismene, "hier in Singapur sind wir Kapitalisten etwas ganz besonderes. Wir müssen nicht zur Befragung über den Unfallhergang in die Hafenmeisterei oder ein Polizeirevier. Nein, die Behörden kommen zu uns ins Haus."

Mir ging durch den Kopf, daß die Hansens in Hamburg genauso bevorzugt behandelt wurden, wie die Ermittlungen um die Schußverletzung Graf Kolmars gezeigt hatten, aber ich hütete mich das auszusprechen, weil ich bei Ismene keine frischen Narben aufreißen wollte.

Ein dunkelblonder Mann um die vierzig stieß zu uns. Es war der deutsche Konsul, den Ismene zur Unterstützung angefordert hatte. Er wirkte erfahren und gab sich sehr zuvorkommend. So prominente und attraktive Klientinnen hatte er wohl nicht oft.

Kurz vor zehn gingen wir alle in einen Besprechungssaal des Hotels und nahmen an einem langen Konferenztisch Platz. Die Sünder auf der einen Seite - Ismene, der Konsul, Alkestis in einem schwarzen Baumwollkleid, der Manager von Singapore Maritime Electronics, Herr Lau, dessen rotes Wetterleuchten im Spiel gewesen war, und ich.

Uns gegenüber die Autoritäten. Den Kapitän und seinen Offizier konnte ich schon. Herr Lau erklärte mir, wer die anderen waren. Der Hafenmeister - ein großer, kräftiger Mann, ein Offizier der Küstenwache, ein Kriminal-Beamter, ein Maat der MS Merlion, ein Protokollführer.

Der Hafenmeister ergriff das Wort. "Ich eröffne die Vernehmung zum Unfallhergang auf der MS Merlion, gestern Abend. Beginnen wir mit den Personalien."

"Meine Damen und Herren," setzte Ismene an, "ich darf uns kurz vorstellen. Ich bin Ismene Hansen von der Firma Hansa Marine in Hamburg. Ich danke Ihnen allen sehr, daß sie vorgeschlagen haben, die Befragung zum Unfallhergang auf der MS Merlion hier in konzentrierter Form durchzuführen. An meiner Rechten sehen Sie den deutschen Konsul und neben ihm sitzt meine Schwester Alkestis Hansen, die gestern Abend den ersten Unfall hatte. Das zweite Unfallopfer, mein Vater Knut Hansen, ist noch nicht aufgefunden worden."

"Das ist leider wahr," rief der Offizier der Küstenwache, "wir haben die ganze Nacht bis tief in den hellen Morgen nach ihm gesucht. Herr Hansen ist ein bekannter Regattasegler, der vor zwei Wochen noch bei tückischer See am Rennen Neuseeland-Tasmanien teilgenommen hat. Einem solchen Mann gilt unsere Anteilnahme, und es ist mir ein Rätsel, wie ein so erfahrener Segler letzte Nacht bei stiller See spurlos von der Meeresoberfläche verschwinden konnte."

Alkestis hielt sich ein Taschentuch vor das Gesicht und weinte.

"Vielleicht darf ich einmal den Hergang chronologisch erklären," schlug der Kapitän vor. "Gestern um 20.31 Uhr löste ein diensthabender Maat das Signal "Mann über Bord aus," das den Stop der Motoren und ein Wendemanöver veranlaßt. Kurz danach kam der junge Mann hier auf die Brücke." – Ich stand kurz auf. -  "Er erzählte mir aufgeregt, daß seine Chefin, Frau Hansen, ins Wasser gefallen sei, aber zum Glück mit einem modernen Ortungssystem ausgerüstet ist. Tatsächlich zuckten über dem Wasser rote Blitze auf, wie ich sie in meiner ganzen Dienstzeit noch nicht gesehen hatte, so daß es ein Kinderspiel war, Frau Hansen wieder an Bord zu bringen."

"Fanden Sie es nicht merkwürdig," fragte der Hafenmeister, "daß sich ein Passagier, der sich Ihrer Leitung anvertraut, mit so einem Sicherheitssystem ausrüstet?"

"Das war in der Tat sehr ungewöhnlich."

"Ich möchte ein Mißverständnis aufklären," sagte Lau. "Ich bin der Vorsitzende von Singapur Maritime Elektronics. Daß Frau Hansen ein von meiner Firma entwickeltes Sicherheitssystem trug, hatte absolut nichts mit der Schiffsrundfahrt zu tun. Sie will unser Produkt auf dem europäischen Markt einführen, und wir haben ihr schon gestern ein System auf den Leib maßgeschneidert, damit sie seine Trageeigenschaften über einen längeren Zeitraum ausprobieren kann. Bei der Übergabe habe ich Frau Hansen extra eingeschärft, daß es strafbar ist, wenn Sie damit mutwillig ins Wasser springt. Der junge Mann hier kann das bezeugen."

"Das habe ich alles gehört," sagte ich. "Frau Hansen erwiderte: "Wir sind Seeleute, wir machen keine Dummheiten."

"Wie darf ich den Ausdruck Wir sind Seeleute verstehen?" fragte der Vertreter des Hafenamtes.

"Unsere Familie, unsere Firma lebt von und für die Seefahrt," erklärte Ismene.

"Sie hatten also keine Schwierigkeiten, Herr Kapitän, Frau Hansen zu retten, dank des Produktes von Herrn Lau?"

"Absolut nicht."

"Können Sie ausschließen, daß es nicht doch ein heimlicher Testsprung war?"

"Mit großer Sicherheit. Sie ist aus zehn Meter Höhe vom Promenadendeck ins Meer gefallen. Ein solcher Sturz kann tödlich enden."

"Wie wäre es," fragte der Kriminalbeamte, "wenn uns Frau Hansen jetzt mit ihren eigenen Worten erzählt, was sich zugetragen hat."

"Es war gestern Abend zwischen acht und neun. Ich war auf das Oberdeck gegangen. Ich war wie berauscht. Die warme Nachtluft, der leuchtende Sternenhimmel. Ich sah ein sehr helles Sternbild, und ich fragte mich, ob das der auf die Seite gekippte Orion ist, wie wir ihn kennen, oder das Kreuz des Südens, das ich noch nie gesehen hatte. Um besser sehen zu können, setzte ich mich auf die Reling." Sie setzte sich mit dem Rücken zum Publikum auf den Tisch.

"Sie wollen ein erfahrener Seemann sein?" rief der Hafenmeister entsetzt.

"Mir ist nie etwas passiert, bis gestern. Ich weiß nicht einmal, wie es passiert ist. Ich sah plötzlich die erleuchteten Fenster der unteren Decks an mir vorbeistürzen, und da begriff ich erst, ich falle. Ich nahm automatisch die beste Aufschlaghaltung ein, und dann war ich im Wasser."

"Das war bodenloser Leichtsinn," sagte der Hafenmeister, "aber strafbar ist es nicht."

"Ich entschuldige mich bei allen, denen ich damit Schwierigkeiten bereitet habe."

"Herr Kapitän, wie ist es zum zweiten Unfall gekommen?"

"Wir hatten Herrn Hansen bereits ausrufen lassen, sich im Bordhospital zu melden. Aber dort ist er nicht eingetroffen. Stattdessen hat ein Maat beobachtet, wie ein Mann über Bord sprang, in Richtung des Beibootes, das sich anschickte, Frau Hansen aufzunehmen. Ich weiß nicht ob da ein Zusammenhang besteht."

"Ich kann dazu etwas sagen," warf der Offizier ein, der gestern mit auf der Brücke gewesen war. "Ich habe den ganzen Bergungsvorgang durch mein Fernglas verfolgt. Da gab es einen Augenblick, da das goldene Haar der Schwimmenden im Suchscheinwerfer des Bootes hell aufleuchtete. Wenn Herr Hansen, der vielleicht auf dem Wege ins Hospital war und sich Sorgen machte, dieses goldene Leuchten sah, mußte ihm klar werden, daß es sich um seine Tochter handelte, die um ihr Leben kämpfte. Vielleicht ist er gesprungen, um sie zu retten."

"Schwere Fehleinschätzung von Entfernung und Abdrift," sagte der Kapitän.

"Wer weiß," fuhr der Offizier fort, "was im Herz eines Vaters in so einem Augenblick vorgeht. Mein Kind in einem Meer voller Haifische und Seeschlangen. Ich kann sie nicht allein ihrem Schicksal überlassen."

Die Anwesenden schwiegen beeindruckt. In der chinesischen Sozialordnung gilt das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern als das heiligste Band, das es gibt.

"Das erklärt immer noch nicht," formulierte der Kapitän, "weshalb er spurlos verschwunden ist. Nach meiner Erfahrung kann ein Mann, der einen sogenannten Kopfsprung aus der Höhe des C-Decks macht, sich beim Aufprall auf die Wasseroberfläche sehr leicht einen Halswirbel brechen, mit sofortiger Lähmung als Folge."

"Solche Fälle hat es gegeben," bestätigte der Hafenmeister. "In meinen Augen spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß es in diesem Fall auch so gewesen sein könnte."

Alkestis schluchzte wieder vernehmbar.

"Ich habe dazu noch eine Frage." Der Kriminalkommissar klopfte mit einem Kugelschreiber auf den Tisch. "Gibt es eine Person oder einen Personenkreis, dem durch ein eventuelles Ableben von Herrn Hansen ein Vorteil entstehen würde?"

"Nach deutschem Recht ist das so," erklärte der Konsul, "wenn eine Person als vermißt gemeldet wird, wird ihr Vermögen eingefroren und bleibt unantastbar bis zu einer amtlichen Toterkärung, für die es Jahre braucht."

"Saubere Lösung," sagte der Kommissar.

"Wußte das Herr Hansen?" fragte ich.

"Wir haben nie darüber gesprochen," erwiderte der Konsul.

"Jetzt nehmen wir einmal an, die Leiche wird heute oder morgen gefunden," schlug der Kommissar vor. "Wie sieht die Rechtslage dann aus?"

"Dann tritt der normale Erbfall ein."

"Haben Sie eine Vorstellung, wie der aussehen würde?"

"Mein Vater besaß kein Vermögen," erklärte Ismene, "außer seiner Liebe für uns."

"Ich hatte den Eindruck, Sie sind ein Familienbetrieb," hakte der Kommissar nach.

"Ich glaube nicht, daß das hierher gehört. Aber ich ermächtige Herrn Hellmann, Ihnen das im Anschluß an diese Sitzung zu erklären." Ich hob die rechte Hand, um dem Kommissar zu zeigen, daß ich gemeint war.

"Gibt es noch Zeugenwahrnehmungen, die hier zur Sprache kommen sollten?" fragte der Kapitän.

Das war nicht der Fall. Das letzte Wort hatte der Hafenmeister."

"Meine Damen und Herren, was können wir aus dieser kurzen aber erleuchtenden Anhörung lernen? Daß es absolut unerläßlich ist, sich an Bord eines Schiffes immer und unter allen Umständen an die Schiffsordnung zu halten. Ich bin überzeugt, Herr Kapitän, daß auch Sie Mitarbeiter haben, die sich auf die Reling setzen, um sich bei Seitenwind mit beiden Händen eine Zigarette anzuzünden. So etwas darf einfach nicht passieren. Disziplin und tausend mal Disziplin zeichnet den erfahrenen Seemann aus. Zum Schluß noch ein positiver Ausblick. Es macht mich stolz, daß eine Singapurer Firma ein offenbar sehr erfolgreiches Ortungssystem für ins Wasser gefallene Passagiere entwickelt hat. Herzlichen Glückwunsch, Herr Lau."

Die meisten Anwesenden klopften mit den Knöcheln auf den Tisch.

"Noch ein Wort zum Abschluß. Ich habe die Hoffnung und die Zuversicht, daß wir den Vater der beiden Damen, Herrn Hansen, doch noch finden werden. Rund um Singapur gibt es viele kleine Inseln, die zu Indonesien oder Malaysia gehören. Vielleicht hat er sich dorthin retten können."

Als alle aufstanden und noch ein paar Worte mit ihren Nachbarn wechselten, steuerte mich der Kriminalbeamte direkt an und übereichte mir seine Visitenkarte. Er hieß Lin und war Kommissar in der Abteilung für ungeklärte Todesfälle.

"Wo können wir ungestört sprechen?" fragte er.

Ich schlug das Business-Center vor. Tatsächlich hatte meine Freundin von vorgestern einen kleinen Raum für uns.

"Wissen Sie," sagte der Kommissar, "ich bin ein Nonya. Ich nehme an, Sie haben den Ausdruck noch nie gehört."

"Nein," gab ich zu.

"Nonyas, das sind die chinesischen Familien, die seit Jahrhunderten in Südostasien leben."

"So lange existiert Singapur meines Wissens noch nicht," warf ich ein.

"Meine Vorfahren lebten in Malakka, wenn Ihnen das etwas sagt. Jedenfalls, bei uns ist der Familienzusammenhang ungeheuer eng. Deshalb konnte ich meinen Ohren nicht trauen, als Frau Hansen, die ja wohl Teilhaberin ihrer Firma ist, einfach erklärte, ihr Vater hätte keinerlei Vermögen. So etwas wäre bei uns absolut unvorstellbar."

"Ich erkläre es ihnen, so gut ich kann." Ich nahm die Fotokopie aus meiner Brieftasche, die Lörke mir zugeschickt hatte.

"Hier, je dreiunddreißig ein Drittel Prozent gehören Frau Alkestis Hansen. Das ist die Frau, die ins Wasser fiel. Dann Herrn Hein Hansen, das ist der Großvater der beiden jungen Frauen, lebt im Hamburg, und Ismene Hansen, die das Wort geführt hat. Das ist alles. Kein Prozent für Knut Hansen."

"So etwas Verrücktes habe ich noch nie gesehen." Er schrieb alles in ein Notizbuch. "Sie wissen, Knut Hansen läuft bei mir noch als ungeklärter Todesfall. Haben Sie eine Erklärung für das, was wir hier sehen?"

"Nur vom Hörensagen." Ich erklärte es ihm, so gut ich es verstand.

"Wie kommt es, daß sich die Kernfamilie Hansen am Jahresende hier in Singapur trifft? Findet das jedes Jahr statt?"

"Nein. Die Mädchen haben ihren Vater seit Jahren nicht mehr gesehen. Der Großvater befindet sich einem Zustand paranoider Demenz. Die Firma braucht eine Führungskraft. Es war meine Idee, die Töchter erleben zu lassen, ob sie mit ihrem Vater eine gemeinsame Zukunft aufbauen könnten."

"Und hätten sie?"

"Frau Alkestis bestimmt. Bei der anderen hatte sich das noch nicht geklärt. Herr Kommissar, wenn Sie der Fall Knut Hansen offiziell beschäftigt - warum gehen Sie nicht auf sein Zimmer und sehen sich unter seinen Sachen um?"

"Wenn Sie mir den Zimmerschlüssel unauffällig in die Hand drücken. Ich habe keinen Durchsuchungsbefehl."

"Noch eine private Frage. Ich hörte wie jemand auf Chinesisch rief: Ami go home. Tai lihai! Was bedeutet das?"

"Sie müssen sich verhört haben. Wahrscheinlich rief er: Ah mi to fo."

"Auch möglich."

"Was war der Anlass?

"Ein Bierglas ist umgefallen. Mit Inhalt." Ich wollte mich nicht mit der Erwähnung des Wahrsagers lächerlich machen.

"Eine starke Überreaktion. Es bedeutet nämlich: Heiliger Bhudda, ist das schrecklich!"

Mich fröstelte von der Zugluft aus der Aircondition, die direkt in meinen Nacken blies.

An der Rezeption gab man mir den Schlüssel zu Knuds Zimmer blicklos. Ich ging mit dem Kommissar nach draußen um ihm die Lage der Häuser und Zimmer zu erklären.

"Kommen Sie mit," sagte er.

"Ich kann nicht. Ich muß ins Raffles-Hospital. Frau Alkestis bekommt eine Computertomographie."

"Wegen des Falls vom Promenadendeck?"

"Ja."

"Da sehen Sie, wie pfleglich wir in Singapur mit teuren Gästen umgehen. In welchem Verhältnis stehen Sie zu den beiden Damen?"

"Ich bin mit Frau Alkestis persönlich befreundet und unterstütze ihre Schwester. Wie gerade eben."

"Danke. Welche Zimmernummer haben Sie?

Ich sagte es ihm.

Ich zog mich um und ging in die Lobby. Frau Fuentes wartete schon.

"Erschrecken Sie nicht," sagte sie, "ich habe eine Ambulanz des Krankenhauses bestellt, damit wir nicht überall aufgehalten werden. Es kostet kaum mehr als ein normales  Taxi."

Die Mädchen erschraken doch, als der Krankenwagen vorfuhr. Sie hatten dann aber großen Spaß, bis zu dem Augenblick, als beim Erreichen des Krankenhausgeländes die Sirene eingeschaltet wurde.

"Das klingt ja wie ein Fall auf Leben und Tod," scherzte Ismene.

"Das heißt: Bahn frei!" erklärte ich.

Die Radiologie lag in einem Anbau für sich. Die Krankenpfleger, die zum Eingang gerannt kamen, wunderten sich, daß wir alle im aufrechten Gang ins Krankenhaus wanderten.

Wir mußten ein paar Minuten in einem leeren Wartezimmer sitzen. Dann kam Frau Fuentes in Begleitung einer vielleicht fünfzigjährigen Chinesin zurück.

"Das ist Frau Dr. Ouyang," stellte Maria Funtes vor.

"Wie geht es uns heute?" fragte die Chinesin Alkestis.

"Nichts gegessen," kommentierte Cis, die schon begriffen hatte, daß für Chinesen das Essen das Wichtigste im Leben war.

"In einer Stunde können Sie essen soviel sie wollen," beruhigte sie die Ärztin.

Wir fuhren mit dem Lift zwei Stockwerke hinauf und durften alle einen Blick ins Untersuchungszimmer werfen, in dem eine dieser beige lackierten Bratröhren stand, durch die Patienten unendlich langsam geschoben und in Scheiben photographiert werden.

Cis mußte gleich dort bleiben. Ismene durfte einen mehrseitigen Fragebogen ausfüllen, und eine Schwester brachte eins dieser Geräte, in das man eine Kreditkarte hineinsteckt.

Frau Fuentes flüsterte mir zu: "Wer sind die nächsten Angehörigen?"

Ich wies auf Ismene. "Wir beide."

"Die Mutter?"

"Seit über zwanzig Jahren tot."

"Unfall?"

"Gebärmutterkrebs!" rief Ismene.

"Joseph Maria!" Die Ärztin bekreuzigte sich. "Ich muß das Frau Dr. Ouyang sagen. Das gehört zur Anamnese." Sie ging hinaus.

"Was ist Anamnese?" fragte Ismene.

"Schlechtes Gedächtnis," erwiderte ich wider besseres Wissen.

"Ihr macht mich alle ganz konfus. Das ist doch wieder nur eine Geldschneiderei, die wir uns hätten ersparen können. Alkestis fehlt nichts."

"Ich habe der Polizei den Schlüssel für das Zimmer deines Vaters gegeben. Er gilt als ungelöster Todesfall."

"Das war richtig. Weißt du, daß ich nie drin war? Er war als Mann immer sehr anständig zu der Frau, die seine Tochter war. Nicht so schmierig wie Opa. Ganz das Gegenteil. Außer am Ellenbogen hat er mich körperlich fast überhaupt nicht berührt. So gesehen, hätte ich ihn doch genommen. Er ist kontaktfreudig. Er hat überall Bekannte."

"Hast du ihm von Graf Kolmar erzählt?"

"Nein. Er rastet manchmal aus."

Frau Dr. Fuentes steckte den Kopf durch die Tür ohne hereinzukommen. Ich ging hin. Sie lehnte die Stirn an mein Hemd.

"Es ist viel, viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte."

"Was?" fragte ich. "Das gestauchte Becken?"

"Es ist nicht gestaucht. Es ist zugewachsen."

"Mit was?"

"Mit etwas, was da nicht hingehört."

Meinem Herzen blieb die Luft weg. Physiologisch ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Man atmet durch die Lunge. Aber so war es. Die Lunge sog automatisch Luft ein, aber der Kreislauf transportierte keinen Sauerstoff ins Herz. Mein Herz fühlte sich an wie ein einstürzendes Kartenhaus. Ich mußte mich an der Türfüllung festhalten

Ismene war aufmerksam geworden und trat zu uns.

"Ist was mit Alkestis? Har sie sich beim Sturz vom Schiff etwas zugezogen?"

"Es hat nichts mit dem Schiff zu tun," keuchte ich, "es steckt in ihr drin."

"Was ist das für ein Quatsch!"

"Du hast dir ziemlich gut gemerkt, woran deine Mutter gestorben ist."

"Warum sagst du das?" Ihr Gesicht zerfiel. "Das glaube ich nicht. Alkestis hat keine Kinder, keine Abtreibungen, nur ein par blöde Liebesgeschichten."

"Wenn wir wüßten woher es kommt, wären wir viel weiter," erklärte Dr. Fuentes. "Bei Ihnen dürfte es in der Familie liegen, wenn Ihre Mutter es auch hatte."

"Bei meiner Mutter hat man es zu spät entdeckt."

"Bei Ihrer Schwester hat man es auch nicht rechtzeitig entdeckt."

"Zu spät?"

"Viel zu spät."

Die Frauen umarmten sich.

"Wer wird es Ihrer Schwester sagen?"

"Die Röntgen-Ärztin. Sie ist die Autorität."

"Wieviel auf einmal?"

"Alles und sofort."

"Kann Ihre Schwester das verkraften?"

"Sie läßt sich nichts vormachen."

Wenig später wurden wir in ein Besprechungszimmer geführt, das mit bequemen Sesseln ausgestattet war. Cis bekam ein Glas Ananassaft angeboten, Ismene und ich eine Cola. Frau Ouyang fühlte Cis den Puls.

"Sie haben ein starkes Herz."

"Ich bin sportlich."

"Ich möchte eins voranstellen. Sie sind hier in der Radiologie meine Privatpatientin und nicht eine Patientin des Raffles Hospitals. Das heißt, ich bin nicht verpflichtet, Ihre Diagnose mit meinen Kollegen zu besprechen und einen Behandlungsplan für Sie auszuarbeiten. Sie werden mich in einer halben Stunde verlassen und sollten dann nie mehr im Leben einen Arzt aufsuchen."

"Wie darf ich das verstehen?"

"Wir Radiologen blicken in das Innere eines Menschen hinein und kontrollieren, ob alles noch so ist, wie Gott es geplant hat. Wenn das nicht der Fall ist, wenden wir eine Geheimsprache an, um uns darüber zu verständigen. Wenn wir zum Beispiel etwas sehen, das in Ihrem Körper nichts zu suchen hat, nennen wir es ein Phänomen. Wenn ein Phänomen sich auf eine Weise verhält, die uns überhaupt nicht gefällt, nennen wir es eine Raumverdrängung. Der Ausdruck besagt, das ein gewisses Etwas Ihrem Körper Platz wegnimmt, den Ihr Körper eigentlich nicht hergeben sollte."

"Habe ich denn so was?"

"Ich möchte Ihnen etwas zeigen. Kommen sie bitte an die Leuchttafel."

Die Ärztin benutzte einen Zeigestock. "Das hier, was aussieht, wie ein Seestern, ist eine Raumverdrängung von dem, was früher Ihr linker Eierstock war."

Cis beugte sich vor, um besser zu sehen.

"Unmöglich," stieß sie hervor. "Das bin nicht ich. Das sind vertauschte Bilder. Meine Aufnahmen sind noch in der Maschine. Würden Sie bitte nachsehen?"

 Frau Ouyang ließ den Zeigestock wandern. "Hier. Diese Schrift. Das ist Ihr Name. Das heutige Datum."

Alkestis stützte sich mit beiden Händen an der Tischplatte ab. "Gibt es noch mehr zu sehen?"

"Das ist die auffälligste Raumverdrängung."

"Was heißt Raumverdrängung? Kann es nicht ganz harmlos sein? Hat das nicht jeder?"

"Es ist nicht ihre einzige. Wir sehen auch etwas an den Nieren. Das merken Sie nicht, weil es nicht wehtut."

"Da müssen wir ja ein Riesenloch in mich hineinschneiden, um diesen Seestern herauszuholen. Geht das überhaupt, ohne den Darm, die Milz, die Leber zu beschädigen?"

"Frau Hansen, wir machen hier eine Diagnose, keinen Behandlungsplan."

Alkestis setzte sich geschockt.

"Danke, das reicht mir. Kann ich noch einen Ananassaft haben?"

Er mußte geholt werden, und sie trank ihn mit sichtlichem Genuß.

Ich legte meine Hand auf ihre Linke und sagte: "Weißt du noch, wie du auf dem Frankfurter Flughafen plötzlich  im Rollstuhl gefahren werden wolltest?"

"Das ist fünf Tage her."

"Ich muß mich für das Schiff vorbereiten," sagte Frau Dr. Fuentes. "Ich komme später bei Ihnen im Hotel vorbei, aber nicht heute".

Ismene stand auf, umarmte und küßte sie.

"Sie wollen mir eine Diagnose erstellen," sagte Cis zu Frau Dr. Ouyang. Wie lautet die? Kein Schlagwort, die ganze Wahrheit."

"Sie müssen sich darauf einstellen, daß Sie krank sind."

"Ich bin krank und habe noch eine Lebenserwartung von wie vielen Monaten, Jahren, Jahrzehnten?"

"Sagen wir ein halbes Jahr."

"Mehr nicht?"

"Diese Dinge sind unvorhersehbar. Es kann auch wesentlich länger sein. Immer vorausgesetzt, daß Sie sich nicht in ärztliche Behandlung begeben."

"Warum sollte ich nicht, wenn ich krank bin?"

"Weil das westliche Gesundheitssystem so aufgebaut ist, daß man an unheilbar Kranken das meiste Geld verdient, indem man Ihnen vorspiegelt, sie heilen zu können."

"Also bin ich unheilbar krank."

"Das kann man so nichts sagen. Es gibt unvorhersehbare Spontanheilungen."

"Wieso habe ich nichts gemerkt?"

"Weil sie jung und stark sind."

"Cis, du hast schon lange Schmerzen," erinnerte Ismene ihre Schwester. "Du nimmst starke Tabletten."

Davon hatte ich nichts bemerkt. Wir hatten uns viel zu spät und viel zu wenig kennen gelernt. Ein ungeheures Unrecht. Ah mi to fo, tai lihai.

"Sagen Sie mir, was ich tun muß," bat Cis die Ärztin.

"Es gibt eine Menge, was Sie tun können. Sie können sich in einem milden Klima an den Strand setzten und aufs Meer blicken, sie können ein Buch schreiben, über die wichtigsten Augenblicke in Ihrem Leben, oder ein Logbuch, in dem Sie erzählen, wie  Sie aus den letzten Monaten ihrer Krankheit das Meiste herausholten, um anderen Frauen ein Vorbild zu setzen. Sie müssen chinesische Kräutertees trinken, und Sie werden jemanden finden, der Ihnen Spritzen gibt, die Sie schmerzfrei halten."

"Das kann ich tun," sagte ich schnell, "ich war Sanitäter beim Bund."

"Du steckst im Beruf," erwiderte Cis.

"Ich nehme unbezahlten Urlaub. Ich lasse dich jetzt nicht im Stich."

"Das ist alles ein bißchen viel für mich," sagte Cis, "ich gehe jetzt."

"Wir waren auch am Ende," sagte Frau Dr. Ouyang. Sie schrieb mir schnell noch ein Privatrezept für Morphiumderivate auf, das ein Logo der Weltgesundheitsorganisation enthielt und angeblich weltweit anerkannt wurde.

Die Ambulanz hielt noch vor der Radiologie und fuhr uns ohne Sirenengeheul zurück.

Als wir die Schlüssel abholten, ließ sich Cis einen großen Packen des teuren Hotelbriefpapiers aushändigen.

"Euch beide will ich in den nächsten Stunden nicht sehen. Ich muß mir ein Paar Dinge aufschreiben. Halb sieben, ja?"

Wir nickten wortlos.

"Ich habe Hunger," sagte  Ismene. "Mit leerem Magen bekomme ich immer Kopfschmerzen." Wir gingen in den Coffeeshop und aßen eine Kleinigkeit. Unser Lebensfaden war nicht durchschnitten worden, aber wir fühlten uns fast genauso miserabel.

"Ich gehe auf mein Zimmer," sagte Ismene, "vielleicht ruft sie mich an. Du genauso." Sie hatte ihren Kommandoton wiedergefunden.

Als das Telefon bei mir klingelte, war es nicht Cis, sondern der Polizeikommissar.

"Ich habe das Zimmer von Herrn Hansen auf den Kopf gestellt. Keinerlei Anhaltspunkt. Es sieht alles nach einem Unfall aus." Er legte auf.

Mein Zimmer hatte einen fast neun Quadratmeter großen,  quadratischen Balkon, der in der veralteten Kolonialsprache des Hotels "Verandah" genannt wurde. Meine Hausseite lag im Schatten, und ein leichter Wind ging.

Ich nahm mir auch etwas zum Schreiben hinaus und fragte mich: Willst du wirklich die nächsten sechs Monate an der Seite einer immer qualvoller leidenden Frau verbringen? Ja. - Warum? Sie war doch in Panik, als du sie kennen lerntest. Und? Ich habe ihr geholfen und werde ihr weiter helfen. Willst du einen Menschen sterben sehen? Ich war bereit, mit ihr ein Leben lang zusammen zu sein. Ich laufe nicht davon, wenn es ans Sterben geht. Ich bin kein Hasenfuß.

Die feuchtigkeitsgesättigte Tropenluft machte mich müde. Meine Augen fokussierten nichts mehr. Sie rollten in den Kopf zurück. Das Gehirn formulierte noch Gedanken, aber sie zerflatterten in Traumfetzen.

Das Sirren eines Moskitos weckte mich. Ich schlug danach und stand auf. Es war schon ziemlich dunkel. Mein Körper war in Schweiß gebadet. Ich entschied mich, gegen Ismenes Rat doch zu duschen und den daraus resultieren Schweißausbruch mit einem nassen Waschlappen zu bearbeiten.

Ismene rief mich telefonisch in die Lobby. Dort saß sie mit dem deutschen Konsol zusammen, um eine Suchanzeige für Knut zu formulieren, die in den malayischen Zeitungen der Region erscheinen sollten.

"Herr Hellmann ist Anzeigentexter von Beruf," stellte Ismene mich vor.

"Ich bin das erste Mal hier," wich ich aus. "Sie leben hier, Herr Konsul. Man muß die Erwartungen der Leser kennen. Worin unterscheidet sich die Mentalität der Malaien von der der Chinesen?"

Dazu wußte der Konsul eine Menge zu erzählen, und im Nu hatten wir einen rührseligen Text zusammengebastelt. Unter der Voraussetzung, das Knut noch am Leben war. Unmöglich war das nicht. Ein Mann, der seine Tochter nicht hatte festhalten können, mochte Gründe haben, sich unsichtbar zu machen.

Beim Abendessen erzählte uns Cis das Ergebnis ihres Nachdenkens.

"Habe ich in meinem Leben irgend etwas versäumt? Ja. Ich habe zu wenig von meinem Vater gehabt. Aber das kann man wahrscheinlich nicht mehr nachholen. Gibt es etwas, das ich unbedingt noch erleben muß? Nach New York fliegen, die Freiheitsstatue sehen."

"Ich komme mit," stimmte Ismene zu.

"Noch etwas?" Sie blickte mich an. "Mit dir zusammen sein, solange die Phänomene das noch erlauben. Wir probieren das gleich einmal aus."

"Ich glaube, ich schaffe das heute nicht," gab ich zu bedenken.

"Wieso? Bin ich dir unappetitlich geworden?"

"Wie kannst du das denken?"

"Man sagt, daß Krebskranke von innen heraus stinken, weil sie bei lebendigem Leibe verwesen. Rieche ich etwa schon?"

"Davon bist du noch meilenweit entfernt." Dabei fiel mir ein, wie auffällig der Wahrsager an ihrer Hand geschnuppert hatte. War es möglich, daß er einen beginnenden Zersetzungsgeruch gewittert hatte? Es gab Menschen mit einem fast übersinnlich feinen Wahrnehmungsvermögen.

"Ich möchte dir vorschlagen, daß wir, wenn wir wieder in Deutschland sind, zusammen nach Gran Canaria fahren und uns dort an den Händen halten."

"So lange kann ich nicht warten."

"Was hast du noch auf deine Listen geschrieben?"

"Ob ich Sachen besitze, die ich verschenken sollte. Aber ich habe fast nichts. Opa hat uns immer kurz gehalten. Ich besitze nur ein altes Auto. Das kann Martina bekommen. Das Segelboot gehört der Firma, nicht mir."

"Das macht doch keinen Unterschied," beschwichtigte Ismene.

"Was ich unbedingt noch unter Dach und Fach bringen will, ist die Zusammenarbeit mit SME. Wir müssen den Mittelmeer-Markt erobern."

"Das werden wir, Cis," versprach Ismene.

"Und jetzt will ich über die Stränge schlagen und eine Flasche des teuersten australischen Weißweins trinken. Ist es nicht beruhigend zu wissen: Was immer ich anstelle, es kann mir nicht mehr schaden."

"Das ist eine wunderbare Idee."

Als wir am Wein nippten, fragte Cis:

"Glaubt ihr, was der Kapitän sagt, daß Vater sich einen Halswirbel gebrochen hatte und deshalb nicht schwimmen konnte?"

"Ich glaube, er ist gesprungen, weil er der erste sein wollte, der dir half. Bestimmt lebt er noch und hat sich auf eine unbewohnte Insel gerettet, wo ihn Fischer finden werden."

"Oder Piraten," fiel Ismene ein. "Pappa erzählt, in der Straße von Malakka wimmelt es von Piraten mit Rennbooten, die schneller sind als die Küstenwache."

"Ein Halswirbelbruch wäre jedenfalls ein ganz blöder Zufall."

"Hätte ich mir bloß den Halswirbel gebrochen, dann hätte ich jetzt alles hinter mir," bedauerte Alkestis.

"Cis, wir brauchen dich noch. Wir wollen nicht ohne dich sein."

"Ich brauche euch auch. Ich habe euch noch nie so gebraucht wie heute."

In dieser Nacht schliefen wir alle drei in meinem Zimmer, weil ich das breiteste Bett von uns allen hatte. Die alte Chinesin vom Housekeeping lächelte verschwörerisch, als sie uns zusätzliche Kissen brachte. Offenbar erfaßte sie nicht, wie es in uns aussah. Cis sprühte sich zur Vorsicht im Badezimmer von oben bis unten mit meinem Aramis ein. Das war unangenehmer als jeder Köpergeruch.

Ismene, die auf der anderen Seite lag, schlief als erste ein. Cis und ich berührten einander mit den Fingerspitzen, um das Gefühl der Verbundenheit zu spüren, das Strömen von Körperbewußtsein, Lebensenergie, bis wir im Schlaf den Kontakt verloren, weil sie sich umdrehte, um in die Richtung ihrer Schwester zu atmen. Meine Hand fand gleich einen Platz auf ihrer Hüfte, solide und beruhigend. Wir hatten noch nie eine ganze Nacht zusammen gelegen. Es war so ein gutes Gefühl. In Zukunft würden wir es immer tun. Hundert Nächte noch, oder zweihundert, oder tausend. In Spanien würden die Ärzte mir auch erlauben, ihr auf der Intensivstation Gesellschaft zu leisten. In Deutschland waren sie engstirniger.

Wenn die Nieren befallen waren, vergifteten sie den ganzen Körper. Wie lange konnte Dialyse das aufhalten? Diese elende Apparatemedizin, ein Schlauch in der Kehle, das Fauchen einer maschinellen Luftpumpe, Chromgestelle mit Plastiksäcken voll Nährlösung. Aber würde Cis das überhaupt wollen?  Wer hatte darüber zu entscheiden? Brauchte man einen Rechtsanwalt?  Gab es nicht doch Hoffnung auf Besserung? Ein Medikament im Erprobungszustand? Vielleicht half ihr schon die Erwartung.

Ich erwachte, obwohl Ismene sich lautlos anzog. "Ich gehe in mein Bad," flüsterte sie. Ihre Schwester regte sich. "Bleib, Issy."

"Es ist Zeit. Sonst geht uns der Tag verloren."

"Den brauch ich nicht." Sie zog sich das Kissen über den Kopf.

"Das Badezimmer ist zu klein für drei," beharrte Ismene.

Für Cis und mich war genug Platz unter der Dusche. Es wurde eine verspielte, zärtliche Wäsche. Danach duftete sie nicht mehr nach Aramis.

"Hast du Schmerzen?" fragte ich. "Soll ich dir Spritzen besorgen?"

"Behandle mich nicht wie eine Schwerkranke. Wenn ich was brauche, sage ich es dir." Dann senkte sie den Kopf: "Kannst du wirklich Spritzen geben?"

"Ich habe es hundertmal geübt. An theoretisch Schwerverletzten, die unter viel, viel stärkeren Schmerzen leiden mußten, als du sie je erleben wirst."

"Das hat dir nichts ausgemacht?"

"Im Gegenteil, ich liebe es Menschen zu helfen."

"Ja, das glaube ich. Mir wirst du auch helfen, falls es nötig wird."

Beim Frühstück entwarfen wir dann doch einen Tagesplan.

"Ich möchte noch mal richtig schwimmen gehen, bevor wir nach Hamburg zurückfliegen," schlug Alkestis vor, "am besten heute vormittag. Wir müssen das Wetter ausnutzen. Und am Nachmittag fahren wir wieder an den Singapore River, um die blaue Stunde zu erleben, wie am ersten Tag mit Pappa."

Aus dem Stadtführer, der in allen Hotelzimmern lag, wußten wir, daß es im Süden eine vorgelagerte Insel gab, die den einzig guten Sandstrand von Singapur aufwies. Die Insel hieß Sentosa und war über eine Brücke zu erreichen, die aber für den Verkehr gesperrt war. Nur Taxis durften gegen eine Mautgebühr hinüberfahren.

Blendend weiß lag der Strand im Licht der schon hochstehenden Sonne. Eine breite Lagune mit hellblauem Wasser, die zum offenen Meer hin begrenzt wurde durch eine Reihe palmenbestandener kleiner Inseln. Am Nordende der Bucht lag ein harmonisch in Landschaft passender weißer Terrassenbau, Eigentumswohnungen oder Hotel. Der Raum zwischen zwei von den Inseln schien von einem breiten Wasserfall eingenommen zu sein. Aber wo kam das Wasser heruntergeschäumt? Dahinter lag leichtgewelltes offenes Meer.

Ein Badewächter, der auf einem hölzernen Hochsitz saß, kam herunter, um uns eine Umkleidekabine aufzuschließen. Cis streckte den Arm aus und fragte ihn:

"Das weiße Wasser dort, was ist das?"

"Zwischen den Inseln? Das ist die gefürchtete Brandung von Sentosa, mit Brechern so hoch wie in Hawaii."

"Verleihen Sie Surfbretter?" fragte Cis.

"Das ist streng verboten. Die Brandung wird durch eine Untiefe hochgestaut, daß sie mit einer Kraft runterkommt, die Wasserbüffel töten kann. Letztes Jahr haben zwei Meistersurfer aus Bali dort heimlich ihr Glück versucht. Wegen einer Wette. Der eine wurde zu Fleischmus zerschmettert, vom anderen fehlt jede Spur."

"Davon habe ich nie gehört," sagte Cis. "Ich bin Schwimmerin."

"In der Ostsee!" spottete ihre Schwester.

Wir zogen uns um und wateten ins seichte Wasser hinaus. Alkestis war im Bikini eine hinreißende Schönheit. Zum Verlieben. Doch das war ich schon bis zur Schmerzgrenze. Und alles was ich sah, war mir vertraut, gehörte mir. Hoffentlich noch lange. Als wir bis zum Bauchnabel im Wasser standen, umarmte Cis ihre Schwester und flüsterte ihr etwas zu. Dann drehte sie sich zu mir herum, preßte sich an mich und sagte: "Ich liebe dich."

"Ich liebe dich auch. Wir machen das mit Gran Canaria. Ja?"

"Ich bin glücklich mit dir," erwiderte sie, "die letzten Wochen waren sehr schön."

Wir schwammen dann gemeinsam in aller Ruhe durch das laue Wasser der Bucht, bis wir die Sperrkette aus Schwimmkugeln erreichten, die das Ende des Badebereichs anzeigten, fast schon in der Mitte der Bucht. Man hörte jetzt ganz deutlich das Rauschen der Brandung am Riff, die sich gefährlich auftürmte.

Alkestis hob zwei Kugeln an, schlüpfte hindurch und winkte uns triumphierend zu. Dann legte sie einen Kraulstart vor, der sie in einer Schaumspur entschwinden ließ. Aphrodite auf der Rückkehr in Meer. In die Richtung der Brandung. Als ich eine Kugel anhob, hielt Ismene meine Hand fest.

"Nicht," sagte Ismene, "du schwimmst nicht schnell genug, um sie einzuholen. Zurück an Land, wir müssen den Rettungsdienst alarmieren." Sie winkte mit ihren Armen dem Strandwächter zu, der wie verrückt auf seiner Trillerpfeife blies.

Diesmal beschleunigte ich mein Tempo durch das einzige, was ich beherrschte, den Schmetterlingsstil rückwärts. Ismene war darin noch etwas fitter als ich, aber ich konnte meine Technik kaum zur Anwendung bringen, weil meine Brust ununterbrochen durch Schluchzer erschüttert wurde. Die Ahnung, daß die Frau, die ich liebte, vor meinen Augen mit Absicht in die tödliche Brandung schwamm, um sich einen langsamen Krebstod zu ersparen, war das Grausamste, was mir je passiert ist.

"Hast du das gewußt?" fragte ich Ismene, als wir wieder Meeresboden unter unseren Füßen hatten.

"Nein, ich habe es gefürchtet, als sie mir im Wasser Lebwohl sagte. Dir doch auch."

"Ich habe ihr gesagt, daß ich sie nach Gran Canaria begleite."

"Was hat sie darauf geantwortet?"

"Sie hat gesagt, die letzten Wochen waren sehr schön."

"Die letzten, nicht die nächsten."

"Kann man sie nicht aufhalten? Sie kann noch sehr schöne Tage erleben."

"Wir versuchen es."

Der Schwimmwächter war uns ins Wasser entgegengelaufen.

"Was ist mit ihrer Freundin los? Sie schwimmt direkt auf das Riff los."

"Sie will etwas ausprobieren," sagte Ismene.

"Sie scheint eine gute Schwimmerin zu sein, aber die Brecher, die auf dem Riff niedergehen, haben das Gewicht von vielen Tonnen. Sie können einen Elefanten erschlagen."

In diesem Augenblick näherte sich das Dröhnen eines kleinen Hubschraubers. Der Badewächter zeigte gestikulierend, wo Alkestis sich befand. Der Hubschrauber schien nur Sekunden zu brauchen, um bei ihr zu sein. Eine Lautsprecherstimme schallte über das Wasser: "Keep off of the reef. Your life is in danger. Keep off of the reef. Follow us into quiet water."

In diesem Augenblick erreichte Alkestis den ersten Brecher, untertauchte ihn elegant und kam auf seiner Rückseite wieder hoch.

"Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn," rief der Bademeister.

Den zweiten Brecher untertauchte sie ebenfall erfolgreich, aber den nächsten, der etwas außerhalb der Reihe kam, hatte Alkestis nicht so gut berechnet. Er brach über ihr zusammen und begrub sie unter vielen Kubikmetern Schaum. Als der nächste Wellenkamm in die Höhe schoß, war von ihr nichts mehr zu sehen. Auch nicht auf seiner Rückseite.

Laut weinend warf sich Ismene in meine Arme. Ich schluchzte mit. Der Hubschreiber kreiste weiter über der Unglücksstelle.

Wir wateten an Land und mußten eine Menge bürokratischer Formalitäten erledigen. Ismene konnte von dort aus den deutschen Konsul benachrichtigen, der erst nicht recht wußte, ob er sie ernst nehmen sollte. Das Fach mit den Sachen von Alkestis wurde mit einem Universalschlüssel geöffnet, da sie ihr Exemplar an einem Plastikarmband mit ins Meer hinausgenommen hatte. Die Badeaufsicht durchsuchte alles, um zu finden, ob sie einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte. Aber das war nicht der Fall. Also gab man uns alles mit. Es war so wenig, verglichen mit dem, was sie sonst so mit sich herumtrug, daß es eine deutlichere Sprache sprach als jeder Abschiedsbrief.

Der Nachmittag war schrecklich. Wir gingen auf das Zimmer von Cis, um ihre Sachen zusammenzupacken, damit wir das Zimmer freigeben konnten. Auf der Konsole des Badezimmers hatte sie ein paar Kosmetika und drei Schachteln mit Schmerzmitteln, die fast leer waren. Wir konnten alles in ihrem Koffer unterbringen, ausgenommen den langen Wintermantel, den Ismene zunächst in ihren Schrank hängte. Wir gaben den Schlüssel an der Rezeption ab und brauchten für die Nacht nicht mehr zu bezahlen. Wir ließen uns dann bei Ismene nieder. Sie warf sich aufs Bett und zitterte heftig. Ich leistete ihr betroffen Gesellschaft. Wir sagten uns all die tausend Worte, die man in solchen Situationen spricht.

"Sie hatte schon seit Wochen starke Schmerzen," wußte Ismene. "Sie hat es dir nur nicht gesagt. Manchmal ist sie ganz schief gegangen. Ich dachte, es ist der Alkohol. Aber sie hat kaum getrunken."

"Ja, auf dem Frankfurter Flughafen hatte sie auch Probleme. Ich glaubte, es waren die Schuhe."

"Eben nicht. Sie nahm gefährliche Schmerzmittel und dachte, wir merken es nicht."

Irgendwann schlief Ismene an meiner Seite ein. Ich konnte an diesem Nachmittag nicht schlafen. Immer wenn ich ins Einschlafstadium geriet, sah ich die Riesen-Brandungswelle, die Alkestis unter sich begrub.

Das Abendessen nahm ich mit Ismene im Shanghai-Restaurant ein, und wir stocherten lustlos in ein paar Teigtaschen herum, als sich Kommissar Lin auf einen freien Stuhl setzte.

"Wir haben jemanden gefunden," sagte er. "Ich habe Ihre Schwester nie im Bikini gesehen. Mein Wagen steht im Halteverbot."

Wir folgten ihm, ohne zu bezahlen oder irgendetwas mitzunehmen. Der Wagen hatte ein rotierendes Rotlicht, das an das Ortungssystem von Alkestis erinnerte. In der Dunkelheit konnte ich nicht erkennen, wohin wir fuhren. Wir hielten vor einem niedrigen Gebäude und liefen ein paar Meter über Kies. Gleich im Flur hinter der Anmeldung stand eine Bahre, die mit einem weißen Tuch zugedeckt war. Als der Kommissar das Tuch wegnahm, lag jemand da, der Alkestis war und doch nicht mehr Alkestis. Ihr Körper war unversehrt, von ein paar Schrammen abgesehen. Ich beugte mich impulsiv über sie und küßte sie auf den Mund. Ihre Lippen waren kühl und schmeckten unglaublich bitter. Ich mußte mir Mühe geben, mir nicht den Mund abzuwischen.

"Ich habe deinen Mund geküßt," zitierte ich, "und du hast bitter geschmeckt."

"Bitter - wie bitter?" fragte der Kommissar, "wie Meerwasser?"

"Viel, viel bitterer. Gallebitter."

"Das ist ein wichtiger Hinweis. Wissen Sie, das ist typisch für Ertrinkende. Es ist ein schwerer Tod."

"An der Todesursache bestanden ja wohl keine Zweifel."

"Nein. Trotzdem ist jede Zusatzinformation nützlich."

"Ich habe eine Bitte," sagte Ismene. "Ich möchte nicht, daß meine Schwester obduziert wird, sondern so, wie sie ist, mit dem nächsten Kühltransport nach Hamburg gebracht wird. Ich werde gleich den Deutschen Konsul beauftragen, in diesem Sinne mit Ihren Leuten Kontakt aufzunehmen."

"Keine Sorgen, wir wissen Bescheid. Wir haben die Fotos der Radiologie des Raffles-Hospitals."

"Wie kommen Sie daran?" fragte Ismene, "Gibt es keine ärztliche Schweigepflicht?"

"Die Bilder wurden im Zusammenhang mit dem Schiffsunfall in Auftrag gegeben. Dadurch kommen wir automatisch in den Verteiler."

"Verstehe."

Der Kommissar malte chinesische Schriftzeichen auf einen Zettel, den er halb in den Bikini vom Alkestis schob. Dann deckte er sie wieder mit dem weißen Tuch zu.

"Ich fahre Sie zurück," sagte er. "Das ist Singapur Ihnen schuldig."

Als wir an einer Ampel standen, drehte sich der Kommissar um und sagte zu Ismene:

"Ihre Schwester war eine bildhübsche Frau und ungeheuer willensstark."

"Sie war immer die stärkere von uns beiden," erwiderte Ismene, die nicht mitbekommen hatte, was der Kommissar damit sagen wollte.

"Für mich ist der Fall abgeschlossen," sagte der Kommissar zu mir. "Sie können jederzeit heimfliegen."

"Ich würde mir lieber ein Zimmer nehmen an der Bucht von Sentosa," erklärte ich, "und hinausschauen auf die Brandung am Riff. Dort lebt sie für mich noch."

"Sie können uns jedes Jahr besuchen kommen. Aber jetzt tragen Sie Verantwortung für das einzige Mitglied der Familie Hansen, das noch am Leben ist. Ich verlange von Ihnen, daß Sie aufpassen, daß sie wohlbehalten nach Deutschland zurückkehrt und ihr hier nichts zustößt. Das ist Ihre erste und wichtigste Pflicht."

"Sie unterschätzen mich," sagte Ismene zum Kommissar, "ich kann selber bellen und beißen."

"Das ist mir bewußt. Aber hier sind Sie in einem fremden Land, in einem ungewohnten Klima, Sie haben mehr als die Hälfte Ihrer Familie verloren. Das würde jeden aus der Fassung bringen."

"Das tut es auch."

Wir hielten wieder an der grünen Hecke vor dem Hotel. Der Kommissar stieg mit aus, um uns die Hand zu geben.

"Morgen fliegen wir noch nicht," sagte Ismene. "Ich muß mit dem Konsul sprechen und mit Singapore Maritime Electronics wegen des Systems, das meine Schwester getestet hat."

"Denken Sie an meine Worte," sagte der Kommissar zu mir.

Wir gingen ins Restaurant um unsere Rechnung zu bezahlen. Man hatte das Essen für uns bereit gehalten, aber wir mochten es nicht mehr sehen. In der Lobby holte Ismene unsere Schlüssel ab und drückte mir meinen in die Hand.

"Ich muß jetzt Großvater anrufen."

"Wenn sein Telefon wieder funktioniert."

"Schon lange."

"Kann ich dir helfen? Soll ich mit ihm sprechen?"

"Da muß ich alleine durch. Ich erzähl dir gleich, wie es gelaufen ist."

Ich ging auf mein Zimmer und stellte den Ventilator an, der langsam an der Decke kreiste wie ein unbekanntes Flugobjekt. Ich wußte überhaupt nichts mit mir anzufangen. Ich hatte als Psychologe total versagt. Ich hatte der Frau, die mich liebte, keinen Trost spenden, keinen Halt geben können. Ich war menschlicher Sperrmüll. Mein Gehirn war leer, kalter Schweiß stand auf meiner Haut.

Man konnte meine Zimmertür nicht von außen öffnen. Es gab eine dezente Glocke. Deshalb verwirrte es mich, daß jemand energisch gegen das Holz klopfte. Es war Ismene. Ihr Atem flog. Ihre Wangen waren naß. Einen Augenblick sah es aus, als ob sie mich umarmen wollte, dann ging sie ins Badezimmer, um sich das Gesicht zu waschen.

Als sie zurückkam, fragte sie beherrscht: "Hast du darauf geachtet, wie lange unser Visum für Singapur gültig ist?"

"Drei Monate."

"Dann machen wir das, was du gesagt hast. Wir ziehen in das Terrassenhotel an der Bucht von Sentosa und sehen uns jeden Abend den Sonnenuntergang an."

"Hast du deinen Großvater erreicht?"

"Ich brauche mich nie mehr in Hamburg sehen zu lassen, weil ich schuld bin an ihrem Tod, und dich wird er auch umbringen, wie den Grafen Kolmar."

"Also hat er zugegeben, daß er Viktor mit Absicht niedergeschossen hat, und gegen mich hat er eine Morddrohung ausgesprochen."

"So gesehen, ja."

"Du hast nicht sehr gut zurück gebellt."

"Nein. Mit mir ist nichts los."

"Magst du bei mir bleiben?"

"Für die Nacht?"

"Nur zum Erzählen. Ich möchte nicht allein sein."

"Ich denke, du magst mich nicht. Du hast bestimmt Wut auf mich, weil ich nicht tot bin."

"Du bist das einzige, was mir von Cis übrig geblieben ist."

"Ich hole mein Nachthemd. Ich habe hier niemanden außer dir."

"Ich auch nicht. Ich komme mit und helfe dir tragen."

 Sie war so depressiv, daß ich sie nicht allein lassen wollte. Sie zog sich gleich in ihrem Zimmer aus, schlüpfte dann in den Bademantel und hatte doch noch einiges mitzunehmen.

Als wir wieder bei mir lagen, mit so viel Abstand, als hätten wir immer noch Cis zwischen uns, sagte ich:

"Es war der größte Schock deines Lebens, zu sehen, wie Cis in die Brandung hinein schwamm."

"Für dich auch. Aber sie brauchte das Gefühl, daß wir bei ihr sind. Das habe ich genau gespürt."

Nach einer langen Pause fragte ich: "Weißt du, was Cis an mir am meisten gefallen hat?"

"Du bist geschmacklos," protestierte Ismene.

"Sie sagte immer, ihr gefällt, daß ich kein Feigling bin."

"Ja, das hat sie gesagt."

"Glaubst du, daß du es schaffst, morgen auch kein Feigling zu sein?"

"Wie kommst du darauf?"

"Wir fahren morgen ins Krankenhaus und holen die Bilder von Cis ab. Bei der Gelegenheit werden wir auch für dich einen Tomographie-Termin bestellen."

"Bist du verrückt?"

"Ich sehe doch, wie du dir dauernd an die Eierstöcke greifst. Du wirst erst wieder ruhig schlafen, wenn dir die Ärztin erklärt, daß bei dir alles in Ordnung ist."

"Und wenn nicht?"

"Dann muß du so schnell wie möglich etwas dagegen unternehmen. Aber ich bin mir vollkommen sicher, daß du kerngesund bist."

"Ich bin ein Feigling."

"Das paßt nicht zu den Hansens."

"Also guuut, ich mach es."

"Wenn du Klarheit hast, kannst du dich deiner Verantwortung besser stellen."

"Welcher Verantwortung?"

"Ich gehe davon aus, daß dir nach dem Tod von Cis ein größerer Anteil von Hansa Marine gehören wird. Aber das wird das Nachlaßverfahren entscheiden."

"Wie kannst du in diesem Augenblick an so etwas denken?"

"Es wird deine Position dem Großvater gegenüber verändern."

"Ich liebe ihn doch."

"Er dich auch?"

"Nein. Cis! Cis! Cis!"

"Das kannst du ihr heute wirklich gönnen."

"Entschuldige. Das ist mein wunder Punkt."

Sie atmete tief. Ich sagte nichts mehr. Nach einer Weile wurden ihre Atemzüge ruhiger. Das kannte ich schon von ihr. Sie schlief leicht ein.

Ich bin nicht in der Lage gewesen, mein Glück mit Alkestis zu schildern. Genau so wenig kann ich meinen Verlust-Schmerz beschreiben. Hätte der Kommissar mir nicht die Sorge um Ismene nahegelegt, wäre ich in Versuchung gewesen, das Rezept von Frau Ouyang einzulösen und mir alle Ampullen auf einmal zuzuführen, weil ich Cis in den Tod geführt hatte, wie mir ein Chor innerer Stimmen vorwarf.

Mitten in der Nacht weckte mich ein Geräusch. Ismene saß aufrecht im Bett und schrie: "Mach das nicht, Cis, mach das nicht. Komm zurück, wir brauchen dich noch."

Ich nahm sie in die Arme und schüttelte sie.

"Du bist das," sagte sie schlaftrunken. "Ich hatte einen schrecklichen Traum."

"Die Seele arbeitet im Schlaf," erklärte ich.

Ich mixte uns zwei Whisky mit Wasser.

"Danke," sagte Ismene. "Du hast sie noch geküßt, wie der Prinz, der Schneewittchen ins Leben zurückholt. Aber das klappt nur im Märchen."

"Ich wollte sie nicht zurückholen. Es war ein Abschiedskuß."

Der Whisky brannte in der Kehle, obwohl er verdünnt war. Ich stellte die leeren Gläser weg und machte das Licht aus.

Ismene schlief sofort wieder ein. Ich brauchte länger.

 

18. KAPITEL

Mit dem Taxi war es im Raffles Hospital sehr viel schwerer, zur Radiologie durchzukommen. Ich sagte stur meinen Spruch auf, ich müßte wichtige Dokumente abholen, die schon bezahlt seien, und das Argument schien zu ziehen. Unten nahm uns niemand in Empfang. Ich fuhr einfach mit dem Lift in den zweiten Stock und klopfte an die Tür mit dem Namensschild von Frau Dr. Ouyang. Sie saß allein an ihrem Schreibtisch und erkannte uns sofort.

"Wie hat Frau Hansen die Diagnose aufgenommen?"

"Sehr gefaßt, sehr gefaßt," sagte ich. Mehr wollte ich in diesem Augenblick nicht von mir geben. "Aber hier habe ich jemanden, der total nervös ist aus Angst, der Familienfluch könnte auch auf ihr liegen."

"Das muß absolut nicht sein," sagte Frau Ouyang.

"Ich will Gewißheit," sagte Ismene, "absolute Gewißheit. Sonst habe ich keine ruhige Minute mehr."

"Ehrlich gesagt, habe ich schon mit Ihrem Besuch gerechnet, und Sie haben Glück, mir hat gerade ein Patient abgesagt, und wir können den Scan sofort durchführen."

"Jetzt? Heute? Ich dachte, ich beantrage erst einen Termin."

"Das haben Sie getan, und der Termin ist jetzt. Kommen Sie, es geht gleich los."

Ismene machte ein todunglückliches Gesicht.

Die Ärztin führte Ismene in den Untersuchungsraum, wo sich zwei Schwestern ihrer annahmen. Ich saß allein im Wartezimmer, und obwohl ich zuversichtlich war, sauste das Pendel von Edgar Allan Poe so dicht über meinem Kopf hin und her, daß sich mir die Haare sträubten, wenn ich seinen Luftzug fühlte.

Die Tür ging auf, die Ärztin trat ein und faßte mich an den Händen, als ob sie mit mir tanzen wollte. Tatsächlich wirbelte sie mich zweimal herum.

"Nichts, nicht, nichts. Zwei Schwestern und so verschieden. Nicht einmal Gallensteine. Nichts, nichts, nichts." Sie tanzte wieder hinaus.

Später mußte Ismene ihre Formulare ausfüllen und ihre Kreditkarte abgeben.

"Sie werden neunzig Jahre alt werden und immer noch fit bleiben."

"Ich möchte trotzdem meine Bilder sehen. Vielleicht ist Ihnen etwas entgangen."

"Das ist Ihr gutes Recht."

Sie ging mit uns zur Leuchtwand.

"Das ist die Blase, gut entwickelt und halb gefüllt. Das ist die Gebärmutter, hier die Eierstöcke, und dieser Strich ist ihre Vagina."

"Das ist ja nur der Stengel einer Blüte. Wie soll denn da ein Mann hinein?"

"Das ist das Mysterium der Liebe. Sie warten noch auf den Richtigen, nicht wahr?"

"Wenn ich mir das anschaue, kann es überhaupt keinen Richtigen geben."

"Bedenken Sie, daß der Kopf eines Kindes durch diesen Kanal hindurchwandert."

"Noch schlimmer."

"Das ist Ihre Entscheidung."

"Gibt es überhaupt keine Phänomene und Raumverdrängungen auf diesen Photos?"

"Nicht die Spur."

"Sehen Sie genau nach." Ismenes Kommandoton kannte auch vor Ärzten keinen Respekt.

Frau Oyang fuhr mit dem Zeigestock über die Fotos.

"Hier sehe ich etwas."

"Was?" fragte Ismene bang.

"Kommen sie ganz nah heran. Hier sehen Sie diese klar abgegrenzte Erscheinung?"

"Ja." Ismene war jetzt ganz kleinlaut.

"Das ist ihr Frühstück auf dem Weg durch den Darm. Normalerweise kommen die Patienten nüchtern zu uns. Deshalb ist das ein ungewohntes Phänomen für uns."

"Ich wollte ja gar nicht. Nein, ich bin so froh. Danke, danke, danke."

"Das ist auch für mich ein schöner Augenblick," sagte Frau Ouyang.

Als wir wieder im Hotel waren, rief der Konsul an und schlug vor, sich mit uns zu einem Imbiß im Coffeeshop zu treffen. Wir bestellten nur Kleinigkeiten, und während wir darauf herumkauten, zog der Konsul ein Fax aus seiner Jackentasche.

"Was machen Sie daraus?" fragte er Ismene.

Sie las es und schüttelte den Kopf.

"Das muß mein Großvater mitten in der Nacht aufgegeben haben, am gleichen Tag, als ich mit ihm gesprochen habe."

Sie las vor:

"Sehr geehrter Herr Konsul, ich lege Wert darauf, daß meine verstorbene Großtochter Alkestis in einem repräsentativen Sarg nach Hamburg überführt wird, damit wir hier einen kirchlichen Trauergottesdienst durchführen können.

Außerdem bitte ich Sie darauf hinzuwirken, daß die Polizei von Singapur meine Enkelin Ismene und ihren Begleiter in Untersuchungshaft nimmt und gegen sie ein Gerichtsverfahren wegen unterlassener Hilfeleistung oder erwiesener Mitschuld am Tode meiner Großtochter einleitet. Mit vorzüglicher Hochachtung, Hein Hansen."

Ich nahm Ismene das Blatt aus der Hand und stand auf.

"Ich mach schnell eine Kopie, gleich wieder da."

Das war etwas riskant, da das Fax an die Deutsche Botschaft gerichtet war, aber der Konsul machte sich in diesem Augenblick darüber keine Gedanken, und als ich die Kopien fertig hatte, bat ich meine Freundin, ein Paar Stück für mich in ihrem Schreibtisch aufzubewahren, für den Fall, daß der Konsul mir meine wieder abnahm.

"Herr Hellmann ist Psychologe," sagte Ismene, als ich zurückkam.

Ich gab dem Konsul das Original zurück, der es noch einmal aufmerksam studierte.

"Das eine ist klar. Ihr Großvater hat die Bodenhaftung zur Realität verloren. Der Polizei von Singapur vorzuschlagen, wen sie verhaften soll, ist grotesk. Aber ich fürchte, wenn Ihr Großvater Sie nicht in Singapur hinter Gitter bringen kann, wird er es in Deutschland wieder versuchen."

"Ich sehe in diesem Text einen Verzweiflungsausbruch des alten Mannes beim Erhalt der Todesnachricht," sagte ich. "Sozusagen ein Stück Trauerarbeit."

"Das mag dazukommen," sagte der Konsul, "aber erinnern Sie sich noch, wie völlig ungläubig unser Kriminalkommissar reagierte, als Sie, Frau Hansen, bei der Befragung erklärten: Mein Vater besaß kein Vermögen, außer seiner Liebe für uns? Sie haben dann Herrn Hellmann ermächtigt, den Kommissar aufzuklären."

"Ich kläre Sie gerne auch auf. Unsere Firma gehört zu je einem Drittel meinem Großvater, meiner Schwester und mir."

"Das ist ungewöhnlich."

"Opa hat das nach dem Tod unserer Mutter eingerichtet. Wegen der Erbschaftssteuer."

"Wie alt ist Ihr Großvater?"

"Fünfundsiebzig."

"Nach meiner Schätzung erben Sie den Anteil Ihrer Schwester ganz oder zur Hälfte. Aber nicht, wenn Sie in Singapur im Gefängnis sitzen. Oder in Deutschland. Dann sind Sie erbunwürdig."

"Was hätte Opa davon? Er befindet sich - wie Mark sagt - in einem Stadium der Entstrukturierung des Ichs. Wir sind nach Singapur gekommen, weil wir ganz dringend einen Geschäftsführer suchen und sehen wollten, ob Vater für den Job geeignet war."

"Mit Billigung Ihres Großvaters?"

"Er war außer sich vor Wut. Aber meine Schwester und ich haben die Mehrheit. Wir entscheiden, wenn es hart auf hart geht. Das hat mir mein Vater erklärt."

"Das kann Ihrem Herrn Großvater nicht passieren, wenn es ihm gelingt, den Anteil Ihrer Schwester an sich zu reißen."

"Ich kriege ihn doch zurück, wenn er stirbt. Ich war vorhin zur Vorsorge Untersuchung im Raffles Hospital. Sie haben gesagt, ich kann neunzig werden und die ganze Zeit fit bleiben."

"Gratuliere. Warum haben Sie das machen lassen?"

"Wegen der Verantwortung, eine Firma mit zweitausend Mitarbeitern zu leiten."

"Sie wollen die Leitung übernehmen?"

"Sobald ich die Kapitalmehrheit habe. Ich habe von meinem Vater viel gelernt."

Größenwahn, fand ich, Tropenkoller, totale Selbstüberschätzung. Das mußte elend scheiten. Aber ich kannte die Spielregeln der Reichen nicht. Wenigstens würde dieser Plan ihr helfen, sich aus dem Schmerz um Kolmar und Alkestis heraus zu beißen. Deshalb wollte ich sie nicht entmutigen.

"Sind Sie da nicht auf Kollisionskurs mit Ihrem Großvater?" fragte der Konsul.

"Ja und?" erwiderte Ismene kampfeslustig.

"Unterschätzen Sie einen alten Fuchs nicht. Sie brauchen Rechtsbeistand. Den besten, den Sie in Hamburg haben können."

"Meinen Sie?"

"Ich werde mal unsere Rechtsabteilung fragen, ob die jemand wissen."

Ich kramte in meiner Brieftasche. Da war die Dienstnummer von Chantal.

"Ich kenne jemand im Büro des Justizsenators. Aber die schlafen alle noch."

"Da steht Ihnen ein langer Abend bevor. Das ist der Nachteil der Zeitverschiebung. Halten Sie mich auf dem Laufenden."

"Ich geh auf mein Zimmer, ich mag nichts mehr hören," sagte Ismene.

Ich ging ins Business Center und bat meine Bekannte, mich mit Herrn Lau zu verbinden. Sie war selber erstaunt, wie schnell das ging.

Er geriet völlig aus der Fassung, als ich ihm von Alkestis erzählte.

"Die tollkühne Schwimmerin am Sentosa-Riff, das war sie? Was für ein Jammer, so eine schöne Frau, so eine schöne Frau."

"Wie Sie gesehen haben, hat sie noch eine Schwester. Sie möchte Sie gern besuchen, um das Projekt weiterzuführen. Wann würde es Ihnen passen?"

"Warten Sie. Morgen Vormittag um zehn: Ja. Ich bin immer noch ganz geschockt. Wie kann der Himmel es nur erlauben, daß so eine schöne Frau stirbt? Sagen Sie ihrer Schwester mein herzliches Beileid."

Herrn Laus Mitgefühl wirkte geradezu ansteckend, mein Hals wurde dick.

Meine Freundin ließ mich ein Kostenformular unterschreiben und drückte mir die restlichen Kopien des Botschafts-Faxes in die Hand.

Ismene war nicht auf ihrem Zimmer. Ich fand sie im Swimmingpool zwischen unseren Häusern. Sie winkte mir aus dem Wasser zu, stieg heraus und trat unter die Dusche.

"Man muß einfach weitermachen," erklärte sie. "Sonst ist es aus." Kleine Wassertropfen glitzerten im Sonnenlicht auf ihrer Haut. Man konnte jede Pore, jede Unreinheit erkennen. Ein schlanker, fester Körper. Wie die Bronzestatue einer Sportlerin. Mehr sah ich nicht in ihr.

Um sechzehn Uhr rief ich Lörke an. Sie hob sofort ab.

"Hellmann hier."

"Was gibt es? Ich habe keine Zeit."

"Ich bin noch in Singapur."

"Das ist ja entzückend."

"Wir hatten hier einen Todesfall."

"Was haben Sie damit zu tun?"

"Es ist meine Reisebegleiterin."

"Die Schöne aus der Oper? Sind Sie wahnsinnig? Wie ist es passiert?"

"Beim Baden ertrunken."

"Wie schrecklich. Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken. Ich sage der Personalabteilung Bescheid."

Ich versuchte es anschließend bei Chantal, und sie war tatsächlich schon auf ihrem Zimmer.

"Frohes Neujahr, Chantal. Hier ist Hellmann."

"Lebst du auch noch?“

"Auf der anderen Seite der Weltkugel. Ich bin zum Jahreswechsel nach Singapur geflogen, mit Freunden."

"Wahrscheinlich Freundinnen, wie du gestrickt bist.  Rufst du mich an, weil du ein Problem mit ihnen hast?"

"Ich nicht. Eine von ihnen hat ein Problem. Ich dachte, du könntest herausfinden wer der beste und schärfste Rechtsanwalt für Firmen-Erbschafts-Angelegenheiten in Hamburg ist, und ob er heute im Büro erreichbar ist. Soll ich in einer halben Stunde wieder anrufen?"

"Langsam, langsam. Firmen sterben nicht. Nur ihre Inhaber."

"Darum geht es."

"Eine von deinen Freundinnen?"

"Ja."

"Das ist ja entsetzlich."

"Die Überlebende braucht den Anwalt."

"Ja natürlich. Sag mir noch, was für ein Volumen die Erbmasse hat."

"Keine Ahnung. Dreißig Millionen Jahresgewinn vor Steuern."

"Du bettest dich gut."

"Ich lebe gefährlich."

Ich legte mich hin und war bereit zu glauben, daß wir alle an Verfolgungswahn litten, als mein Telefon klingelte.

"Mark, bist du es?" Es war die Stimme von Leons Mutter.

"Ja."

"Wie konnte das passieren? Ist es wirklich wahr?"

"Es war ein Badeunfall. Leichtsinn, Übermut, Unkenntnis. Niemand konnte das ahnen, niemand konnte das verhindern." Die Wahrheit sollte keiner wissen. Ein Außenseiter würde sie nie verstehen.

"Der Alte sagt, ihr beide, Ismene und du, ihr habt sie umgebracht, um euch die Firma unter den Nagel zu reißen."

"Ich habe nicht das geringste Interesse an eurer Branche."

"Das glaube ich dir sogar. Aber du mußt vorsichtig sein. Er führt was gegen euch im Schilde. Und er ist ein gefährlicher Mann. Ich kann nicht länger auf Firmenkosten mit Singapur telefonieren. Ruf mich an, wenn es etwas Neues gibt."

Ich trank ein Tonic Water ohne Gin, um mir die Zeit zu vertreiben. Dann legte ich mir einen Papierblock aufs Bett.

Chantal nahm sofort ab.

"Ich habe jemand für dich. Es ist Herbert Menzelius, ich diktiere dir die Telefon und Fax Nummer."

Ich schrieb alles mit.

"Ruf mich an, wenn ihr nicht klar kommt, und ruf mich an, wenn ihr klar gekommen seid."

"Ich lade dich wieder in den Kaiserhof ein."

Ich nahm die Nummern und ging damit zu Ismene hinüber. Es dauerte lange bis sie aufmachte, weil sie auf der Verandah gesessen hatte.

Sie stellte das Telefon auf Lautsprecherbetrieb. Sie mußte es eine Weile klingeln lassen. Dann sagte eine geschulte Stimme:

"Menzelius."

"Ich bin Ismene Hansen in Singapur. Ich möchte Herrn Menzelius sprechen."

"Am Apparat."

"Ich bin Ismene Hansen. Ich bin eine Hamburger Bürgerin. Muß ich mich irgendwie ausweisen?"

"Ich glaube Ihnen. Ihr Anruf wurde uns durch die Kanzlei des Justizsenators angekündigt, und wir sehen auf dem Display, woher Sie anrufen."

"Danke. Ich bin theoretisch Mitinhaberin der Firma Hansa Marine. Wir sind drei Personen, denen die Firma zu gleichen Teilen gehört: Mein Großvater Hein Hansen, meine Schwester Alkestis und ich."

"In der Bildzeitung steht, daß Ihre Schwester in Singapur beim Baden ertrunken ist."

"Richtig. Mein Großvater hat die Deutsche Botschaft gebeten, mich durch die Polizei von Singapur festnehmen zu lassen."

"Lächerlich."

"Ich habe das Gefühl, mein Großvater will mich mit allen Mitteln um meinen Anteil am Erbe meiner Schwester bringen."

"Gefühle sind nicht beweiskräftig. Ich mache Ihnen einen ganz einfachen Vorschlag. Sie können durch mich einen Soforttermin zur Eröffnung des Nachlaßverfahrens Ihrer Schwester beantragen. Dann wird die Erbsache innerhalb kürzester Zeit erledigt."

"Ist das erlaubt?"

"Kopf hoch. Sie haben im Augenblick absolut die gleichen Rechte, wie Ihr Großvater, und hinterher hoffentlich wesentlich größere. Alles was ich von Ihnen brauche, sind eigenhändige Unterschriften. Ich faxe Ihnen alle Unterlagen zu. Das kann einen Augenblick dauern. Sie unterschreiben alles, am besten mit Füllhalter oder Tintenroller, und senden alles pronto pronto per DHL an meine Kanzlei. Sie bekommen von DHL eine sogenannte Verlaufsnummer. Anhand dieser Nummer kann man erkennen, wo auf der Welt sich Ihre Dokumente gerade befinden. Rufen Sie uns an, sobald Sie die Nummer haben und geben Sie sie uns durch. Und noch etwas brauche ich, Ihre Fax-Nummer."

Zum Glück hatte ich uns die Faxnummer des Business Centers aufgeschrieben. Ich gab sie ihr.

"Das Wichtigste hätte ich fast vergessen: Mein persönliches Beileid zum Tode Ihrer Schwester."

Der Außenlautsprecher ließ das Freizeichen überlaut schrillen. Ismene legte schnell auf. Von draußen setzten die Zikaden das Schrillen fort.

"Weißt du noch, daß Cis gestern mit uns zur blauen Stunde an den Singapore River wollte. Glaubst du, sie wollte es wirklich?"

"Ja, das glaube ich. Sie hatte nichts geplant. Erst als sie die Brandung am Riff sah, erkannte sie ihre Chance."

"Warum war sie so ungeduldig? Ihr hättet noch schöne Tage auf Gran Canaria gehabt."

"Ich glaube, sie wollte aufhören, solange das Leben noch schön für sie war. Sozusagen auf dem Höhepunkt Lebewohl sagen. Ich geh jetzt ins Business Center wegen der Faxe Bescheid sagen."

Bei der Gelegenheit fragte ich meine chinesische Geschäftsfreundin gleich, ob sie unseren Rückflug mit Singapore Airlines umbuchen könnte. Ismene und ich hatten ja verschiedene Flugdaten und Sitzklassen. "Heute oder morgen?" fragte sie.

"Morgen abend, wenn es geht."

Wir wollten vorher noch zu SME, das hatten wir Alkestis versprochen.

Das Fax-Gerät spuckte schon die Formulare aus Hamburg aus. Ismene unterschrieb sie, und ich brachte sie zusammen mit unseren Flugscheinen zurück ins Business Center.

Am Nachmittag besorgte ich in einem japanischen Supermarkt an der Orchard Road einen großen Strauß roter Rosen und nahm ein Taxi zum Sentosa Strand. Der Badewächter war der gleiche und erkannte mich sofort.

"Those flowers are for her?"

"Yes."

"Don't throw them on the waves. We have a special place." Ich mußte meine Schuhe und die lange Hose ausziehen. Er führte mich durch seichtes Wasser zu einem Felsen, der zur Meerseite hin eine nur vom Wasser aus erreichbare Nische hatte, in der vertrocknete Blumen lagen. Ich legte die Rosen dazu.

"Here she can see them," sagte der Strandwächter. Die Brandung stand immer noch wie ein breiter Wasserfall am Horizont.

 

19. KAPITEL

Direktor Lau kondolierte Ismene mit allen Zeichen persönlicher Betroffenheit. Ich merkte ihm an, daß er Ismene nicht so attraktiv fand wie ihre verunglückte Schwester. Die zwei kamen aber schnell so ins Fachsimpeln, daß ich nicht zu folgen vermochte und mich auf die unberechenbaren Eigenbewegungen der Teeblätter in meiner Tasse konzentrierte.

Anschließend trieb Ismene uns zur Zentrale der Küstenwache, wo sie sich ausführlich schildern ließ, was man alles zur Rettung Knuts unternommen hatte. Inzwischen war die Suche eingestellt, der Diensthabende hielt es aber für möglich, daß ihn ein Fischerboot aufgenommen und auf einer anderen Insel abgesetzt hatte. Ismene hinterließ genaue Anweisungen, was zu tun wäre, wenn er mittellos und ohne Papiere aufgefunden würde.

Auf der Fahrt zum Flughafen gestand Ismene, daß sie die Frau vom Business Center gebeten hatte, mich auf ihre Flug-Klasse umzubuchen, weil sie nicht allein sitzen wollte.

Die Business Class der Singapore Airlines war so komfortabel, wie ich mir früher das Reisen in Zeppelinen vorgestellt hatte. Es gab nur zwei Sitze pro Reihe, mit ausreichend Abstand zum Vordermann, und obwohl Ismene und ich zusammen saßen, trennte uns eine massive Mittellehne, die so breit war, daß die Flugbegleiterinnen darauf zwei Whisky-Gläser nebeneinander abstellen konnten. Der dadurch erzwungene Abstand zum Nachbarn war mir sehr angenehm, weil er mir nicht die Erinnerung nahm, wie eng ich auf dem Hinflug in der Touristenklasse bei hochgeklappter Mittellehne mit Cis zusammen geklebt hatte.

Wir waren pünktlich in Frankfurt, aber Hamburg war in dichten Nebel gehüllt. Der Anschlußflug fiel aus. Niemand wußte, wann der Betrieb wieder aufgenommen werden würde. Wir nahmen ein Taxi zum Hauptbahnhof und kamen gerade rechtzeitig zur Abfahrt eines Zuges nach Hamburg. Ismene wußte wo das Amtsgericht war. Der Pförtner nannte uns die Nummer des Sitzungssaals.

 Ein kleiner holzgetäfelter Raum mit einem Podest für den schon betagten Richter und seinen Protokollanten. An einem Tisch saßen der alte Hansen und sein Rechtsanwalt; Ismene steuerte gleich den zweiten Tisch an, hinter dem sie Menzelius vermutete, einen noch jüngeren, perfekt gekleideten Mann mit bernsteinbraunen Augen, der uns mit großer Höflichkeit begrüßte. Zuschauer gab es nicht.

Wir waren spät dran. Zum Glück hatte man auf uns gewartet. Die Verhandlung wurde sofort eröffnet, aber ich war geistig nicht präsent und wurde erst hellwach, als der Richter fragte:

"Herr Hansen, gibt es in Ihrem Gesellschaftervertrag eine Geheimklausel über den Erbschaftsfall?"

"Ja, die gibt es. Aber sie ist hier ohne Belang."

"Haben Sie noch im Kopf, wie sie lautet?"

"Sie besagt, daß im Fall des Todes einer meiner Enkelinnen die überlebende Schwester deren gesamten Firmenanteil übernimmt. Ehemann oder Kinder gehen leer aus."

"Und Sie Herr Hansen, gehen Sie auch leer aus?"

"Wir haben nie damit gerechnet, daß ich meine Großtochter überlebe. Nein, ich bekomme nichts. Es sei denn, daß meine Enkelin Ismene erbunwürdig ist."

Der Rechtsanwalt von Herrn Hansen stand auf.

"Wir haben hier einen Antrag auf Aussetzung des Nachlaßverfahrens bis zur Klärung dieser Frage."

"Wenn Sie es jetzt nicht wissen und beweisen können," rief Menzelius, "wie wollen Sie es in vierzehn Tagen oder vier Monaten? Alles, wozu das führt, ist, daß der Name und die Ehre der Familie Hansen in den Schmutz gezogen wird."

"Ich bitte um zehn Minuten Aussetzung des Verfahrens," bat Hein Hansen. "Ich muß mit Herrn Hellmann sprechen."

"Hellmann ist Gegenseite!" rief sein Anwalt.

"Sie sind auch Gegenseite," parierte Hansen. "Sie haben nichts richtig vorbereitet."

"Antrag genehmigt," verkündete der Richter. Ich sah Menzelius fragend an.

"Versuchen Sie Ihr Glück."

Ich stand auf und ging zu Herrn Hansen hinüber. Er packte mich mit hartem Griff am Arm und zog mich auf den Gang hinaus.

"Sie waren doch der Vertraute von Alkestis. Nicht von Ismene."

"Das ist immer noch so."

"Wie konnte es zu diesem Unfall kommen?"

"Alkestis hat ihre Kräfte beim Schwimmen überschätzt. Sie war schwer krank."

"Das höre ich zum ersten Mal."

"Wir haben es erst in Singapur erfahren. Sie hatte die gleiche Krankheit wie ihre Mutter. In fortgeschrittenem Stadium."

"Das hätte man merken müssen."

"Es gab Symptome. Man hat sie nur nicht beachtet. Zu Frau May, mit der wir in der Oper waren, sagte sie, daß ihre Blase von Tag zu Tag kleiner würde. Das gibt es bei Schwangerschaften und bei rapide wachsenden Geschwulsten."

"Vielleicht war alles nur Einbildung."

"Wir waren im besten Krankenhaus von Singapur. Sie sagten uns, daß Alkestis noch sechs Monate zu leben hatte."

"Unfaßbar. Meine Tochter, ihre Mutter, hat schrecklich gelitten."

"Das blieb Alkestis erspart."

"Angenommen ich glaube Ihnen - was führt Ismene mit diesem Überraschungsangriff im Schilde?"

"Sie hat Angst vor Ihnen."

"Angst vor mir?"

"Sie sind zuweilen, wenn ich das sagen darf, etwas unberechenbar."

"Schon möglich."

"Wissen Sie noch, was Sie ihr am Telefon in Singapur erzählt haben?"

"Nein."

"Sie hat es nicht vergessen. Sie wird es nie vergessen. Graf Kolmar war ihre große Liebe."

"Es war ein Unfall."

"Das hat sie am Telefon in Singapur anders verstanden. Glauben Sie, daß sie Ihnen jetzt noch unbefangen in die Augen blicken kann? Mit Ihnen zusammen den Betrieb leiten will?"

"Das ist meine Sache."

"Ismene drängt es in die Verantwortung."

"Hören Sie auf! Das ist alles Quatsch."

"Nein, es ist todernst." Ich nahm all meinen Mut zusammen und fuhr stockend fort: "Mein Vorschlag wäre: Sie führen gemeinsam mit Ismene die Trauerfeier für Alkestis durch, und suchen dann eine für alle annehmbare Lösung."

"Sie sind total verrückt."

"Gönnen Sie sich noch ein paar sonnige Tage. Sie haben Ihr Leben lang schwer gearbeitet."

"Das können Sie gar nicht beurteilen. Sie wissen nicht, wie hart die Nachkriegsjahre waren."

"Ismene ist auch ein Mensch, der nichts als die Arbeit kennt. Das hat sie von Ihnen."

"Sie ist viel zu unerfahren. Schmieren Sie mir keinen Brei um den Bart. Danke, daß Sie ehrlich waren. Das mit der Krankheit von Alkestis darf niemand erfahren."

"Nein."

Er packte mich am Arm.

"Kommen Sie."

Als wir den Gerichtssaal betraten, nahmen alle wieder ihre alten Plätze ein.

"Herr Hansen," sagte der Richter, "wir waren bei der Frage stehen geblieben, ob das Verfahren ausgesetzt werden sollte, um die Erbwürdigkeit Ihrer Enkelin zu überprüfen."

"Davon ist mir nichts bekannt," sagte Hansen würdevoll. "In meinen Augen ist meine Enkelin Ismene Hansen absolut und uneingeschränkt erbberechtigt und erbwürdig. Ich möchte dem Gericht vorschlagen, die Geschäftsanteile meiner verstorbenen Großtochter Alkestis in voller Höhe an meine Enkelin Ismene zu übertragen."

"Wissen Sie, was Sie da sagen?" fragte sein Anwalt.

"Wenn ich es nicht wüßte, wäre das erst recht ein Anlaß, so zu verfahren."

"Einwände gegen diesen Antrag?"

Der Richter sah Ismene an. Sie schüttelte leicht den Kopf.

"Im Nachlaßverfahren Alkestis Hansen des Amtsgerichts Hamburg ergeht folgender Beschuß: Im nichtöffentlichen Teil des Handelsregisters des Amtsgericht Hamburg wird nach Ablauf der gesetzlichen Frist folgende Änderung vorgenommen. Eigentümer der Firma Hansa Marine sind zu dreiunddreißig ein Drittel Prozent Herr Hein Hansen, unverändert, zu sechsundsechzig zwei Drittel Prozent Frau Ismene Hansen, Hamburg. Ist das korrekt?"

"Absolut," sagte Menzelius.

"Damit ist die Sitzung des Amtsgerichts Hamburg geschlossen. Ich gratuliere Ihnen, Frau Hansen."

"Ich wünsch mir nur eins," schrie Ismene, " es hätte den Anlaß zu dieser Sitzung nie gegeben hätte und meine Schwester noch am Leben wäre. Wir haben sie alle geliebt." Sie brach in heftiges Schluchzen aus.

"Mein aufrichtiges Beileid, der ganzen Familie," sagte der Richter weihevoll.

Die Versammlung war aufgehoben.

Alle erhoben sich. Der Großvater näherte sich steif seiner Enkelin.

"Wo wohnst du?"

"Ich bin gerade angekommen. Ich kann jetzt nicht in das Haus, in dem alles an Alkestis erinnert.

"Versteh ich," brummte der Alte.

"Ich gebe deiner Sekretärin meine Telefonnummer, sobald ich sie habe. Ruf mich an, wenn ich dir helfen kann."

"Wir treffen uns Sonntag um halb zwei vor dem Dom." Er hob die Stimme an. "Die Trauerfeier für meine Enkelin Alkestis beginnt um vierzehn Uhr. Sie sind alle eingeladen."

"Wir kommen selbstverständlich," rief Menzelius.

"Hast du ein Traueressen geplant?" fragte Ismene.

"Mir ist nicht eingefallen, wen ich einladen soll."

"Wie wäre es mal etwas unkonventionell mit der ganzen Belegschaft? Aber nicht mit Kantinenessen, sondern dem Feinsten vom Feinsten von einer unserer Catering-Partner-Gesellschaften. Bis Dienstag müßten die das hinkriegen, wenn du ihnen gleich einheizt. Ich ruf deine Sekretärin an, daß sie die Einladung ans schwarze Brett setzt."

"Ich wußte, daß dir was einfällt. Das andere schaffst du auch."

Er umarmte Ismene und entfernte sich mit unbeholfenen Schritten, begleitet von seinem Rechtsanwalt.

"Was meint er damit, das andere schaffst du auch?"

"Er ist unberechenbar," erklärte ich, "aber angesichts der neuen Mehrheitsverhältnisse wird er dir wohl ein Mitspracherecht in der Firmenleitung einräumen."

"Glaubst du wirklich? Sie krallte beide Hände in meinen rechten Arm. "Hat er das gesagt?"

"Nein, er hat gar nichts gesagt. Ich schätze, ohne Alkestis sieht er keinen Sinn mehr in seiner Arbeit."

"Wie wäre es," schlug Menzelius vor, "wenn wir alle zusammen in den Ratskeller essen gehen?  Ich habe einen Tisch reservieren lassen."

Wir waren beim Essen zu viert. Menzelius, sein Adlatus, der schon eine Kopfglatze hatte, die ihn älter aber auch gescheit aussehen ließ, Ismene und ich. Kaum hatten wir Hummercremesuppe und den Ratsherrentopf mit drei Sorten von Filets bestellt, da drängte Ismene mich, die Sekretärin ihres Großvaters auszurichten, sie sollte die Belegschaft über das Traueressen informieren. Sie schrieb die Telefonnummer auf eine Papierserviette.

"Besser Frau Hallstein," wand ich ein, "sie kennt mich."

"Ich habe ihre Nummer nicht im Kopf."

"Über die Zentrale." Sie mußte nicht wissen, daß ich die Nummer kannte. Ich stand auf und ging in eine Telefonkabine, bevor die Suppe kam.

"Hansa Marine, Hallstein."

"Mark Hellmann in Hamburg."

"Wie geht es dir? Keine Schwierigkeiten?"

"Große Neuigkeiten. Ich komme gerade von einer Besprechung mit dem alten Hansen und Ismene, die sich gut vertragen haben. Ich habe von ihnen einen Auftrag an dich. Du sollst sofort einen Aushang an alle schwarzen Bretter bringen, bevor die Leute heimgehen."

"Warum ich?" protestierte sie. "Ich bin keine Schreibkraft."

"Du kannst organisieren." Ich erklärte ihr was Ismene mit ihrem Großvater vereinbart hatte.

"Wirst du in Zukunft mein Chef sein?" fragte sie.

"Unsinn. Ismene ist im Augenblick noch nicht weisungsberechtigt. Ich arbeite für sie. Deshalb darf ich ihre Ideen verbreiten. Bis bald."

Als ich an unseren Tisch zurückkehrte, war meine Suppe lauwarm. Aber Ismene ließ mich nicht zum Essen kommen.

"Was hast du erreicht?"

"Der Aushang wird in zehn Minuten an euren Schwarzen Brettern hängen. Anschließend wird Frau Hallstein Opas Sekretärin wegen der Essens-Bestellung löchern."

"Ich habe schnell mal kopfgerechnet, auf welchen Auftragswert wir kommen. Es wird über eine Million. Vielleicht rufst du noch mal Frau Hallstein an, damit die Chefsekretärin nicht in Ohnmacht fällt."

 Susanne war zum Glück noch an ihrem Schreibtisch. Ich erzählte ihr, daß Ismene den Auftragswert bei über einer Million sieht.

"Eins Komma fünfzehn schätze ich," war ihre Antwort.

"Frau Hansen hat Angst, daß Opas Sekretärin das nicht verkraftet."

"Ja, das verstehe ich. Am besten rechne ich ihr vor, wieviel Steuern wir damit sparen. Machs gut. Ich muß arbeiten. Wann sehen wir uns wieder?"

"Wenn der Trubel vorbei ist."

Susanne lag immer noch einiges an mir. War es vorstellbar, daß sie nichts von meiner Beziehung zu Alkestis mitbekommen hatte? Ich hatte mich ihr gegenüber nicht offen und anständig verhalten. Das mußte dringend bereinigt werden.

Als ich an unseren Tisch zurückkehrte stand eine frisch dampfende Suppe auf meinem Platz. Ich nickte Menzelius dankbar zu.

"Wir können Sie ja keine kalte Suppe essen lassen, wenn ich einlade," schmunzelte Menzelius.

"Ich bin schlimm," sagte Ismene.

"Nein," widersprach Menzelius, "Sie sind die geborene Chefin, und das müssen Sie auch sein, bei dem Erbe, das Sie heute angetreten haben."

Nachher gingen wir langsam durch die Fußgängerzone, etwas benommen von der nach Singapur ungewohnten Winterkälte.

"Du sagtest, du gehst nicht zurück in euer Haus zum Großvater."

"Am liebsten würde ich mir ein Zimmer in deiner Herberge nehmen. Dort kennt mich niemand."

"Unmöglich. Die Firmenerbin im Stundenhotel. Kennst du den Kaiserhof?"

"Nein."

"Da vorne. Dort bist du auch relativ anonym."

Man zeigte uns eine Suite, die in nachgemachtem Empire-Stil möbliert war und nach Brokat und Staub roch. Ein stattlicher Wohnraum, ein großes Schlafzimmer. Die Badewanne auf gekrümmten Eisenfüßen.

"Das brauche ich nicht," erklärte sie.

"Du nicht. Die Mehrheitseigentümerin von Hansa Marine."

An der Rezeption legten sie uns ein Anmeldeformular vor und verlangten eine Anzahlung in bar. So viel Bargeld hatten wir nicht mehr bei uns. Ich bot meine Kreditkarte an, dafür mußte ich mich als Gast eintragen. Ismenes Name tauchte gar nicht auf. Sie ließ sich von der Rezeption aus mit Susanne verbinden, um ihr ihre neue Telefonnummer durchzugeben. Ich gab unsere Flugscheine mit den Gepäckabschnitten dem Empfangschef, der unser nach Hamburg durchgechecktes Gepäck in Fuhlsbüttel abholen lassen wollte.

Wir waren noch nicht lange oben, da klingelte in der Suite das Telefon.

"Hansen hier," nahm Ismene ab.

"Ja, Opa, ich weiß, wieviel Geld das Essen kostet. Genau ein Dreißigstel oder drei Prozent unseres Jahresgewinns vor Steuern. Das heißt, den Löwenanteil dieser Summe zahlt sowieso das Finanzamt. Woher ich das so genau weiß? Ja, wenn ich das nicht wüßte, sollte ich besser Klo putzen gehen auf den Containerschiffen. Ja, meine Schwester ist mir das wert, und dir auch, gib es doch zu. Nein, die Belegschaft kann daraus kein Gewohnheitsrecht ableiten. Ich werde neunzig, hat mir die Ärztin in Singapur gesagt, und du bestimmt auch. Hast du denn jemanden gefunden? Dann nimm das beste Angebot."

Sie legte auf.

"Wie war ich?"

"Großartig." Ich vermutete, der Alte sah in dem Festschmaus vor allem sein eigenes Abschiedsessen und konnte sich nicht entscheiden, soviel Geld dafür auszugeben.

"Haben wir hier einen Cognac? Ich bin ganz durchfroren von der Winterluft."

Ich verstehe nichts von Cognac, aber in der Minibar gab es einen Martell in einer blauen Flasche, der einen teuren Eindruck machte. Bevor ich uns etwas eingoß, fragte ich sie:

"Möchtest du allein sein? Du hast so viel erlebt, worüber du nachdenken mußt. Ich kann in meine Pension gehen."

"Auf keinen Fall. Wir müssen unseren Erfolg feiern."

Wir blickten uns erleichtert in die Augen und hoben die Gläser an die Lippen.

"Hast du für heute Abend schon etwas vor?" fragte ich.

"Nein. Wieso?"

"Ich habe der Frau, die uns den Rechtsanwalt empfohlen hat, versprochen sie in den Kaiserhof zum Abendessen einzuladen."

"Dann mußt du das tun."

"Wir beide zusammen."

"Ich kenne sie überhaupt nicht."

"Du bist es, die von ihrem Rat profitiert hat, nicht ich. Sie ist hochintelligent. Sie kennt sich aus im Dschungel der Behördenvorschriften. Du mußt Beziehungen aufbauen zu Leuten deines Alters."

"Ist sie deine...?" Sie sprach den Satz nicht zu Ende aus.

"Wenn du es genau wissen willst: Ihr Privatinteresse an mir ist genauso groß wie deins."

"Dann habe ich keine Einwände."

Ich setzte mich ans Telefon.

"Senator für Justiz," meldete sich Chantal.

"Hellmann in Hamburg."

"Rufen Sie in zehn Minuten nochmal an. Ja?"

Sie legte auf.

Wir tranken langsam unseren Cognac, und ich behielt die Uhr im Auge.

Beim zweiten Anlauf war Chantal allein.

"Erzähl, erzähl, hat dir mein Tip geholfen?"

"Ganz enorm. Wir waren heute vormittag schon im Amtsgericht. Dabei war der Flughafen wegen Nebel gesperrt."

"Hast du jetzt einen Goldfisch an der Leine?"

"Ich esse keinen Fisch. Bist du heute Abend schon in festen Händen?"

"Nicht direkt. Ich bin ganz locker."

"Ich habe dir ein Essen im Kaiserhof versprochen. Wenn es dir heute paßt? Meine Bekannte wird dabei sein. Sie möchte dich kennen lernen."

"Ihr beide und ich? Sonst niemand?"

"Nur wir drei."

"Huh, ich platze vor Neugier. Um wieviel Uhr?"

"Viertel vor sieben."

"Ich komme, ich komme."

Die Verbindung war weg. Ich nahm Ismene die Cognacflasche aus der Hand.

"Als Gastgeberin brauchst du einen klaren Kopf."

"Du hast bestimmt recht. Ich bin noch ganz steif von der Reise. Laß uns ein bißchen hinlegen."

In dieser Suite hatte das Schlafzimmer keine französische Liege, sondern zwei getrennte Betten mit einer Ritze aus Holz in der Mitte. Ismene löste das Problem, indem sie sich in mein Bett drängelte. Im kalten Deutschland konnte man gut zusammen liegen und sich berühren, ohne gleich ins Schwitzen zu kommen, wie im tropischen Singapur. Ich spürte ihre Körperwärme, aber sie ließ mich kalt. In einem Punkt blieb Ismene sich treu. Sie schlief sofort ein.

Als wir um viertel vor sieben ins Restaurant hinunter fuhren, saß Chantal schon an der Bar, ein Glas Wasser vor sich. Sie war viel schicker gekleidet als Ismene, die noch aus dem Koffer leben mußte. Ich wollte die Damen einander vorstellen, aber Chantal kam mir zuvor. Sie streckte ihre Hand aus und sagte:

"Ich bin Chantal. Das ist ein ungewöhnlicher Name für Hamburg. Meine Vorfahren waren Hugenotten."

"Ich habe einen noch viel ungewöhnlicheren Namen. Ich heiße Ismene. Das kommt aus einem griechischen Drama."

"Ich weiß. Ich kenne das Stück. Ismene ist eine herzensgute Frau, die ihren blinden Vater Ödipus an der Hand durch ganz Griechenland führt, weil er von zu Hause verbannt ist."

"Sie wissen mehr als ich."

"Zufall."

Erst jetzt bekam ich von Chantal einen züchtigen Kuß auf die Wange. Der Kellner wies uns einen Tisch an und brachte uns die Speisekarte.

"Ich esse Fisch," rief Chantal anzüglich.

"Ich auch," pflichtete Ismene bei.

Um mein Gesicht zu wahren, bestellte ich einen Krabbencocktail als Vorspeise. Das waren ja Krustentiere. Und hinterher ein Rinderfilet in grünem Pfeffer.

"Ihr habt eine Menge erlebt," eröffnete Chantal das Gespräch.

"Mein Vater war auch von zu Hause verbannt," gestand Ismene mit ungewöhnlicher Offenheit. "Deshalb haben meine Schwester und ich ihn in Singapur besucht. Und dort hat meine Schwester diesen schrecklichen Badeunfall erlitten."

"Mein inniges Beileid." Chantal drückte Ismenes Hand. "Wie wird es jetzt weiter gehen?"

"Im Augenblick leitet mein Großvater die Firma, aber er hat schon Ausfälle. Er ist fünfundsiebzig. Mark hält es für möglich, daß er mir Verantwortung überträgt  weil ich Mehrheitsgesellschafterin bin."

"Dann muß er das tun. Wie alt bist du?"

"Sechsundzwanzig."

"Genau wie ich. Du hast bestimmt Lampenfieber."

"Wahnsinniges."

"Wie stellst du dir deine Rolle vor?"

"Wir sind ein Familienbetrieb. Ich kenne jeden Mitarbeiter. Da laß ich keinen Fremden dazwischen pfuschen. Wir haben hervorragende Sachgebietsleiter."

Die Vorspeisen wurden gebracht, und wir vertieften uns schweigend in ihren Genuß. Ismene bestellte eine Flasche Champagner, aber Chantal fiel ihr ins Wort.

"Nimm besser einen Schweizer Weißwein, den man mit Wasser verdünnen kann. Da kann man sich besser unterhalten. Goethe hat das auch so gehalten."

"Hast du Literatur studiert?" fragte Ismene.

"Nein, Verwaltungswissenschaften."

"Ich wußte gar nicht, daß es das gibt."

"Fachhochschule. Deutschland ist verwaltungssüchtig. Da wirst du niemals arbeitslos."

"Muß man nicht Jura dazu haben?" fragte ich.

"Gute Juristen kennen. Das reicht."

"Du hast uns wunderbar beraten," platzte Ismene ihr erstes Dankeswort heraus.

"Für Freunde tu ich alles."

"Was verwaltest du im Augenblick im Senat?"

"Ich beobachte die Rechtsprobleme mittelständischer Unternehmen in Hamburg."

"Die sie hauptsächlich mit der Verwaltung haben," fügte ich an.

"Du wirst dich wundern. Die größten Probleme gibt es mit dem Generationswechsel in der Führungsspitze. Die Alten wollen das Ruder nicht aus der Hand geben, und die Jungen beraten mit Spekulationsbankiers, wie man die Firma zerschlagen kann, um an die Bodenschätze heranzukommen."

"Was für Bodenschätze?"

"Ein zweihundertfünfzig Jahre altes Lagerhaus an einem Fleet in Altstadtlage ist auf dem Wohnungsbaumarkt Millionen wert."

"Das mißfällt dir?"

"Die Spekulationsbankiers denken doch nicht daran, den Erlös ins Firmenvermögen zurückzuführen."

"Dieses Problem haben wir nicht," stellte Ismene klar.

"Ich glaube, hier kommt der Fisch, den wir essen," rief Chantal.

Der frische Geruch der in Butter gebratenen Seezunge ließ mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Mein Filet war auch nicht schlecht, es mußte nur kräftig gekaut werden, bevor es einem auf der Zunge zerfloß. Dadurch trat eine Pause in unserer Konversation ein. Ich beobachtete, daß Chantal und Ismene einander wohlwollende Blicke zuwarfen.

In der langen Pause zwischen Hauptgang und Nachtisch lud Ismene Chantal für Dienstag mittag zur Teilnahme am Traueressen mit der Belegschaft ein.

"Geht das denn?"

"Du bist mein persönlicher Gast. Du hast dich um Hansa Marine verdient gemacht."

"Mark ist doch schon dein persönlicher Gast."

"Ich muß arbeiten," widersprach ich. "Ich muß in meiner Firma präsent sein. Ich kann meinen Job nicht noch weiter vernachlässigen. Die anderthalb Wochen Singapur waren schon extrem. Ich bin ja erst dreieinhalb Monate dort."

"Das sehe ich ein. Ich komme wahnsinnig gerne." Chantal nahm ihre Handtasche hoch und konsultierte ihren Taschenkalender. "Es geht gut. Wann und wo?"

Zum Nachtisch wurde uns Mousse au chaucolat vorgeschlagen. Aber Chantal fand, daß Käse besser zum trocknen Weißwein paßte.

"Aus meiner Erfahrung," wandte sie sich an Ismene, "sehe ich für dich folgende Möglichkeit. Du kannst natürlich nicht aus dem Stand heraus Geschäftsführerin werden, auch wenn dir das Gesellschaftsrecht die Möglichkeit gibt. Was du probieren kannst, ist nominell Sprecherin des Vorstands zu werden, ohne die jetzigen Bereichsleiter in ihrer Verantwortung zu beschneiden."

"So weit kann ich gar nicht denken."

"Behalte das im Hinterkopf. Was noch wichtig wäre: Wenn du den Sprung schaffst, mußt du dich auf Stabsebene mit jungen Mitarbeiterinnen deines Alters umgeben, die dich bei allem unterstützen, was du machst.

"Wo finde ich die?"

"Besprich das mit der Personalabteilung, mach Interviews mit allen, die überdurchschnittlich gut sind. Aber jetzt rede ich schon wie ein Betriebspsychologe. Ich möchte Markus nicht ins Handwerk pfuschen."

"Von dir kann ich eine Menge lernen," warf ich ein.

"Gibt es in deiner Firma keine Führungsprobleme?"

"Ich bin noch nicht lang genug da, um alles zu durchschauen."

"Das kommt noch."

Zum Abschluß bestellten wir wieder die großen Cognac-Schwenker, die am Tisch angewärmt werden.

Ismene und ich wollten Chantal zum Taxi bringen, aber der Portier kam uns zuvor, dirigierte einen Wagen herbei und öffnete Chantal beflissen den Schlag. Chantal winkte uns noch durch die Türscheibe zu. Wir machten, daß wir aus der Kälte schnell wieder in die Wärme der Hotelhalle kamen.

"Chantal ist schwer in Ordnung. Ich wünsche mir, ich könnte sie zur Freundin haben."

"Geh nur heim, sagte der Butt, du hast sie schon."

"Meinst du wirklich?" Es war ihr wichtig.

Ich brachte sie in die Suite zurück.

Sie wollte nicht, daß ich zum Schlafen ins Einhorn ging, sondern bei ihr blieb. Ich hatte keine Angst davor. Nicht vor mir, und nicht vor ihr.

 In dieser Nacht hatte sie wieder ihren Alptraum. Gut, daß ich geblieben war. Ich erwachte von ihren Schreien:

"Komm zurück, Cis, mach das nicht, komm zurück, nein, Cis, nein, wir brauchen dich noch."

Ich mußte sie eine ganze Weile schütteln, bis sie wach wurde. "Es war schrecklich," murmelte sie.

"Es ist immer noch schrecklich."

Ich mixte uns einen Schlaftrunk aus Wasser und dem blauen Martell, den ich ihr am Nachmittag weggenommen hatte. Sie weinte noch eine Weile bei vollem Bewußtsein, bis ihre Schluchzer in Schnarcher übergingen.

 

20. KAPITEL

Am Samstag vormittag fuhr Ismene nach Hause, um warme Wäsche für die Kirche zu holen. Ich ging in mein Büro, um nachzusehen, wie mein Schreibtisch aussah. Sie hatten mir eine heikle Aufgabe hingelegt. Beurteilung eines größeren Projektentwurfes. Bevor ich mich damit näher beschäftigte, mußte ich herausfinden, was für ein Standing die Autoren im Hause hatten. Das ging am Samstag nicht.

Was ich nicht aufschieben durfte, war ein Anruf bei May. Mein Herz klopfte unregelmäßig als ich ihre Nummer wählte.

"Hier ist Mark. Es ist meine Schuld. Die Sache ist nicht gut gelaufen."

"Ach nein? Ich hatte dir extra die Nummer meiner Mutter aufgeschrieben."

"Ich dachte, es ist nicht gut für euch beide, wenn du in Gegenwart deiner Mutter erfährst, daß ich mit Alkestis nach Singapur fliege."

"Hat Sie dich also rumgekriegt. Herzlichen Glückwunsch für euch beide. Wozu rufst du mich überhaupt an?"

"Liest du keine Zeitung?"

"Die 'andere zeitung'. Warum?"

"Keine Hamburger Tageszeitung?"

"Nicht regelmäßig."

"Dann hast du nichts mitbekommen?"

"Nein. Wovon?"

"Alkestis ist tot."

"Wie ist denn das passiert?"

"Ein Badeunfall beim Schwimmen im Meer."

"Wie entsetzlich. Warum fliegt ihr auch dahin?"

"Es war geschäftlich. Ihre Schwester war mit dabei. Wir suchten einen neuen Geschäftsführer für ihre Firma, und wir haben ein elektronisches Produkt getestet, daß Hansa Marine in den europäischen Vertrieb aufnehmen will."

"Ich muß das alles erst verdauen, bevor ich etwas dazu sage. Erinnerst du dich an unsere Gespräche über Liebe und Eifersucht?"

"Sehr gut."

"Dann weißt du, wie mir zumute ist. Ich melde mich, wenn ich wieder zurechnungsfähig bin."

Ich war bestürzt und erleichtert zugleich. Was ich wirklich wollte, ob ich unsere Beziehung weiterführen oder die Situation zu einem klaren Bruch benutzen wollte, darüber war ich mir nicht im Klaren. Falls die Entscheidung überhaupt noch bei mir lag.

In einem Stapel auf meinem Regal lagen die Zeitungen der letzten Woche. Ich schnitt alle Meldungen über Alkestis aus und klebte sie auf Din A 4 Bögen, um sie Ismene zu zeigen.

Sie war früher in den Kaiserhof zurückgekehrt als ich, obwohl sie den weiteren Weg hatte. Ich mußte mich mit den Zeitungsausschnitten wohl eine ganze Weile aufgehalten haben, das Auge immer wieder von Erinnerungsschüben getrübt.

Mit ihrem Großvater, erzählte Ismene, hatte es nur ein einziges Gesprächsthema gegeben: Das Trauer-Bankett. Er las ihr die Speisefolge zweimal vor und wollte zu jedem Punkt ihre Zustimmung hören. Daß es ursprünglich ihre Idee gewesen war, schien ihm völlig entfallen zu sein.

 

21. KAPITEL

Vor dem Portal des Doms standen Hansen und Ismene in schwarzen Mänteln und reichten jedem, der hineinwollte, die Hand und wechselte ein paar Worte mit ihm. Ich rieb kurz Ismenes kalte Hand.

"Opa ist schon seit zehn Uhr morgens da," flüsterte sie.

Der Alte nickte bloß. Als ich ins bunte Dämmerlicht der Kirche hineintrat, fühlte ich mich wie ein Wurm. Der ganze Mittelgang war angefüllt mit Kränzen, die weiße und gelbe Schleifen oder Binden trugen, auf denen alles, was in Hamburg Geld und Namen hatte, kondolierte. Von Hapag-Lloyd und der Hamburger Hafenverwaltung bis zu Beiersdorf und Gruner und Jahr. Der Sarg, der weiter vorne erhöht stand, war vollkommen mit Blumen bedeckt. Ich hatte nichts in der Hand, hatte das total vergessen.

Ich ging außen an den Bänken entlang und merkte schnell, daß es eine ungeschriebene Sitzordnung gab. Die Prominenz saß in den vorderen Reihen und nahm sofort Abwehrhaltung ein, wenn sich ein Fremder näherte. Ich sah keine Chance, neben dem Sarg zu sitzen. Aber das hätte mich vielleicht auch zu sehr aufgeregt. Als ich in Richtung Ausgang zurückging, begegnete mir Susanne, die mir sofort Leon vorstellte.

Sie gab mir einen Kuß auf die Wange und begründete es ihrem Sohn gegenüber so:

"Das ist Mark Hellmann. Er arbeitet für uns. Er war mit in Singapur dabei und hat sogar die Tote identifiziert, als sie aus dem Wasser gezogen wurde."

"Das muß schauerlich gewesen sein," meinte Leon.

"Es war eine Riesenenttäuschung, daß aus diesem mir vertrauten Körper die Seele entschwunden war."

"Woher war dir ihr Körper vertraut?" fragte das Püppchen.

"Wir waren zusammen schwimmen."

"Es gibt also eine Seele," folgerte Leon.

"Natürlich gibt es eine Seele. Das merkst du in so einem Augenblick ganz genau. Ich fürchte nur, die Seele ist sterblich. Sie ist wie eine Kerze, die wunderschön leuchtet, aber wenn sie ausgebrannt ist, bleibt nichts von ihr zurück, nur die Erinnerung an das Leuchten."

"Wir müssen uns setzen," drängte Susanne, "es geht jetzt los."

Wir zwängten uns in eine Bank hinein. Erst ich, dann Leon und zuletzt Susanne. Es wurde ein echt lutherischer Gottesdienst mit Chorälen, Gebeten und einer salbungsvollen Predigt des Domprobstes. Je länger ich zuhörte, desto besser verstand ich Nietzsches Wut auf die von ihm angeprangerte Mentalität des Christentums. Ich war froh, keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören, die sich auf solchen Widersinn einließ.

 Zum Glück war alles nach gut einer Stunde vorbei. Als wir uns steif erhoben, fragte Leon:

"Wie fandest du die Predigt?"

"Beschissen."

"Das habe ich dir angesehen."

Wir blieben unter einem Kirchenfenster stehen.

"Mach mir den Jungen nicht konfus," bat Susanne. "Er hat sowieso seine Glaubenszweifel. Ich finde, daß es für die Angehörigen sehr trostreich ist, daß hier so viele Menschen zusammen kommen, um mit ihnen gemeinsam zu trauern. Das empfinde ich als positiv."

"Das ist richtig."

"Ich muß mal sehen, ob Ismene meine Hilfe braucht. Wartest du hier mit Leon?"

Sie entfernte sich mit schnellen Schritten.

"Was hat dich an der Predigt so aufgeregt?" fragte Leon.

"Das will ich dir gerne erklären. Erinnerst du dich noch, Leon, was unser Prediger gesagt hat? Er sprach von Gottes unergründlichem Ratschluß. Hast du das Wort Ratschluß schon einmal gehört?"

"Nein."

"Das ist eine Verballhornung aus den Worten Ratschlag und Beschluß. Es besagt, daß Gott nach gründlicher Beratung den Beschluß gefaßt hat, daß Alkstis sterben muß."

"Aber wie kann er das? Sie war doch so jung und so schön."

"Ich weigere mich jedenfalls, die Autorität eines solchen Gottes anzuerkennen. Ich zweifle sogar daran, daß es ihn überhaupt gibt."

"Das habe ich auch schon mal gedacht."

"Jetzt weißt du, was mich an der Predigt geärgert hat."

In diesem Augenblick raunte hinter mir eine Stimme:

"Markus, bist du das?" Ich drehte mich um. Es war Martina.

"Und wer ist das?" fragte sie. "Diese Ähnlichkeit, das ist unglaublich."

"Das ist Leon Hallstein. Seine Mutter ist eine Spitzenkraft von Hansa Marine."

"Freut mich. Ich bin die beste Freundin von Alkestis. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Als sie zwölf, dreizehn war, sah sie genauso aus, wie du heute, Leon."

"Du mußt dich irren. Alkestis ist eine unglaublich schöne Frau."

"Ich kann nur sagen, als ich dich sah, war mir direkt unheimlich. Hier stand sie als junges Mädchen noch einmal vor mir, und dort liegt sie in diesem scheußlichen Holzkasten."

"In diesem trüben Licht hier sieht man leicht Gespenster," erklärte ich.

"Ja natürlich. Entschuldige Leon."

Susanne kam zurück. "Ich kann hier nichts tun."

"Mamma!" drängte sich Leon vor, "das ist Martina, die beste Freundin von Alkestis. Sie sagt..."

Ich winkte den Dreien zu und ging schnell weg. Obwohl ich von allen Anwesenden den stärksten Grund zur Trauer hatte, fühlte ich mich hier fehl am Platz.

Draußen war es kalt und trübe. Ich traute mich nicht in den Kaiserhof. Ismene könnte Besuch mitbringen, der mich nicht sehen mußte. Ich hatte ja noch mein Zimmer im Einhorn. Der Wirt war erfreut mich wiederzusehen.

"Wo steckten Sie bloß solange? Sie haben eine Menge Chancen verpaßt. Silvester zum Beispiel."

"Ich habe auch eine Menge erlebt. Mehr als mir lieb war."

"Man hat so manches gehört."

"Kann ich Ihnen einen Scheck für die Miete geben, oder soll ich Ihnen morgen Bargeld bringen?"

"Ein Scheck ist mir recht."

Ich ging auf mein Zimmer. Als ich die Tür öffnete, nahm mir die Erinnerung an Alkestis den Atem. Hier war sie viel mehr präsent als im Dom. Auf diesem Stuhl hatte sie gesessen und mich ihre Schuhe bewundern lassen. Auf diesem Bett hatte ich den Aufnäher "Hansa Marine" entdeckt. Der ganze Raum war angefüllt mit lebendiger Erinnerung. Ich ließ mich auf den Besucherstuhl sinken. Jeden Augenblick könnte sie wieder in ihrem roten Ledermantel an die Tür klopfen. Das war wahrscheinlicher als alles andere. Sie durfte nicht tot sein. Wir hatten noch so viel vor uns.

Erst nach sehr langer Zeit knipste ich das elektrische Licht an. In seiner Helle zerrannen die trügerischen Erwartungen. Ich fülle einen Scheck aus und brachte ihn nach vorne.

"Ein Bierchen?" fragte der Wirt.

"Lassen Sie mich erst mal telefonieren, damit ich nichts versäume."

Ich wollte hören, ob Ismene inzwischen zurück war und rief den Kaiserhof vom altmodischen Wandtelefon des Wirtes aus an.

"Warum bist du nicht hier?" fragte sie.

"Ich mußte meine Miete bezahlen."

"Das ist ja ein Katzensprung. Ich muß dir was erzählen."

An der Wohnzimmertür begrüßte sie mich im Bademantel.

"Ich laß gerade Wasser in die Wanne. Sie ist groß genug für uns beide, wenn du dich benimmst. Ich bin völlig durchfroren. "

Sie zog sich aus, ohne sich an meiner Gegenwart zu stören. zog sie sich aus. Ich war Ersatz-Familie. Nicht Mann. Kein Wunder, daß Graf Kolmar schüchtern geblieben war. Ismene war gerade dabei sich auszuziehen. Ich wunderte mich immer wieder darüber, wieviel zierlicher Ismenes Körper war als der ihrer jüngeren Schwester. Normalerweise ist es umgekehrt. Der oder die Erstgeborene hat die stattlichere Statur.

Ich stieg hinter ihr in die Wanne, so daß sie auf meinem Schoß liegen konnte, mit dem Rücken auf meiner Brust. Obwohl das heiße Wasser unsere Körper wunderbar erwärmte, bekam ich keine unpassenden Gefühle. Dabei planschten wir mit engem Hautkontakt.

"Glaubst du, daß es pränatale Erinnerungen gibt?" fragte sie.

"Mit Hilfe eines guten Hypnotiseurs, der das Gehirn in einen ganzen bestimmten Schwingungszustand versetzt, sogenannte Alphawellen. Aber das ist gefährlich, weil du dabei den Entbindungsschock nacherleben kannst, die schlimmste Erfahrung unseres ganzen Lebens."

"Ich brauche keine Alphawellen, ich gerate schon in einen pränatalen Erinnerungsrausch, wenn du so mit mir planschst. Ich bin überzeugt, nein ich weiß genau, daß ich viele Wochen im Mutterleib mit solchen Spielchen verbracht habe."

"Wir sind zu zweit in der Wanne."

"Das waren wir auch, Friedemann und ich."

"Wer ist Friedemann?"

"Mein Zwillingsbruder."

"Wo ist er jetzt?"

"Er ist bei der Geburt gestorben. Da war etwas mit der Nabelschnur."

"Das muß für dich eine Katastrophe gewesen sein."

"Vater hat mir in Singapur erzählt, ich hätte mich die ersten Wochen in meinem Baby-Bettchen hin und her gedreht und mit meinen Händen nach ihm gesucht, anstatt am Daumen zu nuckeln, wie andere Säuglinge."

"Das kann ich mir vorstellen. Laß noch etwas heißes Wasser durch den Schlauch in die Wanne. Weißt du, was ich glaube? Du hast nicht nur in deinen ersten Lebenswochen nach ihm gesucht. Du hast die Suche nach ihm nie aufgegeben. Wenn du einem Mann begegnest, möchtest du ihn gern als Bruder gewinnen, nicht als Lover."

"Ich habe Viktor geliebt."

"Aber nicht so, wie Alkestis auf Männer zugeht. Warum hast du dich ihm nie richtig hingegeben? Weil du das im Mutterleib nicht mit deinem Bruder erlebt hast."

"Meinst du, ich bin als Frau nicht normal?"

"Du bist völlig normal. Zwillinge sind oft sehr intensiv auf einander fixiert. Da ist klar, daß du das, was du im Augenblick der Geburt verloren hast, zurückhaben willst. Aber genau das, und nichts anderes. Nicht einmal deinen Vater, der doch die stärkste Ähnlichkeit mit Friedemann haben muß, hast du ganz akzeptiert. Aber du suchst den Friedemann aus dem Mutterschoß. Du weißt gar nicht was für ein Mensch er heute wäre. Vielleicht hätte er sich ähnlich entwickelt wie dein Vater."

"Ich glaube, du machst einen gedanklichen Fehler. Es geht mir gar nicht um die Person. Es geht mir um den Zustand."

"Im Grunde hat es etwas Gutes für deinen Beruf, daß du so zurückhaltend bist. Weil du von Männern nichts erwartest, wird es auch dem größten Charmeur nicht gelingen, dich um den Finger zu wickeln und für seine Zwecke einzuspannen. Das erhöht deine Führungsqualität."

"Der größte Charmeur, das bist du."

"Wie lange willst du noch in dieser Suite bleiben?" fragte ich.

"Solange du mitspielst. Bis ich herausfinde, wo ich hingehöre. Ich bin doch jetzt ein Waisenkind." Das war kokett gemeint, aber mitten im Satz schlug ihre Stimme um. Ich schaufelte mit den Händen ganz viel Wasser über sie, und sie seufzte vor Behagen. In diesem Augenblick wurde mir klar, daß unsere Verbundenheit nichts mit der gemeinsamen Trauer um Alkestis zu tun hatte. Sie vertraute sich mir an, als gewönne sie in mir ihren verlorenen Bruder zurück.

 

22. KAPITEL

Als ich am Montag ins Büro ging, fuhr Ismene ins Werk. Sie hatte sich vorgenommen, mit ganz vielen Mitarbeitern persönlich zu sprechen, unter dem Vorwand sie an das Essen zu erinnern. Manche lesen ja gar nicht, was am schwarzen Brett steht.

Um zehn kam Lörke in mein Büro. Ihre Stimmung war undurchschaubar. Sie legte mir die aufgeschlagene Bildzeitung auf den Schreibtisch.

"Sieh dir diese Anzeige an." Eine fast halbseitige Danksagung an die Trauergäste im Dom. Mehr sagte sie nicht. Ich nutzte die Gelegenheit, sie nach den Urhebern des Projektentwurfs zu fragen, den ich beurteilen sollte. Sie erwiderte kurz angebunden, daß ich das Vorhaben absegnen, nicht beurteilen sollte. Das gefiel mir überhaupt nicht. Die Sache würde ein Flop werden, und ich sollte das befürworten. Ohne mich. Ich war bereit, mir Feinde zu machen, aber nicht, meinen Namen für so etwas herzugeben.

Bevor ich mich in meine Aufgabe vertiefte, bekam ich einen Anruf von Susanne.

"Hast du die Bildzeitung gesehen?"

"Sie liegt vor mir."

"Hast du das Bild auf der Titelseite gesehen?"

"Nein, wieso?" Ich schlug die Zeitung um. Oben rechts war das Photo eines sehr sympathischen Knut mit der Unterschrift: Zweiter Unglücksfall in der Hansen-Familie. Lesen Sie Seite 4."

"Woher kommt das? Hast du das veranlaßt?" fragte ich.

"Nie im Leben. Ich hatte dich im Verdacht."

"Eiskalt. Knut scheint in Hamburg nicht vergessen zu sein. Wirst du das Bild deinem Sohn zeigen?"

"Meinst du?"

"Hast du ihm die Wahrheit gesagt?"

"Ja, gestern abend. Das mußte sein, nach dem Auftritt mit diesem Mädchen."

"Wie hat er es aufgenommen?"

"Sehr tapfer. Er hat nur gesagt, warum hast du mir das nicht früher erzählt, als Alkestis noch lebte. Dann haben wir beide geweint. Aber jetzt ist es gut."

"Was ich dir sagen muß. Ismene hat noch keine Ahnung, daß sie mit Leon verwandt ist. Alkestis hat ihr nichts verraten."

"Dann ist es gut, daß er noch nicht von sich aus darauf gekommen ist."

Als ich vom Mittagessen zurückkam, meldete sich Ismene.

"Wie läuft es?" fragte ich sie.

"Sehr gut. Die meisten Kollegen sind unglaublich nett zu mir."

"Wirst du heute abend mit jemand ausgehen?"

"Nein, das wird mir zu viel. Wir essen in aller Ruhe im Kaiserhof. Ich bin ja den ganzen Tag auf den Beinen. Kannst du mir die Telefonnummer von Chantal geben. Ich will sie um einen Rat fragen."

"Kann ich dir nicht helfen?"

"Davon verstehst du nichts. Es ist ein typisches Frauen-Thema."

Ich sagte ihr die Nummer durch. An die Geschichte mit dem Rat glaubte ich nicht so recht. Ich nahm eher an, daß Ismene einen Vorwand suchte, den Kontakt mit Chantal aufrecht zu halten.

Darin sollte ich mich aber getäuscht haben. Beim Abendessen erzählte mir Ismene, daß die beiden lange darüber gesprochen hatten, was Ismene zum Traueressen anziehen sollte. Schließlich waren sie darauf gekommen, daß Ismene zum Zeichen ihrer Autorität eine Art Kapitänsuniform tragen sollte, in dunkelblau, mit Goldknöpfen, das hatte sie zum Glück von der Kieler Woche, dazu ein schwarzes Seidentuch um den Hals als Symbol der Trauer.

"Wie ist es mit Opa gelaufen?"

"Er hat etwas gegrummelt, daß die Bildzeitung den Bericht über Pappa gebracht hat, aber aus der Belegschaft haben mich viele darauf angesprochen, vor allem die älteren, die ihn noch persönlich kannten."

"Das finde ich ganz wichtig. Denn damit erkennen sie, daß du die dritte Generation Hansen bist, nach Pappa, und nicht direkt auf Opa folgst."

"Wenn er mich je folgen läßt."

"Irgendwann schon."

In dieser Nacht hatte Ismene wieder ihren Albtraum. "Laß uns nicht im Stich, Cis! Wir brauchen dich noch. Ich schaffe das nicht ohne dich!" Ihr Körper war ganz steif. Ich rieb ihre Arme und ihren Rücken, bis sie langsam vollständig erwachte.

"Bruderherz," hauchte sie, "was mache ich nur ohne dich."

"Weißt du überhaupt," fragte ich unbesonnen, "daß du noch einen richtigen Bruder hast?"

"Nein. Das müßte ich wissen."

"Ich habe dir sein Bild gezeigt, an dem Abend am Singapur River. Du hast ihn nicht erkannt."

"Ich habe die Ähnlichkeit schon gesehen, nicht nur Cis. Aber Pappa hat uns ja alles erklärt."

"So gut er es wußte. Was er nicht wußte war, daß der Arzt, sein Segelfreund, ihn beschummelt hat und Susannes Embryo am Leben ließ."

"Woher willst du das wissen?"

"Cis hat noch am gleichen Abend in Singapur alles aus Susanne herausgequetscht."

"Warum hat sie mir nichts gesagt?"

"Susanne hat sie gebeten, nichts zu verraten."

"Glaubst du diese Geschichte?"

"Absolut."

"Dann wäre Susanne ja meine Halb-Stiefmutter. Dabei ist sie nicht wesentlich älter als ich. Eigentlich habe ich sie furchtbar gern. Immer schon. Und jetzt stellt sich heraus, daß sie zur Familie gehört. Wie finde ich das?"

"Du kannst sie zu deiner engsten Mitarbeiterin machen. Sie ist sehr gut."

"Wie willst du das beurteilen?"

"Du hast sie doch zu mir geschickt mit deiner Telefonnummer."

"Da hast du ihre Qualitäten gleich erkannt?"

"Es macht Spaß, sich mit ihr zu unterhalten. Sie ist hochintelligent."

"Ich freue mich, daß du das so siehst. Wo bleibt der Whisky?"

Ich mixte uns zwei Longdrinks zum Wiedereinschlafen.

Als sie den Kopf aufs Kissen legte, sagte sie:

"Gestern war ich noch ein armes Waisenkind, und heute habe ich schon eine Freundin und eine Halbmutter, oder wie auch immer..."

Sie sprach den Satz nicht zu Ende aus, weil ihr der Schlaf die letzten Worte aus dem Mund nahm.

 

23. KAPITEL

Am Dienstag formulierte ich sachliche Argumente gegen das Projekt, das ich beurteilen sollte und sortierte die Punkte, ohne mich entscheiden zu können.

Ein Anruf von Auswärts erlöste mich.

"Ist es wahr, daß du nicht zum Essen kommst?" fragte Susanne.

"Ich trau mich nicht. Ich habe den Tod von Alkestis nicht verhindern können. Das läßt mich schlecht aussehen. Außerdem möchte ich nicht, daß du oder Ismene durch mich ins Gerede kommen. Der Betriebsklatsch starrt mit tausend Augenpaaren auf jede Geste unvermuteter Vertrautheit. Du hast selber gesagt, erinnerst du dich noch: Firmenklatsch ist die schönste Beschäftigung der Welt."

"Da könnte was dran sein. Trotzdem schade."

"Du kannst mich ja anrufen, wenn sich beim Bankett irgend etwas Ungewöhnliches ergibt."

"Ja, das tu ich."

Von May hörte ich nichts. Das war mir ganz recht, weil in meinem Inneren, was Beziehungen anging, noch das Chaos vor dem ersten Schöpfungstag herrschte.

Dafür meldete sich unverhofft Chantal.

"Mark, ich muß ganz viel mit dir besprechen. Wie du weißt, gehe ich heute mittag zu Hansa Marine und nach Feierabend habe ich wieder meinen Dienstagabend-Termin, du weißt schon wo. Können wir uns im Anschluß daran treffen? Zwischen sechs und halb sieben."

"Ja, dann erfahre ich auch aus erster Hand, was es alles Köstliches zu essen gab."

"Nur kein Neid. Es war deine freie Entscheidung, nicht hinzugehen. Du kannst dich immer noch umentscheiden."

"Ich setze mich lieber unter vier Augen mit dir zusammen."

"D'accord, wie man in meiner alten Heimat sagt."

Die Küche in unserer Betriebskantine ist nicht schlecht, aber heute bekam ich kaum einen Bissen über die Zunge. Mit der einen Gehirnhälfte zählte ich die Gänge eines Kapitäns-Dinners, mit der anderen horchte ich auf die Trauerreden, die jetzt wohl gehalten wurden. Am liebsten hätte ich mich in meiner Pension eine Stunde schlafen gelegt. Aber es war gut, daß ich mich nicht gehen ließ. Dadurch erreichte mich das Püppchen direkt.

"Halt dich fest, Hellmann, du ahnst nicht, was passiert ist. Der Alte hat soeben angekündigt, daß er  die Geschäftsführung niederlegt und an Ismene überträgt. Wie findest du das?"

"Hoffentlich ist Ismene dieser Aufgabe gewachsen. Sie braucht jede nur denkbare Hilfe." Ich sagte das, um Susanne zu motivieren.

"An mir soll es nicht fehlen. Bis später."

Der Nachmittag verging, aber mein Telefon läutete nicht mehr. Erst kurz vor sechs rief Ismene durch.

"Du, es kann spät werden. Warte nicht mit dem Essen auf mich. Aber warte auf mich."

Chantal saß wieder bei einem Chantree im Einhorn. Das war ein schlechtes Zeichen. Am Freitag abend hatte sie an der Bar des Kaiserhofs nur ein Wasser getrunken. Als wir über den Korridor gingen, fragte sie: "Hast du noch von dem guten Whisky? Ich fürchte, ich bin schizophren. Auf der einen Seite habe ich so kultivierte Freunde wie Ismene und dich. Auf der anderen Seite laufe ich in den Dienstag nachmittag, wie in den Weltuntergang."

Sie wollte, daß ich das Wasser für den Whisky ganz lange aus der Leitung laufen ließ und kühlte sich mit dem Glas die Lippen.

"Verrat mir, was läuft zwischen Ismene und dir? Seid ihr ein Paar?"

"Nein. Ihre Schwester war meine Freundin. Ich habe Ismene und ihre Probleme sozusagen von ihr geerbt."

"Alle haben so begeistert von Alkestis geredet. Das tut mir wahnsinnig leid für dich."

"Sie war ein außerordentlicher Mensch. Was Ismene und mich verbindet, ist daß wir zusammen erlebt haben, wie Alkestis in ihren Tod schwamm. Seitdem steht Ismene unter einem schweren Schock. Fast jede Nacht hat sie Panikanfälle."

"Also schläfst du doch mit ihr."

"Neben ihr. Nicht mit ihr. Das kann aber nicht ewig so weitergehen. Ich suche dringend nach einer Lösung für ihre Nächte."

"Schade, daß du beim Essen nicht dabei warst. Der Alte hat extra nach dir gefragt. Er wollte dir etwas erzählen."

"Wie ist es denn gelaufen?"

"Das Essen war traumhaft. Aus der Belegschaft wurden Trauer- oder Gedenkreden gehalten. Sehr eindrucksvoll. Nach dem Hauptgang hielt der Alte eine Ansprache. Er sagte, alle Mitarbeiter dürften oder müßten mit 65 in den Ruhestand, und er sähe nicht ein, warum er sich noch länger abplagen sollte, wo er jetzt doch eine Enkelin hätte, die besser rechnen könnte als er. Dann sprach Ismene. Hat sie das mit dir eingeübt?"

"Kein Wort."

"Dann ist sie ein Naturtalent. Sie trug vor, sie hätte kurz hintereinander ihren Vater und ihre Schwester verloren. Und damit sie sich nicht als armes Waisenkind vorkäme, müsse sie die ganze Belegschaft als ihre neue Großfamilie in Anspruch nehmen, wenn die damit einverstanden wäre. Du kannst dir denken, daß es großen Beifall gab."

"Das freut mich. Da hat sie eine Ablenkung, die ihr Trauma in den Hintergrund drückt. Ich hoffe, das hilft."

"Eine Ablenkung, nennst du das. Einer der schwierigsten Jobs, die es gibt."

"Management heißt koordinieren und delegieren. Das wird sie lernen, wenn sie es nicht schon im Blut hat. Aber du bist immer noch hin und her gerissen."

"Weil ich es einfach nicht nötig habe. Aber ich weiß nicht, wie ich da rauskomme, gerade jetzt wo er sich so freut."

"Wieso? Du sagst einfach, du hast einen jungen Mann kennengelernt, von dem du völlig hin bist. Er hat ernste Absichten, und du kannst es nicht mit dem Gewissen und dem Herzen vereinbaren, zwei Beziehungen gleichzeitig einzugehen. So könnt ihr halbwegs in Frieden auseinander gehen."

"Das klingt so einfach. Ich kriege dann nur noch die unangenehmen Aufgaben hingeworfen."

"Am Arbeitsplatz hast du ein ständiges Auf und Ab. Ich soll ein Projekt befürworten, an dem irgend jemand in der Hierarchie einen Narren gefressen hat. Wenn ich nein sage, mache ich mir Feinde. Wenn ich ja sage, kommen rote Zahlen. Dann wird gefragt, welcher Idiot hat das beschlossen, und ich bin von jeder Beförderung ausgenommen."

"Das ist im Prinzip das gleiche Dilemma wie bei mir. Aber sag bitte Ismene nichts von meinen Problemen. Ich möchte nicht, daß sie schlecht von mir denkt."

"Das wird sie nie. Sie schätzt dich."

Ich hatte noch Stollen im Nachttisch, der sich gut gehalten hatte. Chantal wollte lieber einen kleinen Whisky. Ich packte den Stollen ein, um ihn im Kaiserhof zu essen, und brachte sie zum Taxi.

Ismene kam spät und war mehr als beschwipst. "Ich mußte mit so vielen Leuten anstoßen."

"Ich weiß schon alles," kam ich ihrer Erzählung zuvor. "Wann ist es denn so weit?"

"Nächsten Ersten. Ist das nicht wahnsinnig? Wir machen es genau so, wie Chantal vorgeschlagen hat. Wie gut, daß du mit ihr befreundet bist."

Sie fantasierte den ganzen Abend, was sie alles tun würde. Viele ihrer Vorstellungen waren mir bereits aus der Nacht mit der karibischen Rum-Flasche bekannt. Mir war beklommen zumute. Ich konnte ihr in die Höhenluft ihrer neuen Position nicht folgen. Weder kaufmännisch, noch sozial. Sie brauchte mich nicht mehr. Sie schwamm sich frei. Die Brandung des Geschäftslebens würde sie höher und höher tragen. Ich blieb am Ufer zurück.  

In dieser Nacht hatte Ismene keinen Alptraum. Ich konnte mich hinter die Ritze in das zweite Bett zurückziehen, das ich ganz für mich allein hatte. Bald würde ich meine Nächte wieder mit der breiten Liege im Einhorn teilen.

 

24. KAPITEL

Am Mittwoch sammelte ich alle Sottisen ein, die ich auf dem Computer niedergelegt hatte, und fügte sie zu einem abgerundeten Verriß des Projekts zusammen. Mein Urteil steckte ich zusammen mit dem Material in einen Hauspostumschlag, den ich an Lörke adressierte. Auf einen kleinen Zettel, den ich meinem Text mit einer Büroklammer anhängte, hatte ich per Hand geschrieben: "Hier(für) stehe ich (ein). Ich kann nicht anders."

Ismene rief an um mir zu erzählen, daß sie in der Firma war und ihren Großvater dazu überredet hatte, ein Rundschreiben an alle seine Geschäftsfreunde zu verfassen, in der er den Übergang der Geschäftsleitung auf Ismene ankündigte und um gute Zusammenarbeit bat. Inzwischen hätte sie sich bei Susanne niedergelassen, mit der sie gerade in einer Art von Computerspiel ein Organogramm erstellte.

"Das ist ein Organisationsschema unserer Firma mit allen Bereichen und Abteilungen. Dazu die Namen und Telefonnummern der Abteilungsleiter, ihrer Stellvertreter und ihrer Sekretärinnen. Das wird ein ziemlich großes Papier, das unter die Glasplatte des Schreibtischs kommt."

"Die Sekretärin deines Großvaters hat auf ihrem Schreibtisch sicher auch eine Liste aller Telefonnummern für ausgehende Gespräche. Laß sie dir von ihr noch mal ins Reine schreiben, bevor sie sie aus Enttäuschung in den Papierkorb wirft."

"Wieso? Ich übernehme sie doch, wenn ich anfange. Opa zieht sich in die Villa zurück. Die hat er jetzt ganz für sich."

"Ich weiß nicht, ob es klug ist, daß du seine Sekretärinnen übernimmst."

"Ihre Erfahrungen und Kontakte werden für mich von großem Nutzen sein."

"Das glaube ich nicht. Sie verehren deinen Großvater, und sie werden alles, was du machst, katastrophal finden und das im ganzen Haus herumtratschen. Das darf auf keinen Fall passieren. Besser, du versetzt sie ins Archiv oder in den Ruhestand."

"Du erfindest Probleme. die keine sind. Gut, ich werde Chantal fragen. Ich gehe nachher mit ihr ein Kostüm kaufen. Ich muß dir aber sagen, ich empfange hier im Betrieb viele wohlwollende Gefühle. Das kann ich so offen aussprechen, weil Susanne gerade rausgegangen ist."

Die persönliche Chemie zwischen den Frauen schien also zu stimmen. Das war ermutigend. Aber wieso ging mir das nahe? Was für einen Grund hatte ich, Ismene Erfolg zu wünschen? Alkestis war mein Dreh- und Angelpunkt gewesen. Möglich daß ich an Ismene wieder gut machen wollte, was ich für mein Versagen Cis gegenüber hielt. Also tat ich es nicht für sie, sondern für mich.

Kurz vor Dienstschluß rief mich Lörke an:

"Ich glaube wir haben uns mißverstanden. Sie sollten das Projekt nicht zerreißen, sondern begutachten."

"Stecken Sie mal die Nase rein, dann sehen Sie, was ich sehe."

"Sie verstehen die Zusammenhänge nicht."

"Was für Zusammenhänge? Steckt etwa ein Teeny-Weeny Betthupferl des Chefs dahinter?"

Sie legte auf, ohne vorher auszuatmen. Frauen sind unberechenbar.

Wenn Lörke nachtragend war, würde ich keine Opernkarten mehr sehen. Aber die Hansens hatten auch ihr Abonnement. Ich konnte mich also gar nicht verschlechtern. Außerdem, so nahm ich an, würde sich der Sturm in Lörkes Wasserglas mit ziemlicher Sicherheit bald gelegt haben.

Im Kaiserhof waren die Frauen schon vom Stadtbummel zurück und hatten beim Roomservice eine Flasche Sekt bestellt.

"Wo bleibt denn die Modenschau?" fragte ich.

Das einzige, was sie sich gekauft hatten, waren zwei dicke flauschige Pullover, die sie schon angezogen hatten. Sie reichten ihnen bis zur Mitte der Oberschenkel.

"Es war gar nicht so einfach," erzählte Ismene. "Wir haben uns überlegt, daß ich keine Busineß-Kostüme mit Rock tragen darf, weil der Anblick meiner Beine die vielen Männer bei uns verwirren könnte. Also kommen nur Hosenanzüge in Frage. Aber die müssen maßgeschneidert werden."

Chantal war eine gute Ratgeberin. Denn daß Ismene von sich aus ihre bestrumpften Beine für sexy hielt, kam mir unwahrscheinlich vor, wenn ich bedachte, wie sie gelegentlich halb nackt um mich herumtanzte. Was nur deshalb ohne Wirkung blieb, weil ihre Ähnlichkeit mit Alkestis mir vor Augen führte, was ich verloren hatte.

 

25. KAPITEL

Die nächsten Tage verliefen relativ ruhig. Ich bekam mein Gutachten kommentarlos zurückgeschickt. Es war in vier Stücke zerrissen. Offenbar war Lörkes Kultiviertheit nur ein Oberflächenlack, der leicht splitterte. Nur gut, daß ich fest angestellt war.

Ismene trat ihre Position als Firmen-Sprecherin zum Monatswechsel ohne jede Festivität an. Ismene und Susanne zogen in das Chefzimmer des Großvaters ein. Die bisherige Sekretärin Susannes, Anke, wurde Vorzimmerdame.

Ich nutzte den Samstag vormittag, um mein Büro einmal richtig aufzuräumen. Chantal und Ismene waren zu einem Bummel in der Stadt verabredet. Sie wollten auch zusammen essen. Ich sollte aber rechtzeitig zum Nachmittagskaffee im Kaiserhof sein.

Ablage zu machen, war eine Arbeit, die ich immer gerne hinausschob, weil sie mit Bewegung verbunden war. Aber heute konnte mir vor dem Essen etwas Bewegung gut tun. Ich saß zu viel. Deshalb nahm ich das Essen auch im Stehimbiß des Hauptbahnhofs ein. Ismene und Chantal aßen bestimmt etwas Feineres. Ich hatte keinen Grund auf ihre zunehmende Vertrautheit eifersüchtig zu sein. Schließlich gab es in Ismenes künftigem Leben keinen Platz für mich. Trotzdem fühlte ich mich etwas ausgeschlossen. Ich räumte mein Büro mit noch größerem Eifer auf. Alles was sich von selbst erledigt hatte, warf ich in den Papierkorb. Aber nicht in meinen eigenen, sondern in die Papiertonne am anderen Ende des Großraumbüros. Alles, was privat war, tat ich in die rechte obere Schreibtischschublade, schloß sie ab und legte den Schlüssel in den Auszug für Büroklammern.

Im Kaiserhof warteten Ismene und Chantal nicht mit Kaffee auf mich. Sie hatten beim Roomservice eine Flasche Champagner bestellt, die ich öffnen durfte.

Ich spürte sofort, daß etwas in der Luft lag.

"Was habt ihr zu feiern?" fragte ich.

"Wir haben uns noch etwas überlegt." Die beiden Freundinnen zogen mich zu sich auf die Mitte des Sofas.

"Erzähl du es ihm," sagte Ismene.

"Nein du," konterte Chantal.

"Du weißt, Mark," begann Ismene, "wie sehr ich es genieße, daß du nachts wie ein Bruder bei mir schläfst. Aber ich habe immer ein schlechtes Gewissen, weil ich weiß, daß du mehr brauchst als eine Schwester."

"Nicht nach Alkestis," warf ich ein.

"Bei mir ist das so," Chantal legte einen Hand auf meinen Arm, um meine Aufmerksam zu erregen, "ich will schon lange von Zuhause ausziehen. Mein Vater interessiert sich für nichts als Fußball und noch ein Bier. Aber nichts als das, da fällt einem auch die Decke auf den Kopf."

"Deshalb haben wir uns überlegt," Ismene legte eine Hand auf mein Knie, "Chantal und ich nehmen uns zusammen eine Wohnung. Was meinst du dazu?"

"Kennt ihr euch genug?"

"Gut genug für einen Versuch. Es ist ja nur eine Wohngemeinschaft."

"Wie habt ihr euch das praktisch gedacht?"

"Jede hat ein eigenes Schlafzimmer und ein eigenes Wohnzimmer. Küche und Bad dürfen gemeinsam sein. Man kann sich aus dem Wege gehen, und man kann zusammen hocken. Wie findest du das?"

"Ich werde ja nur pro Forma gefragt."

"Das hast du richtig erfaßt." Wie auf Verabredung küßten die Mädchen mich aufs Gesicht.

Ich fragte mich einen Augenblick, ob Chantal Ismene ausnutzte. Aber Ismene brauchte dringend einen Menschen an ihrer Seite, und Chantal hatte Ismene schon wichtige Ratschläge gegeben, von der Wahl des Rechtsanwaltes bis zum Hosenanzug. Chantal war gut für sie. Und ich gewann einen Teil meiner Freiheit wieder. Freiheit wozu?

 

26. KAPITEL

Als ich am Montag früh auf die Poststelle ging, um als erstes mein Eingangsfach zu leeren, war ein absenderloser Hauspostumschlag darunter. Ich wartete, bis ich in mein Büro kam. Er war in Computerschrift-Type gedruckt und las sich wie ein anonymer Drohbrief.

"Tut mir leid. Ich habe nichts damit zu tun. Aber ich hatte Sie gewarnt."

Der einzige, dessen Vorschläge ich nicht beachtet hatte, war Lörke gewesen. Ich fuhr in die Kantine, um zu sehen, ob ich sie am Kaffeeautomaten traf. Es war ihre Zeit, aber sie ließ sich nicht blicken. Ich trank automatisch einen Kaffee, um mich zu beruhigen, und dann noch einen. Aber er wirkte nicht beruhigend. Wollte mir die Personalabteilung eine Abmahnung aussprechen? Oder hatten sie etwa vor, mich nach Nicaragua zu versetzen, wo Außenaufnahmen geplant waren?

Wieder in meinem Zimmer, wurde ich zum Leiter der Personalabteilung gerufen. Ich erkannte an seinem selbstzufriedenen Gesichtsausdruck sofort, daß er sich daran erinnerte, mir im Dezember nur ungern eine Gehaltserhöhung zugestanden zu haben, und jetzt kam der Gegenzug.

"Herr Hellmann, ich muß Ihnen eine für Sie sehr unangenehme Nachricht mitteilen. Sie sind fristlos entlassen."

Ich beschloß, mich nicht aufzuregen.

"Das kann ich mir nicht vorstellen," sagte ich ruhig.

"Als Sie die Arbeit hier antraten, habe ich Sie darauf vereidigt, während Ihres Beschäftigungsverhältnisses keine Nebentätigkeit anzunehmen. Inzwischen arbeiten Sie für eine andere Firma mehr als für uns."

"Wer sagt das?"

"Sie selber." Er las von einem Zettel ab: "Am 7.Januar erwiderten Sie in einem Telefongespräch auf die Frage: 'Warum fliegt ihr auch dahin?' - 'Es war rein geschäftlich. Ihre Schwester war mit dabei. Wir suchten einen neuen Geschäftsführer für ihre Firma, und wir haben ein elektronisches Produkt getestet, daß Hansa Marine in den europäischen Vertrieb aufnehmen will.'"

"Ach, das haben Sie schriftlich?"

"Hier, in Ihrem Kündigungsschreiben. Es gehört Ihnen." Er überreichte es mir. Ich warf kurz einen Blick darauf, faltete es zusammen und steckte es in meine Brieftasche.

"Glauben Sie, daß es legal ist, Privatgespräche Ihrer Mitarbeiter mitzuschneiden und zu transkribieren?"

"Niemand zwingt Sie, Privatgespräche von ihrem Dienstapparat aus zu führen. Die Firma muß sich schützen."

"Wer liest alles die Transkripte?"

"Nur der Chef. Wenn ihm etwas auffällt, gibt er das Blatt an einen zuständigen Mitarbeiter weiter, in Ihrem Fall mit dem Vermerk 'Fristlos kündigen'."

"Wann haben Sie das Papier bekommen?"

"Freitag vormittag. Frau Lörke sagte, wir sollten Ihnen das Wochenende nicht verderben. Äußerst entgegenkommend."

Wenn Lejeune die Gesprächstranskripte am Donnerstag gelesen hatte, konnte ihm meine flapsige Bemerkung über seine "Teeny-Weeny Betthupferl" aufgestoßen sein. Lörke hatte nichts erwidert und sofort aufgelegt, da sie wußte, daß Telefongespräche mitgeschnitten werden. Hier lag der Grund für die Kündigung, und nicht in meinem Gespräch mit May.

"Glauben Sie wirklich, "fragte ich, "daß Ihre Handhabung des Datenschutzgeheimnisses korrekt ist? Ich werde mich genau informieren."

Der Leiter der Personalabteilung drückte auf einen Knopf. Ein Mann meines Alters kam herein.

"Herr Jungbluth wird ihnen jetzt beim Packen helfen und sie bis zum Pförtner begleiten, dem er gleich mitteilen kann, daß Sie keine Zugangsberechtigung für dieses Haus mehr besitzen."

Das traf mich mehr als alles andere. Ich konnte meine Vor- und Nachmittage doch nicht im lichtlosen Einhorn verbringen. Der Kaiserhof war ein Provisorium, das sich schnell seinem Ende näherte. Und dann?

Jungbluth nahm mich in einen Vorratsraum mit, in dem ich die Größe des Kartons für meine Privatsachen aussuchen durfte.

"Es tut mir leid für Sie," sagte er.

Wir erreichten mein Zimmer. Ich zeigte ihm die verschlossene Schublade mit meinen Sachen. Er warf nur einen flüchtigen Blick darauf und half mir alles in den Karton zu legen.

"Ist der Schrank leer?"

Nein. Da hingen ein Pullover, ein Schlips, ein Oberhemd und zwei getragene Unterhemden. Sie paßten noch in den Karton hinein.

Jungbluth bat mich um meinen Dienstausweis.

"Ein dienstbezogener Anruf steht mir noch zu," erklärte ich meinem Aufpasser. Ich wählte die Nummer von Chantal. Sie war allein.

"Stell dir vor, ich bin gerade fristlos entlassen."

"Das gibt es nicht."

"Es ist eine windige Sache. Aber ich will Ismene nicht damit belasten. Sie hat genug am Hals. Kennst du dich mit so was aus? Soll ich einen Anwalt nehmen? Du kennst die Besten."

"Als erstes gehst du aufs Arbeitsamt. Das schaffst du zeitlich noch. Heute abend im Kaiserhof schau ich mir alles an. Erzähl vorher Ismene nichts davon. Bis dann."

"Den besten Anwalt!" rief ich noch, während sie auflegte.

Als wir auf den Lift warteten, raunte Jungbluth:

"Ich sage Ihnen eins im Vertrauen. Der Chef pflegt besondere Beziehungen zu einigen Richtern vom Arbeitsgericht. Da können Sie sich Ihre Chancen ausrechnen."

"Wollen Sie mich einschüchtern?"

"Ganz im Gegenteil. Ich kläre Sie über Gefahren auf. Uns paßt das allen nicht."

Der Wirt im Einhorn machte ein verblüfftes Gesicht, als er mich mit meinem Karton ankommen sah.

"Was ist denn mit Ihnen los?"

"Ich bin gekündigt, fristlos entlassen, arbeitslos."

"Das ist hart."

"Ich marschiere direkt aufs Arbeitsamt, um Arbeitslosengeld zu beantragen. Für die Miete und Pommes mit Mayo dürfte es reichen."

"Machen Sie sich keine Sorgen."

Er erklärte mir, wie ich auf dem schnellsten Wege zum Arbeitsamt kam.

In der U-Bahn las ich noch einmal das Kündigungsschreiben. Die Entlassung traf mich wie ein Schlag in den Magen. Es war das erste Mal, daß ich der Brutalität einer fristlosen Entlassung ausgesetzt war. Ich machte mir große Sorgen. War meine Hamburger Zeit zu Ende? Würde ich jemals wieder eine Stelle finden, mit dem Zeugnis, das ich zu erwarten hatte? Ismene würde mir wahrscheinlich etwas anbieten. Aber ich wollte kein Gnadenbrot essen. Ihr ganzer Betriebszweig lag mir nicht. Logistik von Containerschiffen. Brrh.

Im Arbeitsamt sah ich viele glückliche Gesichter, wenn auch nicht bei Arbeitslosen. Der Flügel, in den ich mußte, war ein typischer Verwaltungsbau mit einem breiten Gang als Mittelachse und rechts und links Reihen von Büroräumen, in denen Arbeit vermittelt wurde. Alle Türen hatten Füllungen aus Fensterglas, durch die man in die Zimmer hineinschauen und die Beamten bei der Arbeitsbeschaffung beobachten konnte. Ich sah in einem Raum eine mollige Frau, die gerade dabei war, andächtig ihre Zimmerpflanzen zu begießen. Es waren acht oder zehn Stück, und sie gediehen prächtig. Jede war schon über einen Meter hoch. Hinter einer anderen Tür tranken zwei Sachbearbeiterinnen Kaffee aus Krugtassen und unterhielten sich über das letzte Wochenende. In der Rechtsbehelfsstelle studierte ein Mitarbeiter die Tageszeitung. Ich hätte zu gerne gewußt, was er gerade las. Ein paar Zimmer weiter begann die Arbeitslosen-Erfassung. Als ich mich zu einem schon Wartenden auf die Bank unter dem Buchstaben H setzte, fragte er: "Hast du schon das Formular ausgefüllt?"

"Nein."

"Geh einfach rein, sie geben es dir."

Der Fragebogen kam mir komplizierter vor als eine Steuererklärung. Als ich mit Ausfüllen fertig war, hatte mein Schicksalsgenosse gerade sein Interview beendet und hielt mir die Tür zum Zimmer des Beamten auf. Der Mann hatte das typische verdrießliche Wintergesicht eines Hamburgers, der zu wenig an die frische Luft kommt. Er nahm mir den Fragebogen aus der Hand und vertiefte sich hinein, ohne meine Person richtig anzuschauen. Ich setzte mich unaufgefordert, wozu er mildtätig nickte. Er blätterte das Formular mehrere Male richtig durch. Dann warf er mir einen aufmerksamen Blick zu. Den ersten.

"Herr..." er las den Namen vom Fragebogen ab - "so lange ich hier sitze, ist mir noch nie ein Stellenangebot für einen Betriebspsychologen untergekommen. Was können Sie denn sonst noch machen?"

"Ich habe das studiert. Ich bin darauf spezialisiert."

"Wirtschaftsprüfer wird immer mal gefragt."

"Dafür braucht man einen speziellen staatlichen Abschluß, den ich nicht habe."

"Es wäre gut, wenn sie sich selber um was Neues bemühen. Sie waren ja nur ein paar Wochen beschäftigt. Was ist mit der Firma, für die sie nebentätig waren?"

"Das war nur ein Freundschaftsdienst. Die haben nichts für mich."

"Haben Sie Ihre Lohnsteuerkarten dabei? Für dieses Jahr und für letztes?"

"Ich glaube, die sollen mir zugeschickt werden."

"Wir benötigen sie für die Berechnung des Arbeitslosengeldes, das Ende des Monats ausgezahlt wird. Anspruch auf ein Zeugnis haben Sie auch."

"Was ist mit der Kündigung? Kann ich das Papier wiederhaben? Und eine Arbeitslosenbescheinigung benötige ich auch."

"Lassen Sie sich auf der Geschäftsstelle eine Kopie machen. Ich fertige inzwischen den Bescheid für Sie aus. Sind Sie rechtsschutzversichert?"

"Nein."

"Dann überlegen Sie sich jede Bewegung."

Als ich ins Freie trat, vermißte ich sofort das Schneckenhaus meines Bürozimmers. Ich hatte meine Existenzgrundlage eingebüßt. Ich sah mich im Geiste schon mit einer Bierflasche in der Hand unter anderen Arbeitslosen an einem Straßeneck-Kiosk herumlungern. Wenn ich wenigstens einen eigenen Computer hätte. Dann würde mir das Tagesdunkel im Einhorn weniger ausmachen.

Unter dem mit dunkelgrauen Wolken verhangenen Himmel erstreckte sich der Tag vor mir wie eine schmutzige Sandwüste, die ich in einem Auto mit Zweirad-Antrieb überqueren mußte, dessen Reifen kein Profil mehr hatten. Nach de Arbeit wollte Chantal mich im Kaiserhof treffen. Aber bis dahin waren es noch sechs Stunden ohne einen grünen Baum am Horizont. Zum Mittagessen fuhr ich wieder in den Hauptbahnhof, um im Restaurant Suppentopf eine Linsensuppe mit Essig zu mir zu nehmen. Mehr konnte ich mir als Arbeitsloser nicht leisten. Als ich in die Kaiserhof-Suite gehen wollte, hatte ich Blei an den Sohlen. Ismene bezahlte die Miete. Ich führte dort nur eine Schmarotzer-Existenz. Ich war nicht einmal ihr Lover. Nur ein Provisorium. Im Einhorn hatte ich wenigstens die Miete bezahlt. Also lenkte ich die Schritte dorthin.

"Die ersten Tage sind immer die schlimmsten," sagte der Wirt. Er bot mir ein Bier an. Wenigstens trank ich es nicht an der Straßenecke, sondern in der Gaststube, in der wir vor drei Wochen mit Alkestis Weihnachtslieder gesungen hatten. Der Baum war weggeräumt. Alkestis in ihrer Familiengruft versenkt. Ahoi kleines Mädchen, ahoi Kamerad. Und heute ging ich über Bord.

Ich tat etwas, was ich sonst fast nie tat. Ich hielt einen Nachmittagsschlaf. Aber es wurde kein erholsamer Schlaf. Riesige Wellenberge und -Täler rissen mich hinauf und hinunter. Meine Arme und Beine waren gelähmt, ich konnte nicht schwimmen, aber unverständlicherweise drang kein Wasser in Nase und Mund. "Follow us into quiet water," rief mir eine Stimme zu. Ich sah wieder Licht. Das Dämmerdunkel meiner Steinzeithöhle. Mein Kopf war dumpf, als hätte ich zehn Bier getrunken und nicht nur eins. Dabei hatte die Leber das eine längst abgebaut. Ich hatte über zwei Stunden geschlafen. Nie wieder Mittagsschlaf. Ich trank an der Bar des Kaiserhofs ein Kännchen Kaffee und ging dann auf die Suite.

Ismene kam gegen sieben. Sie erzählte aufgeregt:

"Bei uns war heute die Hölle los. Und ich fürchte, es ist meine Schuld. Wir haben ein Telegramm von der Yachtcrew in Tasmanien erhalten, daß Pappa nicht termingerecht aus Singapur zurückgekommen ist. Das habe ich völlig verschwitzt."

"Ich habe auch nicht daran gedacht."

"Du hattest die Aufregung durch Cis. Ich habe es für das Beste gehalten, mich mit Opa zu beraten. Er ist mit meinem Vorschlag einverstanden, das Regattasegeln aufzugeben. Es hatte sowieso nur den Zweck, Pappa fernzuhalten und den Namen Hansen in die Fachpresse zu bringen. Opa wußte auch, wen wir hinunter schicken, um das abzuwickeln. Die Entscheidung nehme ich auf meine Kappe."

"Was sagt Susanne?"

"Die mit ihrer Zahlenakrobatik meint, wir konnten uns das sowieso nicht leisten, und Opa hat es nur so lange durchgezogen, um uns Pappa vom Halse zu halten."

Erst jetzt war Ismene bereit, sich aus dem Mantel helfen zu lassen. Ich rieb ihre Schultern:

"Du hast ein schwieriges Problem blendend gelöst."

"Ich darf mir nicht solche Fehler erlauben." Sie ließ sich aufs Sofa fallen.

"In Singapur warst du noch nicht in der Verantwortung für den Betrieb."

"Falsch. Ich hatte die Pflichten eines Miteigentümers."

"Was du heute erreicht hast, ist ein großer Erfolg."

"Wenn du das noch ein paar Mal sagst, glaube ich es direkt."

Sie hatte keine Lust ins Restaurant zu gehen. Wir ließen uns eine Kleinigkeit vom Roomservice hochbringen.

"Wie war dein Tag?" fragte sie kauend.

Ich konnte mich nicht entschließen, ihr die volle Wahrheit zu erzählen. Ich informierte sie nur in groben Zügen. Es war gut, daß sie das Entlassungsschreiben nicht sehen wollte. Ich scheute mich, sie damit zu belasten, daß der offizielle Kündigungsgrund meine Mitarbeit für Hansa Marine war.

Später kam Chantal vorbei. Als ich einen Augenblick mit ihr allein war, weil Ismene vom Schlafzimmer aus ein geschäftliches Telefongespräch führte, wollte Chantal mein Entlassungsschreiben sehen.

Sie steckte es gleich in ihre Handtasche. "Ich seh' mir das morgen in Ruhe im Büro an. Da habe ich Gesetzestexte und Kommentare zur Hand." Dann kam sie auf das ihr Wichtigste. "Du, ich  finde das so aufregend mit Ismene. Wir verstehen uns, als wären wir zusammen in den Kindergarten gegangen. Das einzige, was mich stört, ist daß sie so viel Geld im Hintergrund hat. Von der Miete will sie eine größere Teilmenge bezahlen als ich. Das stinkt mir. Ich will aber mit ihr zusammen ziehen."

"Du mußt es so sehen: Sie braucht jemanden wie dich. Sie hat ihre Schwester verloren. Sie hat keinerlei Berufserfahrung und kann von dir eine Menge lernen, wenn du dir das aufladen willst."

"Natürlich will ich das."

Als wir sie zum Schluß nach unten begleiten, weigerte Chantal sich, ein Taxi zu nehmen. Sie bestand darauf, mit der U-Bahn zu fahren, deren Eingang gleich gegenüber lag. Sie fing schon an, für den neuen Haushalt zu sparen.

 

27. KAPITEL.

Ein paar Tage später ging ich ins Einhorn, um nach Post zu schauen. Der Pensionswirt übergab mir einen Eilbrief.

"Ist das nicht Ihr Arbeitgeber?"

Ich verstand seine anteilnehmende Neugier und las ihm den Inhalt vor:

"Änderungskündigung. Sehr geehrter Herr Hellmann, hiermit ziehen wir unsere fristlose Kündigung vom 11.Januar zurück und ersetzen sie durch eine termingerechte Kündigung per 30. Juni. Ihr Gehalt läuft bis zu diesem Termin weiter, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß sie nicht für einen anderen Arbeitgeber tätig werden.  Leider können wir Ihnen wegen Unverträglichkeit mit Kollegen nicht gestatten, unsere Diensträume wieder zu betreten. Die mit der fristlosen Kündigung ausgesprochene Zugangssperre bleibt bestehen. Bitte seien Sie so freundlich, uns den Eingang dieses Schreibens zu bestätigen, damit alles seine Ordnung hat. Hochachtungsvoll."

"Warum nicht gleich?" brummte der Wirt.

Ich fragte mich, ob Lörke das veranlaßt hatte, weil ihr meine Beziehung zu anderen Opern-Besuchern bewußt war und sie mehr darin sah als ich selbst? Oder hatte Chantal ihre Finger im Spiel?

Das Wandtelefon in der Wirtsstube läutete. Der Alte nahm den Hörer auf und sagte: "Das weiß ich nicht." Er deckte die Sprechmuschel mit seiner Hand ab. "Eine Frau für Sie. Ich glaube sie war zu Weihnachten hier."

Das konnte nur Susanne sein. Die andere gab es nicht mehr. Ich nahm ihm den Hörer aus der Hand.

"Markus hier."

"Hallstein. Du mußt sofort in die Firma kommen."

"Ich war noch nie da."

"Nimm ein Taxi, die kennen den Weg."

"Ist etwas passiert?

"Ich darf am Telefon nichts sagen. Bitte beeil dich. Rechtsanwalt Menzelius kommt auch."

Auf der Straße wechselte aufgetauter Schnee mit angefrorenem ab. Diesen Teil der Elbchaussee hatte ich noch nie gesehen.

In Ismenes altmodischem Direktionsbüro begrüßte ich Menzelius, Susanne und die junge Chefin. Der Opa war nicht da.

"Geht es um die Erbschaft?" fragte ich.

"Kein Wort," erwiderte Menzelius. "Frau Hansen sagt, Sie haben in Singapur eine Anzeige aufgegeben, auf die das hier die Antwort ist."

Er überreichte mir ein schmieriges Fax auf dem man einen bärtigen Knut sah, an den Stamm einer Kokospalme gefesselt. Vor die Brust hielt er eine malayische Zeitung. In ungelenken Großbuchstaben war darunter gekritzelt:

"One Million Dollar, he free. Meet you Sunday in Goodwood. Room 238."

"Frau Hansen sagt," erklärte Menzelius, "Goodwood ist der Name des Hotels, in dem sie gewohnt hat. Frau Hansen würde alles für ihren Vater tun, aber ich glaube, es ist besser wenn Sie die Sache in die Hand nehmen, Herr Hellmann."

"Nach Singapur fliegen? Geld überbringen? Und wenn das ein Ulk ist, eine Falle? Wenn der Zoll was merkt?"

"Eins nach dem anderen. Sie fliegen spätestens morgen, damit wir einen Vorsprung haben."

"Soll ich eine Reservierung buchen?" fragte das Püppchen.

"Bevor er nein sagt," bestätigte Menzelius.  Ismene nickte, Susanne ging hinaus.

"Das Lösegeld," fuhr Menzelius fort, "steht Ihnen auf einem Konto der Deutschen Bank in Singapur zur Verfügung. Ich regele, daß Sie Tag und Nacht Zugriff haben."

"Sie nehmen das also ernst?" fragte ich naiv.

"Todernst. Die Zeitung, die der Vater hält, stammt von Anfang Januar, mehrere Tage nach seinem Verschwinden."

"Ist Opa mit der Zahlung einverstanden?"

"Frau Hansen hat Generalvollmacht," klärte mich Menzelius auf, "auch wenn das Erbschafts-Urteil erst im März rechtskräftig wird."

"Kommen Sie mit nach Singapur," schlug ich ihm spontan vor. "In Ihrer Begleitung wird mir wohler sein."

"Das könnte die Erpresser verscheuchen. Sie haben wahrscheinlich einen Kontaktmann im Hotel, der alles beobachtet."

Das war denkbar. Room 238 war das Zimmer, in dem Alkestis gewohnt hatte. Woher konnten die Erpresser das wissen?

"Was ist, wenn sie das Geld einstecken, ohne Knut frei zu geben und noch mehr verlangen?"

"Das Risiko gehen wir ein," erklärte Ismene. "Ich weiß nur nicht, ob es Zweck hat weitere Zahlungen zu leisten, wenn die erste nicht den versprochenen Erfolg hat."

"Es ist mir peinlich," stotterte ich. "Aber mein Konto ist abgebrannt. Singapur hat eine Menge verschlungen."

"Warum sagst du nichts?" fuhr Ismene mich an. "Wir sind jeden Tag zusammen."

"Die Reise war meine Idee. Nicht gerade ein Erfolg."

"Das war nicht deine Schuld.

"Für die Übergabe des Lösegelds," bemerkte Menzelius, "bekommen Sie eine Vermittlungsgebühr. Und für die Reisespesen wird Frau Hansen Ihnen einen Barvorschuß aushändigen."

 

28. KAPITEL

Als ich in Singapur durch die Paßkontrolle ging, erinnerte ich mich, daß es rechts in der Ankunftshalle des Flughafens ein großes Blumengeschäft gab. Ich fand es gleich wieder. Eine gewissenhafte Verkäuferin stellte mir einen Strauß mit schön geöffneten roten und weißen Rosen zusammen. Rote als Farbe der Liebe, und weiße, weil ich gelesen hatte, daß weiß bei den Chinesen die Farbe der Trauer ist.

Ich bat das Taxi, das mich zum Sentosa-Strand brachte, auf mich zu warten, und zog mir schon im Wagen die Schuhe und die lange Hose aus.

 Als der Badewächter mich kommen sah, den Arm voller Blumen, kletterte er von seinem Hochsitz herunter. Es war ein anderer Mann, den ich nicht kannte, jung und wohlgenährt, wie es gute Schwimmer oft sind.

"Hi!" sagte er. "You know your way?"

Ich wies auf den Gedenk-Felsen.

"Sorry for you." Er wandte sich wieder seiner Aufsichts-Pflicht zu. In der Grotte fand ich keine Überreste meiner alten Rosen mehr, nur eine Wasserpfütze. Das Meer mußte sich die Blumen mit einer besonders hohen Welle geholt haben. Ich ordnete die Blüten so an, daß sie mit den Köpfen zur Brandung blickten.

Dann fuhren wir zum Goodwood Park Hotel. An der Rezeption stellte sich heraus, daß das für mich aus Hamburg bestellte Zimmer 238 erst am Samstag frei wurde. Ich bekam vorerst ein kleines Einzelzimmer, das wie mein altes aussah, nur spiegelverkehrt. Der Balkon hatte die gleiche Größe und konnte ohne indischen Seiltrick weder von unten noch von nebenan erreicht werden.

Als Lin gegangen war, begab ich mich in das Business Center, wo meine alte Vertraute mich sofort wieder erkannte. Da man mir die Telefonnummer der Deutschen Bank nicht mitgegeben hatte, bat ich sie, mich mit dem Direktor zu verbinden. Das ergab einige Rückfragen auf Chinesisch, bevor sie mich verbinden konnte.

"Ja," sagte eine ausdruckslose Stimme.

"Hellmann. Ich bin gerade in Singapur eingetroffen als Vertreter der Firma Hansa Marine beziehungsweise deren Eigentümerfamilie Hansen. Hat Rechtanwalt Menzelius Sie über den Zweck meines Besuches informiert?"

"Willkommen in der Löwenstadt. Ja, ich weiß Bescheid. Ich soll Ihnen alles in bar aushändigen."

"Wann darf ich mir das Bestellte abholen?"

"Es wäre nicht klug, wenn Sie das ganz allein durch die Stadt tragen. Wir müssen uns da etwas ausdenken."

"Haben Sie einen Vorschlag?"

"Wir arbeiten daran."

"Können wir zwei uns sehen?" fragte ich. "Vielleicht zum Essen?"

"Sorry. Wir haben einen internationalen Bankenkongreß. Ich habe keinen Slot frei. Wenn Sie wieder anrufen, verlangen Sie mich und sprechen bitte mit keinem meiner Mitarbeiter."

Die Luft der Hochfinanz war frostig. War ich total unwichtig? Ein Bote ohne persönliches Gesicht? Draußen begannen die Zikaden schrill zu zirpen, als hätten Sie Angst vor dem Sonnenuntergang. Dieses aufdringliche Geräusch war mir schon letztes Mal aufgefallen. Mitten in der Millionenstadt. Also wurde hier nicht alles mit Insektiziden totgesprüht.

Auf meinem Zimmer erstellte ich eine Soll-Liste von Telefongesprächen. Mußte ich Menzelius über das Gespräch mit dem Bankier informieren? Der Deutsche Konsul hatte die Idee mit der Anzeige gehabt. Sollte ich ihn um Rat angehen? Ohne mich entscheiden zu können, wählte ich Hamburg. Das Püppchen nahm ab. Ismene war in der Produktion. Ich erstattete kurz Bericht und richtete Grüße aus.

Als ich auflegte begriff ich, daß ich keinen Schritt weiter gekommen war. Ich mußte allein entscheiden, aber dazu fehlte mir das Selbstvertrauen eines Humphrey Bogart aus dem "Malteser Falken".

Der Konsul, so stellte sich heraus, hatte das Fax als erster empfangen und sofort nach Hamburg weiter geleitet. Er empfahl dringend, Kommissar Lin einzuweihen. Es wäre nicht ratsam, in dieser Stadt eine solche Aktion hinter dem Rücken der Polizei durchzuführen.

Ich besaß noch die Visitenkarte mit der Durchwahl von Lin, aber er war nicht in seinem Büro. Ich hinterließ eine unverbindliche Nachricht.

Zum Abendessen bestellte ich im Schanghai Restaurant eine halbe Ente. Sie war genauso gut zubereitet wie letztes Mal, aber ich kaute lustlos darauf herum. Vom Nachbartisch hörte ich das fröhliche Lachen von Alkestis und Knut. Ich richtete mich auf und blickte erschrocken hin. Eine Runde Chinesen saß dort, aber ihre Sprachmelodie klang genau so fröhlich aufgeregt, wie die der Vermißten. Die Stimme von Alkestis würde ich niemals wiederhören. Die ihres Vaters - wenn alles gut ging - am Sonntag abend.

Kurz vor Mitternacht kam Kommissar Lin. Ich bot ihm den Whisky aus dem Bordverkauf der Singapore Airlines an, aber er wollte lieber ein Cola aus der Minibar. Er studierte das Fax aufmerksam.

"Haben Sie daran gedacht," fragte er, "daß die Entführung vorgetäuscht sein könnte? Als Besitzer einer Segelyacht kennt er sich in diesen Gewässern aus. Eine Million ist eine Menge Geld."

"Sie haben ihn nicht kennen gelernt. Er ist ein geselliger Typ, der Publikum braucht. Er war das Herumvagabundieren auf den Sieben Meeren leid. Als Geschäftsführer in Hamburg hätte er mit den Jahren Millionen verdient. Sich in einer Hängematte unter Kokospalmen verstecken, paßt nicht zu ihm."

"Unsere Regierung ist entschlossen, in Entführungsfällen grundsätzlich kein Lösegeld zu bezahlen. Das müßte sich in der Region herumgesprochen haben. Deshalb wundert mich diese Dreistigkeit." Er wedelte mit dem Fax.

Ich mußte ein total entgeistertes Gesicht gemacht haben, denn er fügte schnell hinzu: "In Ihrem Fall würden wir eine Ausnahme machen. Allein schon, weil es uns auf die Spur der Verbrecher führt. Falls es welche gibt. Andernfalls sieht es schlecht aus für Herrn Hansen."

Ich erzählte ihm von der Hypothese unseres Rechtsanwaltes, daß die Erpresser einen Kontaktmann im Hotel-Personal haben müßten.

"Unwahrscheinlich, nein, unmöglich. Falls es abläuft, wie geplant, wird ein Verbindungsmann am Samstag angereist kommen, hier ein Zimmer beziehen und sich von Ihnen das Geld aushändigen lassen. Er kennt Ihre Zimmernummer, und wir wissen nichts von ihm."

"Soll ich den Betrag hier im Zimmer parat halten? Und wie komme ich an das Geld?" Ich erzählte ihm von den Bedenken der Deutschen Bank.

"Das wäre Leichtsinn. Wenn es Ihnen Recht ist, werden wir die Summe bei der Bank abholen und hier in einem Schließfach deponieren, zu dem Sie den Schlüssel erhalten."

Am Samstag zog ich um in das alte Zimmer von Alkestis. War es nötig, war es richtig gewesen, daß ich sie die ersten beiden Nächte in diesem Raum allein gelassen hatte? Inzwischen hatten andere Reisende dieses Zimmer bewohnt. Ich konnte keinen Nachhall, keinen Nachklang ihres Aufenthaltes hier wahrnehmen.

Am Samstag nachmittag brachte Kommissar Lin mir den Schlüssel zum Safe und installierte ein Mikrofon in meinem Telefonapparat, das ununterbrochen alle Geräusche aus diesem Zimmer nach draußen übertrug, auch wenn der Hörer aufgelegt war.

Das Frühstück am Sonntag nahm ich im Zimmer ein. Ich war noch beim Essen, als an die Tür geklopft wurde. Ein Page in Hoteluniform überreichte mir auf einem Silbertablett ein Mobil-Telefon.

"Von wem haben Sie diesen Apparat?"

"Es wurde an der Rezeption für Sie abgegeben. Ich habe den Überbringer nicht gesehen."

Das hatte Kommissar Lin nicht vorausgesehen. Gut, daß wir Mikrofon-Kontakt hatten.

Wenig später läutete der kleine Apparat.

"Haben Sie das Geld? Ja? Sie nehmen ein Taxi zum Changi-Pier und mieten ein Motorboot mit Steuermann. Sie halten Kurs Ostsüdost, bis sie die Küste kaum noch sehen können. Dort findet der Austausch statt. Wiederholen Sie."

"Taxi zum Changi-Pier. Motorboot mieten, Kurs Ostsüdost. Auf die hohe See hinaus?" Ich erhielt keine Antwort. Der Anrufer hatte schon aufgelegt.

Das Telefon auf dem Nachttisch schellte.

"Bringen Sie das Handy ins Badezimmer, betätigen Sie die Spülung und schließen Sie die Tür." Das war Kommissar Lin.

"Haben Sie alles verstanden? Soll ich zum Changi-Pier fahren. Wo ist das?"

"Wir müssen damit rechnen, daß Sie beobachtet werden. Ich fahre voraus zum Pier. Dort mieten Sie das Boot, in dem ich auf Sie warte. Jeder Taxifahrer kennt das Ziel."

"Mit all dem Geld? Was, wenn sie das Taxi überfallen?"

"Das trauen Sie sich nicht, mitten in Singapur. Meine Leute haben Sie im Auge."

Ich ließ mir die blaue Reisetasche aus dem Safe herausgeben. Kaum fühlte ich ihr Gewicht in der Hand, sprangen mich die Ängste an. Der Portier winkte mir ein Taxi herbei und hielt den Schlag auf. Ich stellte die Reisetasche auf den Boden. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Ich erwartete jeden Augenblick von Gangstern gerammt zu werden, aber ich sah nichts Auffälliges. Nicht einmal den Polizeiwagen, der mich beschützen sollte.

Changi Pier war ein abgezäunter Fährhafen für Schiffe nach Indonesien. Ich erklärte dem Taxifahrer, daß ich ein nicht ausreisen, sondern ein Boot mieten wollte. Er mußte aussteigen und nachfragen. Ich umklammerte die Griffe der Reisetasche mit beiden Händen. Dann fuhren wir zu einer bescheidenen Marina für Yachten und Motorboote.

Ich schreckte zurück, als mich ein verschmutzter Seemann ansprach. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich Kommissar Lin.

"Ich bin Ihr Bootsführer." Es war eine Erlösung, daß er mir die Tasche abnahm, obwohl ich immer noch für ihren Inhalt verantwortlich war. Das Boot, das er für uns ausgesucht hatte war kein Rennschlitten, sondern ein offener Kahn mit nur einem Motor.

"Schnell sieht das nicht aus," bemerkte ich beim Hineinklettern."

"Wir müssen den Erpressern das Gefühl der Sicherheit geben, daß wir sie nicht verfolgen können. Sonst..."

Er ließ den Motor an.

"Müssen wir durch die Brandung?"

"Hier gibt es keine," beruhigte er mich.

Himmel und Meer verschwammen im Dunst. Die Sichtweite war sehr gering. Das Boot schwankte in einer leichten Dünung und tuckerte vor sich hin.

"Ostdüdost," wiederholte ich den Kurs.

"Sie werden Radar haben."

"Sind wir bewaffnet?" fragte ich.

Lin deutete auf eine zusammengefaltete Segelplane. "Das Leben der Geisel hat absoluten Vorrang. Und unseres."

Die Zeit verging lähmend langsam. Mein Puls raste. Der Fahrtwind kühlte mir den Schweiß vom Gesicht. Gut eine dreiviertel Stunde waren wir schon unterwegs.

Das grelle Röhren eines Motors kam auf uns zu. Ein langes Rennboot, das nur wenig über die Wasseroberfläche hinaus ragte. Lin stellte unseren Motor ab. Ein braungebrannter Malaie richtete eine Maschinenpistole mit gekrümmtem Magazin auf uns. Ein anderer zog uns mit einem Bootshaken an ihr Boot heran. Lin hielte den Kopf gesenkt als interessierte ihn das alles nicht.

"Money!" rief der Mann mit dem Enterhaken.

Ich hielt die blaue Tasche hoch. Vom Boden des Rennbootes kam eine Gestalt hoch, Knut in einer roten Kork-Schwimmweste, die Hände auf den Rücken gefesselt. Der Malaie hielt ihn am Ellbogen fest.

"Wie geht es Aphrodite? Wo ist mein Kind?" waren seine ersten Worte.

"In Hamburg," erwiderte ich ziemlich wahrheitsgetreu. Für Einzelheiten war später Zeit.

"Money!" rief der Pirat.

Ich reichte ihm die Tasche hinüber. Sein Komplize öffnete sie, wühlte darin herum und betrachtete einzelne Scheine unter einer Lupe. Ich hatte den Inhalt nie gesehen, aber der Malaie war zufrieden. Er setzte sich und ließ seinen Motor im Leerlauf aufjammern. Knut balancierte von ihrer Bootswand zu uns hinüber.

"You are free!" rief der Anführer. Er ließ Knuts Ellbogen los, packte seinen Hemdskragen von hinten und schob etwas hinein. Knut stürzte auf den Boden unseres Bootes. Das Rennboot schoß davon. Lin war bei Knut und löste seine Fesseln. Knut richtete sich auf und zerrte an seinem Hemd.

"Das ist eine Handgranate!" schrie er mit verzerrtem Gesicht. Falls es eine war, saß sie unter der Schwimmweste fest. Ich beugte mich vor, um die Gürtel der Schwimmweste zu lösen. Es waren Doppelschnallen zum Durchschieben des Gurtes.

"Steh auf!" befahl Kurt. Mir war nicht klar, was er wollte. Wir hatten keine Sekunde zu verlieren.

"Idiot!" brüllte Knut. "Sag Alkestis..." Er versetzte mir einen Stoß, der mich rückwärts aus dem Boot stürzte.

 Ich sank unaufhaltsam in die Tiefe und wurde unter Wasser von einer Erschütterung geschüttelt, als stupste mich ein Haifisch mit seiner Nase an. Es gelang mir, mich umzudrehen, und ich sah dort, wo der Himmel sein mußte, einen Schein, hell wie ein Blitz. Als ich auftauchte regnete es Brände und Trümmer vom Himmel. Ich ließ mich schnell unter die Oberfläche sinken, in der Hoffnung, nicht getroffen zu werden, und schwamm ein Stück weg von der Explosionsstelle. Die Luft ging mir aus, und es dauerte ewig, bis ich mich wieder an die Luft gezappelt hatte. Ich begriff, daß Knut mir das Leben gerettet. Und er? Geplant war es umgekehrt.

Ein Stück entfernt von mir schwamm ein Kopf auf den Wellen. Ich war zu Tode erschrocken, bis neben dem Kopf eine Hand aus dem Wasser kam und mir zuwinkte. Es war Kommissar Lin. Er hatte überlebt. Aber Knut - undenkbar. Wir schwammen auf einander zu. Lin hatte Blut im Gesicht. Haifische wittern Blut auf große Entfernungen, aber in diesem Fall wohl weniger seins.

Lin wies mit einer Kopfbewegung zum Himmel, wo ein Helikopter nahte und so tief runter kam, daß uns das aufgewühlte Wasser ins Gesicht schlug. Die Besatzung ließ eine Winde mit einem Notsitz herunter. Der Kommissar nötigte mich, als erster aufzusteigen. Das ging ganz schnell, und dann wurde er hochgezogen. Er ließ sich vom Piloten ein Mikrophon geben und brüllte Unverständliches. Dann lächelte er mich an: "Sie entkommen uns nicht."

"Was können Sie jetzt noch tun?" fragte ich.

"Warten Sie ab."

Der Hubschrauber verharrte auf der Stelle, ohne die Verfolgung der Mörder aufzunehmen. Ich blickte auf das blaugrüne Meer und den entschwindenden Umriß des Piraten-Speedboats. In der Nähe sah ich einen Öltanker und die trägen Segel von Fischerbooten. Dann verwandelte sich das fliehende Boot in eine Stichflamme und schwarzer Rauch breitete sich aus.

"Da verbrennt die Million!" rief ich.

"Keine Sorge um das Geld. Die Money Authority of Singapore hat der Deutschen Bank gefälschte Banknoten gegeben, aus nordkoreanischer Produktion, die dort auf original amerikanischen Druckplatten erzeugt werden. Nur die Zentralbank kann sie von echten Dollars unterscheiden. Die mußten sowieso vernichtet werden."

"Wie fassen Sie jetzt die Hintermänner?"

"Vorerst nicht. Sie sind mit den Behörden ihres Landes verzahnt, sonst könnten sie nicht so ungeniert operierend. Der Verlust ihres Bootes wird ihnen eine Lehre sein."

Über die Rettung des Geldes empfand ich keine Freude. Ich hatte den Auftrag verpfuscht, Knut lebend herauszuholen. Wie sollte ich mich ohne ihn zurück nach Hamburg trauen?

 Drei Todesfälle zu viel waren es in wenigen Wochen gewesen. Ohne den Selbstmord Graf Kolmars wäre Ismene nicht nach Singapur geflogen. Ohne den Sturz vom Promenadendeck der MS Merlion wäre die Krankheit von Alkestis erst später entdeckt worden und wir hätten noch viele gemeinsame Wochen oder Monate gehabt. Und wenn Knut seiner Tochter nicht ins Meer nachgesprungen wäre, könnte er jetzt Werksdirektor in Hamburg sein. Drei Lebenspläne zerstört. Unnötig, sinnlos, chaotisch. Was blieb?

Ich war zerschunden. Hamburg kam nicht mehr in Frage. Ismene hatte jetzt Chantal und Susanne. Und der alte Hansen hielt seine Hand über sie, wie der Zwischenfall mit der Jachtcrew gezeigt hatte. Meine Alkestis war nicht in Hamburg, sie war hier, in der Brandung von Sentosa. Ich konnte am Ufer sitzen und ihr nahe sein. Mein Gehalt lief noch monatelang weiter. Ich war frei.

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